Wichtig zu wissen: Die Gefahr der Einzeller

Nr. 8 –

Ruedi Widmer über Träume und Gehirne

«Nach einer Stunde aus dem Tiefschlaf erwacht. 1:43 Uhr. Warum? Merke, dass ich stark geträumt habe, kein Albtraum, aber gleich vergessen, was. Das Blut rauscht in den Ohren. Doch ich sehe glasklar, wie ein riesiger entwurzelter Baum sich umstülpt, sich windet und zu einem grossen Fisch wird, mein Kopf fühlt sich matschig an, auch samtig, er ist gerade in Prozessen, er ist wie eine KI, er macht Bilder, fortlaufend, das Hirn aufgebläht, der Schädel offen, man könnte nun ins Hirn sehen, es ist sehr verletzlich, ich habe es ertappt, ich bin überzeugt, dass wir noch in diesem Jahrzehnt Gedanken werden lesen können, es ist der russische Krieg, sie kommen in unsere offenen Gehirne, sie nehmen alles raus und mit, sie wissen es. Man kann alles speichern. Langsam beruhigt sich der Bilderstrom, ich greife zum Handy, um das hier aufzuschreiben, die Rechtschreibhilfe ist auch schon wach, dauernd komm ich beim Tippen auf das Globus-Zeichen, und die Tastatur wird auf English umgestellt. Leichtes Kopfweh. Das Wort ‹cerebral› erklingt im Kopf, draussen hör ich Regen aufs Vordach klimpern. Atem beruhigt sich, Puls nimmt ab. Verrückt, der Mensch ist seiner selbst nicht Herr. Der Geist ist stärker. Geht das die ganze Nacht so?» (Notizen vom 16.2.24)

Keine Droge kommt bei mir an die Empfindungen im Schlaf heran, an die Traumreste, die noch wie Nebelbänke im Schlafzimmer hängen bleiben, an die Balance zwischen Leben und Tod, an die cineastischen Bilderreigen, an die Vermischung von Rationalität und Sinnlosigkeit, auch an das Bewusstsein, dass Raum nur in diesem weichen Körperteil hinter den Augen existiert, das Oben und Unten. Eine Welt ohne Gehirne ist eine dimensionslose Wüste.

Ich sah als Kind mal ein Bild, bei dem ein Hirn und ein Atompilz übereinandergelegt waren. Es sollte wohl eine Entwicklung symbolisieren: vom vor sich hinzellenden Einzeller bis zur menschlichen Fähigkeit, das Erdenrund mehrfach zu zerstören.

Die deutsche Regierung macht sich zu Recht Gedanken darüber, was es bedeutet, wenn der US-Atomschutzschirm der Nato wegfällt; der «Spiegel» macht die «deutsche Bombe» zur Titelgeschichte. Ein immenses Dilemma kommt auf Europa zu. Man muss sich mal ausmalen, wie im Schutz des Atomschirms von Putinrussland eine mit Moskau koordinierte Machtübernahme der AfD in Kerneuropa möglich würde (um die EU von innen zu zerstören), bevor der deutsche Atomschirm wirksam wäre. Die angefangene Bombe fällt dann Höcke in den Schoss.

Die Welt ist mit einem Haufen wohlsituierter, aber verletzter, äusserst empfindsamer Männerseelen konfrontiert, deren Rachebedürfnis sich vom irregeleiteten Blogger bis zum Diktator gleicht. Chefschreiber in Dauerendorphinausschüttung, die mit Putin verschmelzen wollen, blauäugige Germanen, betrunkene deutsche Gas-Gerhards, französische Gallierdarsteller, Islamisten, Mullahs, Ministerpräsidenten, Altbundesräte, alle in einem Wahn, der erst noch nur am braunen Rand existierte. Auch unsere Mediengesellschaft lebt in Donald Trumps Gehirn, weil sich das Böse besser verkauft als das Gute.

Ich möchte nicht, dass Russland und seine rechten Vasallen und «Werteunionen» ihren Frust an uns auslassen, wenn Trump seinen Segen dazu gibt. Ich wünsche mir deshalb etwas, was man als supranationales europäisches Bewusstsein bezeichnen könnte, um meiner, auch nächtlichen, Angst vor einer brachialen Veränderung unseres Lebens zu begegnen. Wahrscheinlich entsteht das gerade jetzt zwangsläufig in den Gehirnen in allen europäischen Ländern. Für die Ukraine kommt es wohl zu spät.

Es gibt auch Beruhigendes aus den Hirnen zu berichten: Marcel Dettling, neuer SVP-Präsident, versichert, dass die Bauern gut mit dem Klimawandel umgehen können und wir nichts dagegen unternehmen müssen.

Ruedi Widmer träumt in Winterthur.