Wir wollen alles und zwar subito. Teil VII: Wir sind die Königskinder
Grazia Pergoletti. Geb. 1964 in Basel. Schauspielerin. Co-Leiterin des Theater Club 111 in der Reithalle Bern.
Meine Mutter war halb Deutsche, halb Schweizerin. Ihre Mutter zog aus dem Badischen nach Basel, kurz nachdem Hitler an die Macht gekommen war. Ihre Familie war sich einig, dass dies eine Katastrophe war. Mein Vater stammte aus Assisi bei Perugia. Er kam Ende der fünfziger Jahre nach Basel, von Beruf war er Teigwarenmacher. In Basel arbeitete er in einer Beiz als Koch und lernte dort meine Mutter kennen, die am Buffet beschäftigt war. Zusammen mit meinem Bruder und meiner Grossmutter wohnten wir zu fünft in einer Dreizimmer-Blockwohnung. Ich schlief im Zimmer meiner Eltern.
Welche Werte haben sie dir vermittelt?
Meine Mutter verschenkte viel und brachte damit meinen Vater fast zur Verzweiflung. Sie vertraute mir in allem. Das war manchmal auch anstrengend, weil ich früh entscheiden musste, was für mich richtig war. Meine Mutter führte einen Kiosk, den schon meine Grossmutter betrieben hatte. Sie war sehr beliebt im Quartier.
Mein Vater war ein überzeugter Kommunist. Deshalb wurde er in Assisi bei einem offiziellen Besuch von Mussolini aus Angst vor einem Attentat präventiv in Haft genommen. Während des Zweiten Weltkriegs war er im Widerstand. In den fünfziger Jahren liess er sich wie so viele aus Assisi, die keinen Job hatten, anwerben, um im Ausland zu arbeiten. In Basel wurden sie mit einer Blaskapelle empfangen, so froh war man damals um die Gastarbeiter. Mein Vater war verschlossen und verbittert. Einmal während den 80er Unruhen, als die Demos in Gang waren, sagte er zu mir: «Es ist schon gut und recht, was die Jungen da machen. Aber wenn man wirklich etwas verändern will, dann muss man mindestens die Hälfte der Leute umlegen, und das kannst du nicht machen. Das geht nicht. Deshalb vergiss es einfach! Es wird immer so bleiben, dass die, die haben, nichts abgeben. Und wir sind die Idioten. Das ist einfach so.» Von seinem Jahrgang hatte er den besten Schulabschluss gemacht. Aber es war klar, dass er arbeiten musste. Er konnte nicht an eine Universität gehen.
Wer stand dir sonst noch nahe?
Da war mein zehn Jahre älterer Bruder mit langen Haaren und einem abgewetzten Militärmantel. Er spielte in einer Band. Einmal stellte er ein Schlagzeug in sein Zimmer und begann zu üben, bis unsere Nachbarn fast durchdrehten. Er nahm mich überall hin mit, auch zu den Proben. Später hatte ich einen guten Lehrer. Er trug sein Hemd über den Hosen und war ebenfalls ein Langhaariger. Wir arbeiteten in Gruppen. Er schaffte es, zu einem Idol für uns alle zu werden. Auch für die, die nachher auf eine Bank arbeiten gingen. Er hatte keine Angst, weder vor uns noch vor den anderen Lehrern, und trotzdem war er weich und offen.
Was wolltest du werden?
Schon früh träumte ich vom Theater. Meine Grossmutter sagte immer zu mir: «Heirate ja nicht! Ich wäre gescheiter zum Theater gegangen als zu heiraten.» Mit Leib und Seele hatte sie in ihrer Jugend Laientheater gespielt. Am Fernsehen schauten wir uns sämtliche Operetten an. Lange wusste ich nicht, dass ich an eine Schauspielschule gehen könnte. Ich dachte, dass man zur Schauspielerin geboren sein müsse. Ich machte in Basel den Vorkurs an der Kunstgewerbeschule und wollte mich in Richtung Bühnenbild entwickeln. Bald sah ich ein, dass ich handwerklich leider vollkommen unbegabt bin. Nach dem Abschluss wusste ich nicht, was machen. Ich stempelte, jobbte, wurde dann ins Basler Jugendtheater aufgenommen und machte bei zwei Produktionen mit. Erst jetzt begann ich zu realisieren, dass ich eine Schauspielschule machen könnte. Wenn du aus der Arbeiterschicht kommst, fehlt dir eine gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang mit deinen Möglichkeiten.
Wie bist du mit der Bewegung in Basel in Berührung gekommen?
Ich stiess genau an dem Tag zur Bewegung, als das AJZ an der Hochstrasse besetzt wurde. Da war ich siebzehn. Ein Freund drückte mir ein Flugblatt in die Hand. Zusammen mit meiner Freundin machte ich bei der Besetzung mit und hing dann pausenlos im AJZ herum.
Eines Tages fanden meine Freundin und ich: Jetzt muss einfach einmal aufgeräumt werden. Wir tauchten mit den Kesseln und Besen unserer Mütter im AJZ auf. Da schnauzte mich ein Junkie an: «He du, wir sind da nicht im Hilton!» Wir dachten: Der hat uns nichts zu sagen, wir machen, was wir wollen – das hatten wir schliesslich eben erst gelernt. So putzten wir einen Sonntag lang den ganzen Hof. Eine zeitlang arbeiteten wir im Teestübli. Die anderen im Team waren allesamt Junkies. Wir, die beiden Schülerinnen, verkauften schön brav Kuchen. Im AJZ war alles möglich.
Unvergesslich ist für mich die 1.-Mai-Demo. Vor dem Rathaus hiess es, dass jemand von der Bewegung reden dürfe. Aber dann wurde das Mikrophon abgestellt. Da zündeten Leute aus der Bewegung das Rednerpult an. Danach gab es eine Demo durch die Freiestrasse. Vor einem Porzellanwaren-Geschäft standen grosse Blumentöpfe als Dekoration. Ich sehe jetzt noch vor mir, wie zwei Jungs auf einen der Töpfe zugingen, ihn aus der Halterung lösten und mit aller Wucht in das riesige Schaufenster des Porzellanwaren-Geschäfts warfen. Aus sinnloser Freude lachten wir hysterisch. Ich identifizierte mich voll mit dieser Aktion, obwohl ich selbst nie den Mut zu sowas gehabt hätte.
Wie ging es für dich weiter?
Kurz darauf zog ich von zu Hause aus. Es war die Zeit der vielen Besetzungen in Basel. Ich wohnte zwei Jahre an der Klingelbergstrasse. Das war damals die längste Besetzung in der Schweiz. Die Leute waren älter als ich und gut organisiert.
Wie haben deine Eltern auf deinen Auszug von zu Hause reagiert?
Mein Vater hatte Angst, ausgewiesen zu werden, wenn ich verhaftet worden wäre. Meine Mutter hatte die Grösse, mich ziehen zu lassen und gab mir nicht zu spüren, wie sehr es sie schmerzte. Sie kam mich auch im besetzten Haus besuchen und brachte stangenweise Zigaretten für uns alle mit.
Später zog ich nach Bern, um an der Theaterwerkstatt 1230 eine Ausbildung zu machen. Es hatte dort auch Leute mit einer ähnlichen Vergangenheit wie ich, die ähnliches wollten: Ein anderes, politisches Theater. Nach der Schauspielschule macht ich in zwei, drei freien Produktionen mit – ohne Gage. Um über die Runden zu kommen, arbeitete ich in der Brasserie Lorraine. In dieser Alternativbeiz verdienten viele aus der Berner Kulturszene ihr Geld mit Bier herumschleppen. Es hatte dort auch ein paar Leute, die das Arbeiten im Kollektiv und in politischen Gruppen sehr ernst nahmen und nicht so ichbezogen waren, wie wir Theaterleute es sind. Das hat mich weiter politisiert.
Was war für dich der politische Höhepunkt im Bern der achtziger Jahre?
Natürlich die Eroberung der Reithalle 1987. In der entscheidenden Woche, während dem sogenannten Berner Kulturstreik, gab es jeden Tag eine Demo mit 3000 Leuten. Das war sensationell. Auch renommierte Restaurationsbetriebe wie das Lorenzini streikten. Mit vereinten Kräften konnte schliesslich die Forderung nach einem alternativen Kulturzentrum in der Reithalle durchgesetzt werden. Das war ein überwältigendes Erlebnis.
Wie begann eure Theaterarbeit in der Reithalle?
Das erste Stück entstand 1989 und war ein Monolog, ein Beziehungsdrama. Ich schrieb den Text und gab ihn Meret Matter und Rut Schwegler zu lesen. Wir beschlossen, etwas daraus zu machen. Da gab es diesen leeren, schönen Raum in der Reithalle. Dort begannen wir zu proben. Dann waren plötzlich Kinostühle da, jemand machte ein Bühnenbild usw. So entstand das erste Stück – vollkommen unambitiös. Das zweite war ein Landstreicherinnen-Stück. Wir Frauen wollten etwas wie ‘Warten auf Godot’ spielen. Meret inszenierte es. Sie fand mit ihrer Arbeit von Anfang an Beachtung, weil sie Stil und Witz hat und ausgesprochen musikalisch ist. Im dritten Stück ‘Innenarbeiterinnen’ ging es um eine Feministin, die zwei Hausfrauen zu «feminisieren» versuchte. Eine ziemlich schräge Geschichte. Die Hausfrauen emanzipierten sich tatsächlich, aber nicht so wie es sich die Feminstin vorstellte. Es ging also um Frauen wie uns, die meinen zu wissen, was Befreiung heisst und keine Ahnung haben, wie der Alltag von sogenannten «Betroffenen» wirklich aussieht.
Nach zwei Jahren wagten wir uns an eine Science-Fiction-Serie. Für dieses Projekt gab uns die Stadt keinen Franken, aber wir machten es trotzdem. Aus Geldmangel griffen wir in «Spaceboard Galuga» zu den billigsten Tricks. Gebeamt wurde mit Stroboskop und Nebel. Die Serie wurde ein Knüller. Das Fernsehen kam, und wir wurden ans Theaterhaus Gessnerallee in Zürich eingeladen. Seit diesem Erfolg von 1991 werden wir als Theater Club 111 von der Stadt Bern anständig unterstützt. Daneben müssen wir schauen, wie wir die Löcher füllen. Ich spiele in anderen Produktionen mit und lege als DJ auf.
Immer, wenn ich in Bern mit dem Zug einfahre, sehe ich den Spruch an der Reithalle: «Wir sind die Königskinder.» Wir haben in dieser Reithalle tatsächlich soviel Raum, um das zu machen, was uns gut dünkt. Das ist richtig so, denn gerade auch in kultureller Hinsicht ist so etwas wie die Reithalle unentbehrlich für das verschlafene Bern. Aber klar, es ist auch eine privilegierte Situation.
Wie war die Zusammenarbeit mit den Politicos von der Reithalle?
Mir wurde immer wieder vorgeworfen, ich sei zu wenig politisch und biete zu wenig Kontinuität. Wenn ich mich dann zusammenriss, und brav an jeder Sitzung erschien, ärgerte ich die Leute wohl öfters mit meiner Albernheit. Aber ich finde, es sollte ein Menschenrecht sein, ab und zu jegliche Verantwortung rigoros abzulehnen.
Innerhalb der IKUR (Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule) gab es Auseinandersetzungen, weil das Theater Club 111 Löhne zahlt. Wir waren immer der Meinung, dass Arbeit bezahlt werden soll. Wenn man das nicht macht, schliesst man von vorneherein Leute aus, die auf ein Einkommen angewiesen sind. Alle bringen verschiedene existenzielle Voraussetzungen mit – auch unter uns Benützerinnen und Benützern der Reithalle.
Welchen Einfluss hatte deine Generation auf das Lebensgefühl in Bern?
Die damaligen Unruhen und Veränderungen waren eine fröhliche Angelegenheit, eine hemmungslose Freude am Unkalkulierbaren und eine verschwenderische Art, mit dem Leben umzugehen. Das wird oft zu wenig betont. In Bern war die Stimmung noch um einiges unbeschwerter als etwa in Basel und Zürich. Man konnte sich hier nicht so stark voneinander abgrenzen, ohne schnell ins Abseits zu geraten. Wir haben den Kulturbegriff erweitert, und viele Leute fanden den Mut, selber etwas anzureissen.
In welche Richtung bewegst du dich heute?
Das Theater hat sich in den letzten zehn Jahren, vor allem in der Schweiz, mehr und mehr dem Unkonkreten oder Hyperprivaten zugewandt. Das war auch gut so und befreiend. Es war wohl die Reaktion auf einen strengen, eher deutschen Intellektualismus. Das hat viel frei gesetzt und neue Formen entstehen lassen. Aber jetzt ist es wichtig, dass die Kulturschaffenden ihre Panik vor Statements ablegen und wieder wagen, sich zu Wort zu melden. Und ausserdem: Wenn man den Leuten wieder klar machen kann, dass Rebellion sexy ist, dann wird es vielleicht wieder losgehen.