Archiv für Agrargeschichte: Wer die Geschichte nicht verstehen will
Will die Schweiz ihre Landwirtschaftsgeschichte aufbewahren, oder fällt das renommierte Archiv für Agrargeschichte kleinlichen Finanzüberlegungen zum Opfer?

Europaweit gehen Bäuer:innen auf die Strasse (oder stehen in der Schweiz zumindest am Strassenrand). Gab es solche Proteste nicht schon früher? Na klar. Wo lässt sich darüber nachlesen? Im Archiv für Agrargeschichte (AfA) in Bern. Beziehungsweise auf dessen reichhaltiger Website.
In Bundesbern scheint solches Geschichtswissen nicht besonders geschätzt. Wie könnte es sonst sein, dass das AfA bislang vom zuständigen Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) nicht unterstützt worden ist und bei weiter ausbleibender Finanzierung schliessen muss? Über die Zukunft des Archivs wird derzeit im Rahmen des aktuellen Bildungs-, Forschungs- und Innovationsprogramms des Bundes für die Jahre 2025 bis 2028 verhandelt. Das Archiv hat einen Antrag von je 220 000 Franken für vier Jahre eingereicht, der jetzt in der bürokratisch-parlamentarischen Mühle steckt.
Interesse und Ignoranz
Gegründet worden ist das AfA 2002; es dokumentiert neben der Agrarwirtschaft den ganzen Ernährungssektor, ja die Entwicklung der ruralen Schweiz. Dabei arbeitet es «virtuell», bewahrt nur beschränkt selbst Materialien auf, sondern erschliesst diese für bestehende Archive und stellt via Onlineportale digitalisierte Film- und Fotoquellen zur Verfügung. Beispiel Stadt-Land-Gegensatz? Dazu lässt sich über das AfA reichlich Material aufspüren, zu realen und konstruierten Interessenkonflikten.
Unter dem Initiator und langjährigen Leiter Peter Moser liefert das AfA drei Dienstleistungen. Erstens geht es um die Erschliessung von Nachlässen. Institutionen, die ihre Unterlagen aufarbeiten lassen, übernehmen einen Teil der Kosten. Aber wenn historisches Material von nicht mehr existierenden Institutionen und toten Personen erschlossen werden soll, dann ist das AfA auf die öffentliche Hand angewiesen. Zweitens sind da spezifische Forschungsarbeiten, die durch akquirierte Forschungsbeiträge finanziert werden, etwa auch vom Nationalfonds. Drittens haben die Anfragen von Studierenden zugenommen. Besonders für diesen Bereich bräuchte es mehr qualifiziertes Personal.
Bereits 2016 hatte das AfA einen Unterstützungsantrag eingereicht, der vom WBF auf Empfehlung des zuständigen Staatssekretariats unter anderem mit der fragwürdigen Begründung abgelehnt wurde, man wolle nicht noch mehr Forschungseinrichtungen unterstützen (siehe WOZ Nr. 15/17). Seither sind Anforderungen und Arbeitsaufwand beträchtlich gestiegen, was bis heute teilweise durch Gratisarbeit abgedeckt werden musste. Deshalb hat das Archiv einen neuen Antrag gestellt.
Und tatsächlich, es tut sich was. Der Thurgauer SVP-Ständerat Jakob Stark hat Ende 2023 eine entsprechende Interpellation eingereicht. Die Antwort des Bundesrats via WBF (zuständig: Guy Parmelin, Weinbauer, SVP) zeugt von etlicher Ignoranz (oder Arroganz). So wird empfohlen, das Archiv könne sich ja beim Nationalfonds bewerben. Doch dieser finanziert ausschliesslich Forschungsprojekte. Fürs Überleben des Archivs geht es allerdings um Infrastrukturbeiträge, und diese müssten nun mal von Guy Parmelins Departement kommen.
Die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte hat nun am Mittwoch dieser Woche einen Anlass organisiert, an dem die Parlamentarische Gruppe Geschichte über das Archiv orientiert wurde. Die Qualität von dessen Arbeit ist unbestritten und wird im In- und Ausland hoch geschätzt. Es ist zu hoffen, dass das zu den Parlamentarier:innen durchdringt, die letztlich über die Ausgaben des WBF entscheiden.
Laut Sandra Helfenstein vom Schweizer Bauernverband unterstützt dieser «natürlich» das vom Verband unabhängige Archiv. Auch agrargeschichtliche Forschung verdiene öffentliche Anerkennung. Und Ständerat Jakob Stark meint nach der bundesrätlichen Interpellationsantwort, in der gegenwärtigen Finanzlage sei es zwar schwierig, eine Institution neu zu unterstützen. «Andererseits ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis beim Archiv der Agrargeschichte schon ausserordentlich vorteilhaft, sodass meines Erachtens ein positiver Entscheid des Bundes gut begründbar wäre.»
Gefährdetes öffentliches Gedächtnis
Was stünde bei einer Ablehnung des Finanzierungsgesuchs auf dem Spiel? Eine international nachgefragte, digitale Forschungsinfrastruktur. So enthält das AfA-Portal «Personen und Institutionen» mittlerweile Angaben zu 12 000 Personen und 800 Institutionen aus dem Agrar- und Ernährungsbereich. In zwei vom AfA betriebenen Portalen präsentieren 35 Institutionen aus dem In- und Ausland historisches Film- und Fotomaterial. Zudem bietet die Website selbst produzierte Videos und Artikel zu einem breiten Themenspektrum.
Anfang Januar ist beispielsweise ein Beitrag aufgeschaltet worden: «Bäuerinnen – einst Dreh- und Angelpunkt der Arbeiten auf den Bauernhöfen». Darin geht es um Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen auf den bäuerlichen Familienbetrieben im 19. und 20. Jahrhundert. Dank Crowdfunding kann nächstens ein Videoessay über Mina Hofstetter (1883–1967), die «erste vegane Bäuerin der Schweiz», vorgestellt werden. Aber auch zum «gemeinsamen Besitz von Maultieren» findet sich in einem aktuellen Artikel Erhellendes und Ergötzliches.