Saisonnierstatut: «Wie viel kostet die Ohnmacht einer Mutter, die ihr Kind vermisst?»

Nr. 9 –

Sie sind Mitglieder von Saisonnierfamilien und mussten zeitweise getrennt von ihren Eltern leben: Die Autorin Melinda Nadj Abonji und die Historikerin Paola De Martin benennen die strukturelle Gewalt, die die Schweiz einer halben Million Familien angetan hat.

Interviewbild von Paola De Martin
Die Historikerin und Aktivistin Paola De Martin lehrt und forscht über Klassismus in Architektur, Design und Kunst an der ETH Zürich. Sie ist Mitgründerin und Präsidentin des Vereins Tesoro.
Interviewbild von Melinda Nadj Abonji
Melinda Nadj Abonji ist Autorin, Musikerin und Performerin. Zuletzt wurde sie 2022 mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitgründerin und Vizepräsidentin des Vereins Tesoro.

Paola De Martin: Schau, das ist ein Foto, das ich sehr mag: Es zeigt meinen Vater und mich vor der Tinguely-Maschine an der Zürichseepromenade. Mein Vater liebte diese Maschine. «Guarda, guarda, questa macchina si muove ma non produce niente», sagte er: Schau, schau, diese Maschine bewegt sich, aber sie produziert nichts.

Paola De Martin mit ihrem Vater vor der Tinguely-Maschine an der Zürichseepromenade, circa 1967
Paola De Martin mit ihrem Vater vor der Tinguely-Maschine an der Zürichseepromenade, circa 1967.

Da meine Mutter darauf bestand, dass die Familie zusammengehörte, haben mich meine Eltern aus Italien geholt, wo ich bei Verwandten lebte. Ich war mit einem Touristenvisum hier, wir sind sozusagen als Touristen verkleidet in Zürich herumgelaufen. Das war ein Running Gag in der Familie: «Wir sind eine Familie, aber das Kind ist Touristin in der Familie.» Das ist schon krass, oder? Ich vermute, das war im Frühling 1967: Da mein Vater mittlerweile den Jahresaufenthaltsstatus hatte, dachten sie, sie könnten mich nun aus Italien nachholen. Doch die Fremdenpolizei beschied ihnen, sie müssten einen Antrag stellen, und dann gehe es mindestens achtzehn Monate, bis die Erlaubnis komme. So holten sie mich mit einem Touristenvisum – zuerst war ich «turista», dann «clandestina», dann ging ich wieder zurück nach Italien. So ging das hin und her, bis ich einen legalen Aufenthaltsstatus hatte.


Paola De Martin wurde 1965 in der Schweiz geboren. Ihr aus Italien stammender Vater lebte als Saisonnier in der Schweiz, ihre ebenfalls italienische Mutter hatte zwar den Jahresaufenthaltstatus B, wurde jedoch durch die Heirat mit einem Saisonnier auf dessen Status degradiert und verlor ihre Rechte. Das in den dreissiger Jahren eingeführte und bis 2002 gültige Saisonnierstatut verbot den hier arbeitenden Saisonniers nicht nur, ihre Kinder in die Schweiz mitzunehmen. Auch Kinder, die in der Schweiz zur Welt kamen, waren illegal – wie Paola De Martin. So teilte die Fremdenpolizei den Eltern denn auch kurz nach Paolas Geburt mit, dass sie sich strafbar machten, wenn sie ihr Kind in der Schweiz behielten. Die Mutter musste mit dem dreimonatigen Baby nach Italien reisen, wo sie es in der Familie ihres ältesten Bruders unterbrachte, und kam alleine in die Schweiz zurück, um zu arbeiten.


Melinda Nadj Abonji: Auf diesem Foto sind mein Bruder und ich zu Besuch bei den Eltern in der Schweiz. Wir lebten bei unserer Grossmutter in Jugoslawien.

Melinda Nadj Abonji während eines Besuchs in der Schweiz mit ihrer Mutter, 1971
Melinda Nadj Abonji während eines Besuchs in der Schweiz mit ihrer Mutter, 1971.

Ich bin vielleicht zweieinhalb oder drei Jahre alt, dann wäre das 1971. Ich glaube, meine Schwester, die in der Schweiz geboren wurde, war noch nicht auf der Welt. Mein Bruder ist dreieinhalb Jahre älter als ich. Auf diesem Bild sitzen wir wie ein Ehepaar auf dem Bett des Kinderzimmers – wo es ist, weiss ich nicht mehr. Aber an das Zimmer kann ich mich gut erinnern: Unsere Eltern hatten es für uns eingerichtet, weil sie glaubten, wir könnten bleiben – was nicht der Fall war … Ich wollte noch ein Foto mitnehmen, auf dem ich laufen lerne, aber ich habe es nicht gefunden. Meine Eltern haben diesen Moment ja verpasst, weil sie in der Schweiz am Arbeiten waren und ich bei meiner Grossmutter war.

Melinda Nadj Abonji mit ihrem älteren Bruder im Kinderzimmer, circa 1971
Melinda Nadj Abonji mit ihrem älteren Bruder im Kinderzimmer, das sie nur vorübergehend beziehen konnten, circa 1971.

Melinda Nadj Abonji kam 1968 in Bečej im damaligen Jugoslawien (heute Serbien) zur Welt. Erst in ihrem fünften Lebensjahr durfte sie zu ihren Eltern in die Schweiz kommen. Saisonniers konnten neun Monate am Stück in der Schweiz arbeiten. Ein Stellen- oder Ortswechsel war ihnen während dieser Zeit untersagt, Vorgesetzte konnten innert 24 Stunden die Kündigung aussprechen. Nach neun Monaten mussten sie das Land für drei Monate verlassen. Der sogenannte Familiennachzug wurde Saisonniers erst erlaubt, wenn sie während fünf – später drei – Saisons gearbeitet hatten, ohne je einen Tag zu fehlen. Viele Saisonniers wurden ohne ihr Wissen illegal angestellt – so auch Nadj Abonjis Vater –, was den «Familiennachzug» unmöglich machte oder verzögerte.

Wie Nadj Abonjis und De Martins Eltern brachten viele Saisonniers ihre Kinder bei Verwandten oder auch in Heimen unter. Andere versteckten ihre Kinder zu Hause – zum Teil über Jahre. Laut einer neueren Studie des Migrationshistorikers Toni Ricciardi gab es in der Schweiz allein von 1949 bis 1975 fast 50 000 versteckte Kinder aus Italien. Rechnet man die fremdplatzierten Minderjährigen aus allen Herkunftsländern der Saisonniers dazu, muss man von einer halben Million betroffenen Kernfamilien ausgehen.


WOZ: Das Thema der Saisonniers war letztes Jahr auffallend präsent: Es gab einen Film, ein Theater, Ausstellungen, und Sie haben zusammen ein Hörspiel produziert. Warum ist das Thema gerade jetzt so aktuell?

Melinda Nadj Abonji: «Gerade jetzt» ist natürlich ein Trigger, denn das stimmt so nicht. Ein Grund, dass das Thema in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit wieder präsent wurde, war sicher die «Masseneinwanderungsinitiative» 2014. Die hat bei uns Direktbetroffenen sehr viel ausgelöst – denn mit ihr wurde der Familiennachzug plötzlich wieder infrage gestellt

Paola De Martin: Das wurde sogar in die Verfassung geschrieben! Das hat mich wirklich erschüttert und aufgerüttelt. Dann kam das Antijubiläum «Fünfzig Jahre Schwarzenbach-Initiative» im Jahr 2020. Wir Betroffene haben uns vernetzt und ausgetauscht – eine Folge davon war die Gründung des Vereins Tesoro, der sich für die Aufarbeitung des Leids illegalisierter migrantischer Familien mit Saisonnier- und Jahresaufenthaltsstatus einsetzt.

Nadj Abonji: Für uns ist wichtig, dass wir als Betroffene das Wort ergreifen. Dass wir selber reden – dass nicht über uns geredet wird.

De Martin: An einer Veranstaltung vor vier Jahren hat mir Catia Porri gesagt, dass sie seit den neunziger Jahren mit ihrer Geschichte als «verstecktes Kind» an der Öffentlichkeit sei. Das hat mich überrascht. Als wir dann für eine Radiosendung zum Thema recherchierten, merkten wir: Anfang der achtziger Jahre gab es die Mitenand-Initiative, die das Saisonnierstatut abschaffen wollte. Und auch im Zusammenhang mit der Schwarzenbach-Initiative, die den Anteil der Ausländer mit Niederlassung C in der Schweiz auf zehn Prozent reduzieren wollte und 1970 knapp abgelehnt wurde, hatte es schon Medienberichte und Filme zum Thema gegeben, unter anderem von Alexander J. Seiler und June Kovac, von Alvaro Bizzarri, Peter Ammann oder Gertrud Pinkus.

Es war also dauernd ein Thema. Nur verankert sich das Thema bis heute nicht in der offiziellen Schweizer Geschichte – es wird immer wieder vergessen. Wobei: Catia wird wütend, wenn man «vergessen» sagt. Sie betont: «Es wird nicht vergessen, es wird gelöscht.» Und hinter diesem Löschen steckt ein aktiver Prozess.

Nadj Abonji: Es ist sehr wichtig, dass das klar wird: Das Thema taucht seit Jahrzehnten auf und wird wieder verdrängt, ja verschüttet.

Woran liegt das?

De Martin: Das frage ich mich auch. Melinda und ich sind beide Historikerinnen. Im Studium haben wir gelernt: Es gibt Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte. An die Ereignisse wird im Zusammenhang mit dem Saisonnierstatut immer wieder erinnert, doch das Thema schafft den Sprung nicht in die Strukturgeschichte. Das war in der Ausstellung «Wir, die Saisonniers» letztes Jahr in Biel schön zu sehen: Man erfuhr, wann das Saisonnierstatut beschlossen, eingeführt und wieder abgeschafft wurde. Aber die Strukturen, die so ein rassistisches Gesetz überhaupt ermöglichten, begannen schon viel früher. Und sie existieren noch immer. Warum können die FDP und die SVP das Saisonnierstatut immer wieder aufs Tapet bringen? Warum dürfen in der Schweiz vorläufig aufgenommene Menschen mit Ausweis F ihre Kinder erst nach drei Jahren zu sich holen? Warum müssen Sans-Papiers oft von ihren Kindern getrennt leben? Das Ganze geht ja weiter.

Es ist ein rassistisches Gedankengut, das zutiefst in der Gesellschaft hockt und ständig reproduziert wird. Und darüber muss man reden: Die Väter des Anag, des Ausländergesetzes, in dem auch das Saisonnierstatut festgehalten war, haben Eugenik betrieben. Dahinter steckt ein völkisches Denken – explizit und unverhüllt.

Nadj Abonji: Deswegen sagen wir auch: Es geht nicht um die Kinder, sondern um Familienpolitik und Bevölkerungspolitik, eine eugenische Bevölkerungspolitik. Im Anag ging es darum, dem «Zudrang neuer Ausländer einen Wall entgegenzustellen» und eine «strenge Auslese der Ausländer» zu treffen, wie Max Ruth, der massgebliche Architekt des Anag, es formulierte. Explizit unerwünscht waren Slawen, Ostjuden, Sozialisten, aber eben auch die Familien der Saisonniers, was die Zerstörung dieser Familien zur Folge hatte.

De Martin: Wir haben in den Quellen Begriffe gefunden wie «Manövriermasse», «Konjunkturpuffer», «Reservearmee» …

Nadj Abonji: … «Rotationsprinzip» – hier geht es um strukturelle Gewalt. Und wenn etwas in der Struktur drin ist, ist es in den Köpfen, in den Körpern, im Denken – in der Sprache. Sprache beschreibt nicht einfach die Welt, sondern wir machen unsere Welt durch Sprache. Jedes Wort kreiert die Welt und schafft Bedingungen für unsere Realität.

Als ich realisiert habe, dass das Wort «Überfremdung» seinen Ursprung in der Schweiz hat, hatte ich einen Schock. Ich dachte, das komme aus dem Nationalsozialismus. Doch lanciert hat das Wort der Schweizer Carl Alfred Schmid. Dieser Begriff war überall. Schliesslich entdeckte ich ihn auch in meiner Fremdenpolizeiakte. Ich bin eine «Überfremdung», mein Bruder, meine Eltern sind es. Plötzlich sind wir dieses Wort. Als ich das las, fing ich, erschüttert, nochmals neu an zu denken. Ich wollte verstehen.

die elfjährige Paola De Martin mit ihrem Vater an einer «Festa degli emigranti» in der Nähe von Zürich, 1976
Die elfjährige Paola De Martin mit ihrem Vater an einer «Festa degli emigranti» in der Nähe von Zürich, 1976.

Sprechen Sie mit Ihren Eltern über das, was die Schweiz Ihnen angetan hat?

De Martin: Mein Vater lebt nicht mehr. Mit meiner Mutter konnte ich zum Glück noch darüber reden. Da sie mittlerweile an Demenz erkrankt ist, muss ich indirekt mit ihr kommunizieren. Wenn ich sie etwas frage, antwortet sie zum Beispiel mit einem Lied.

Sehr schmerzhaft ist, dass wir noch kein Wort haben für das, was wir erlebt haben. Meine Mutter nennt das, was ihr angetan worden ist, «questa cosa» – diese Sache.

Nadj Abonji: Mit meinem Vater kann ich nicht reden. Und meine Mutter wird täglich überwältigt vom Schmerz. Sie hat ihr Leben lang so viel gearbeitet – sie hatte drei Jobs gleichzeitig – und hatte keine Zeit, zu realisieren, was ihr angetan wurde. Und jetzt implodiert das. Dann bricht sie in Tränen aus, erzählt in Bruchstücken, und ich muss sie trösten. Das ist für uns beide nicht leicht.

Als ich in die Schweiz kam, lebte ich die ersten Monate bei einer Pflegefamilie. Meine Eltern mussten ja arbeiten, und die wenigen Krippenplätze waren für Schweizer Familien reserviert. Du kommst – und bist wieder getrennt. Da ist also wieder ein Riss. Dieses Immer-wieder-anzufangen-Versuchen ist ein grosses Thema. Und es geht auch um Zeit: Durch unsere Erlebnisse hat Zeit eine andere Bedeutung.

Inwiefern?

Nadj Abonji: Ich habe immer wieder erlebt, dass Leute sagen: «Du bist mit viereinhalb Jahren in die Schweiz gekommen? Dann warst du ja gar nicht so lange von deinen Eltern getrennt.» Lange habe ich das auch geglaubt. Doch diese viereinhalb Jahre sind eine unendlich lange Zeit. Für meine Eltern und für mich. Trennung bedeutet ja Zeit, die man nicht zusammen verbringen kann. Und es bleibt ein Riss, ein Misstrauen, Trauer. Und eine aufrichtige Suche nach heilenden Gesprächen.

De Martin: Wir hören oft von linker Seite: «Was habt ihr immer mit dieser Familie?» So eine Art antibürgerlicher Reflex, der uns in eine konservative Ecke drängt. Aber wenn wir von Familie reden, meinen wir nicht «Mami-Papi-Einfamilienhaus», wir meinen alle möglichen Formen von Familie. Kürzlich habe ich in dem wunderschönen Buch des Basler Sans-Papiers-Kollektivs den Satz gelesen: «Nur wer versucht hat, ohne Familie zu leben, kennt ihren Wert.» Die Sans-Papiers sind ja bestens integriert auf dem Arbeitsmarkt, man braucht sie. Aber die Schweiz will sie in einer ganz bestimmten Position: entrechtet, verängstigt und dankbar. Genau wie damals die Saisonniers.

Nadj Abonji: Es ist eine freundliche Grausamkeit, die nach einem kalten Ausbeutungsprinzip funktioniert: Kommt, arbeitet und geht wieder. Und dann wird noch behauptet, es sei eine «Win-win-Situation». Das ist unendlich zynisch. Deshalb weigere ich mich auch, dankbar zu sein. Im Übrigen richtet sich dieses kapitalistische Prinzip allgemein gegen arme Leute – ob sie Migrant:innen oder Schweizer:innen sind, spielt keine Rolle. Kapitalismus kennt keine Moral. Was mich seit Jahren beschäftigt: Warum ist die Schweiz so grausam zu armen Menschen? Warum gibt es in der Schweiz keine Möglichkeit, in Würde arm zu sein?

De Martin: Wenn die Leute fragen, ob ich denn nicht dankbar sei, sage ich: Tatsächlich bin ich dankbar, dass ich studieren konnte und Chancen hatte, die meine Eltern nicht gehabt hatten. Aber ich kann nicht dankbar sein für die Gewalt, die mir die Schweiz durch die Trennung von meinen Eltern angetan hat.

Auffallend ist, dass in der Diskussion rund um die Saisonniers immer auf die Kinder fokussiert wird. Das Trauma der Eltern, die ja gezwungen wurden, ihre Kinder wegzugeben oder zu verstecken, kommt kaum vor.

Nadj Abonji: Sobald es um Kinder geht, sind die Leute sensibel und aufmerksam und finden es schrecklich, was passiert. Aber wir müssen unbedingt von diesem «Jö, wie schlimm»-Effekt wegkommen!

De Martin: Letztes Jahr habe ich mir in La Chaux-de-Fonds die Ausstellung «Enfants du placard» angeschaut – ein schrecklicher Begriff, «Schrankkinder», da klebt man die Gewalt wieder an die Opfer. Die Ausstellung war sehr interessant, aber da stand auf einem Plakat: «Die Kinder von früher wurden jetzt erwachsen. Und jetzt, erst jetzt, sind sie in der Lage zu fragen, warum ihre Eltern das gemacht haben.» Ich rief den Ausstellungsmacher Francesco Garufo, mit dem ich freundschaftlich verbunden bin, an und sagte: «Was macht ihr denn da? Da müsste doch stehen: ‹Erst jetzt sind sie in der Lage zu fragen, wie die Schweiz so etwas machen konnte.›»

Nadj Abonji: Wieder einmal wird den Eltern die Schuld zugeschoben. Man sagt: Sie hätten ja nicht kommen müssen, sie hätten ja zurückgehen können. Das ist grauenhaft. Wer will schon freiwillig über Jahre von seinen Kindern getrennt sein?

Das Verstecken der Kinder könnte ja auch als Akt des Widerstands gegen das Anag gelesen werden. Doch das geschieht nicht. Weil so die Schuld individualisiert werden kann und das Anag gar nicht thematisiert werden muss.

De Martin: Hinzu kommt, dass es Wasser auf die Mühlen der Rassisten ist. Man sagt: «Ihr hättet ja nicht kommen müssen, ihr gehört sowieso nicht hierher. Euch wäre es bei der Grossmutter so gut gegangen, am Meer mit Gelati – alles super. In eurem natürlichen Habitat hättet ihr gut wachsen können.» Dort wachsen ja dann die neuen Arbeitskräfte für die Schweiz nach. Mein Grossvater war schon Saisonnier. Mein Vater ist getrennt von ihm aufgewachsen. Auch er wurde wieder Saisonnier – sozusagen der Traum der Schweiz, es geht immer weiter.

Gruppenfoto von Arbeitern welche beim Bau der Staumauer Mauvoisin beteiligt waren, um 1951
Schon Paola De Martins Grossvater arbeitete als Saisonnier in der Schweiz: Beim Bau der Staumauer Mauvoisin, um 1951 (in der Bildmitte).

Vor zwei Jahren haben Sie den Verein Tesoro gegründet. Tesoro nennt das, was die Schweiz den Saisonniers angetan hat, ein «Attentat». Warum haben Sie dieses Wort gewählt?

De Martin: Das kam in einem Gespräch in einer Radiosendung auf. Egidio Stigliano, Mitgründer und damaliger Vizepräsident von Tesoro, sagte: «Es war ein Attentat auf die Integrität der Familie.» Also auf unsere Integrität. Das fanden wir schön und passend, weil das Wort die Gewalt, die uns angetan wurde, vermittelt. Oft hören wir als Reaktion auf unsere Geschichte: «Das hat mich so berührt.» Aber das ist irgendwie komisch, denn es geht um Gewalt. Okay, wenn wir die Menschen berühren, dann passiert etwas, aber die Frage ist doch, was kommt nach der Berührung? Und da haben wir die Erfahrung gemacht, dass viele Leute einfach nochmals berührt werden wollen!

Was fordert Tesoro?

De Martin: Die erste Forderung ist eine offizielle Anerkennung des Leids und eine Entschuldigung. Ein Zugeständnis, dass Gewalt stattgefunden hat. Nadj Abonji: Wir wissen mittlerweile, dass diese Politik viel mehr Menschen betraf, als man bisher angenommen hat. Ich mag zwar Zahlenreitereien nicht. Man kann ja sagen, ein Unrecht, das eine Person betrifft, ist schon Unrecht genug. Doch ich finde es in diesem Zusammenhang wichtig, weil es die Dimension nochmals aufzeigt: Es ist ein Unrecht, das über Generationen hinweg im Gesetz festgeschrieben war und Teil dieser Gesellschaft ist.

De Martin: Wir haben es mit einem historischen Trauma zu tun.

Was fordern Sie noch?

De Martin: Unsere Forderung Nummer zwei ist eine historische Aufarbeitung, die zu einem veränderten kollektiven Gedächtnis führt. Denn was uns passiert ist, ist Teil der Schweizer Geschichte. Die dritte Forderung schliesslich: finanzielle Entschädigung. Es ist uns bewusst, dass das Thema Geld einen emotionalen Punkt berührt in diesem Land. Uns ist vor allem wichtig, dass eine Diskussion über die Übersetzung von Gewalt in Geld geführt wird. Da wird juristisches Neuland betreten, das wegweisend sein könnte.

Nadj Abonji: Da sind Fragen, die man stellen muss: Wie viel kostet ein Tag Trennung von den Eltern? Wie viel kostet eine Woche schlaflose Nächte, weil deine Mutter nicht da ist? Wie viel kostet die Ohnmacht einer Mutter, die ihr Kind so sehr vermisst? Wie viel kostet das? Ein Land, das immer rechnet, sollte bereit sein, zu überlegen, wie sich diese Fragen berechnen.

Es sind dieselben Forderungen, die die Opfer der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gestellt haben – mit Erfolg

De Martin: Wir orientieren uns tatsächlich an ihnen. Es ist uns wichtig, sichtbar zu machen, dass beide Teil desselben Systems sind und wir gemeinsam kämpfen müssen.

Nadj Abonji: Ja, es ist wichtig, die Struktur der Gewalt zu erkennen, die ähnlich ist. Durch die Lektüre des Schweizer Autors Carl Albert Loosli habe ich gelernt, dass mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor allem arme Menschen entrechtet wurden. Ohne irgendein Vergehen begangen zu haben und ohne Gerichtsurteil wurden sie entmündigt, in Heime, Anstalten oder sogar ins Gefängnis gesteckt. Wir wurden durch ein ganz bestimmtes Gesetz, das Anag, von unseren Eltern getrennt.

De Martin: Wie meine Mutter sagt: «Sie haben uns wie Verbrecher behandelt, weil wir mit unseren Kindern zusammenleben wollten.»

Nadj Abonji: Vereint sind wir darin, dass uns die amoralische Willkür der Mächtigen trifft, denen es vor allem um wirtschaftlichen Gewinn geht.

Einerseits müssen wir lernen aus dem, was schon passiert ist, andererseits müssen wir die Dinge neu benennen, sodass die Leute merken: «Ah, so habe ich das noch nie gesehen.» Und ich glaube, das können wir schaffen.