Verein Tesoro: Wirtschaftspolitik gegen die Menschenrechte
Ein neuer Verein fordert, dass das Leid der sogenannten Gastarbeiterfamilien endlich anerkannt wird. Und zeigt, dass viele Familien bis heute dasselbe durchmachen.
Ein «Attentat» – so nennt der 2021 gegründete Verein Tesoro das, was die offizielle Schweiz den Saisonniers angetan hat: ein Attentat auf migrantische Familien; ein Attentat der Fremdenpolizei auf die Integrität und Intimsphäre der Arbeitsmigrant:innen; ein Attentat der schweizerischen Gesellschaft. Von den 1930er Jahren bis 2002 durften eine halbe Million Kinder von ausländischen Arbeiter:innen, die den Saisonnierstatus hatten, nicht legal bei ihren Eltern leben. Während diese sich in der Schweiz kaputtschufteten, blieben die Kinder bei Verwandten im Herkunftsland, mussten in Heimen nahe an der Schweizer Grenze untergebracht werden oder wurden von den Eltern zu Hause versteckt (vgl. «Weggesperrt im ‹Finsterland›»).
Parademigranten als Trick
Tesoro vertritt die Interessen der betroffenen Familienmitglieder und fordert eine offizielle Anerkennung des Leids, eine Entschuldigung der Schweizer Behörden, eine historische Aufarbeitung sowie eine angemessene finanzielle Entschädigung – analog zu den Verdingkindern. Bis heute ist nichts von alledem geschehen.
Bereits 2018 schickte die Mitgründerin von Tesoro und Betroffene Paola De Martin einen Brief mit diesen Forderungen an die damalige SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga. In ihrem Brief, der auf www.institutneueschweiz.ch veröffentlicht ist, schreibt De Martin auch diesen zentralen Satz: «Heute werden Italiener als Parade-Migranten und Lieblings-Ausländer betitelt, es ist nur ein Trick, um uns von denen zu trennen, die jetzt dasselbe erleben wie wir damals.» Dem Verein Tesoro ist es deshalb ein Anliegen, mit anderen Gruppen solidarisch zu sein, die ebenfalls «von Familientrennungen und Illegalisierung betroffen sind». Tesoro engagiere sich dafür, «dass die gegenwärtige Gewalt gegen migrantische Familien endlich aufhört», wie es auf der Website des Vereins heisst.
Tatsächlich wurde das Saisonnierstatut 2002 abgeschafft, doch noch immer gibt es zu viele Gesetze, die Familien trennen und Menschen illegalisieren, obwohl doch das Recht auf Achtung des Familienlebens in der Bundesverfassung verankert ist. Für Angehörige von Drittstaaten existieren auch Kontingente, die aber ausschliesslich an Hochqualifizierte vergeben werden. Dagegen müssen viele niedrigqualifizierte Arbeitskräfte, auf die die Schweiz angewiesen ist, illegalisiert hier leben und arbeiten.
Prekär ist es auch für Menschen mit Status F (vorläufig aufgenommene Ausländer:innen). Ihnen ist es erst nach drei Jahren Aufenthalt in der Schweiz erlaubt, die Familie nachzuholen, und auch dann nur, wenn laut Gesetz eine «bedarfsgerechte Wohnung vorhanden ist» oder «die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist». Obwohl gemäss einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2021 eine pauschale Wartezeit von drei Jahren menschenrechtswidrig ist, hält die Schweiz an diesem Gesetz fest. «Ich telefoniere jeden Tag mit meiner Tochter in meinem Heimatland. Jeden Tag sagt sie: ‹Mama, ich vermisse dich.› Sie kann nicht herkommen, weil ich den F-Ausweis habe und nur fünfzig Prozent arbeite, also zu wenig Geld habe. Ich habe so viele Male versucht, sie hierherzuholen.» So schreibt eine Mutter im soeben erschienenen Buch «Ich habe Status F», das unterschiedliche Menschen mit diesem Status porträtiert.
Nur Kinder mit Schweizer Pass
Seit Jahrzehnten arbeitet die SVP daran, die bestehenden Gesetze weiter zu verschärfen. Ihre 2014 an der Urne angenommene «Masseneinwanderungsinitiative» wollte eine Kontingentierung für alle Ausländer:innen einführen, auch für jene aus der EU. Da die Initiative nicht nach Wunsch der Initiant:innen umgesetzt wurde, lancierte die Partei 2020 die «Begrenzungsinitiative», die jedoch abgelehnt wurde.
Im Wahljahr 2023 geht die Partei weiter mit rassistischen Parolen auf Stimmenfang: Sie spricht von «Asylschmarotzern» und will mit der geplanten «Nachhaltigkeitsinitiative» eine «Zehnmillionenschweiz» verhindern. Und wenn auf der SVP-Website das Konterfei der Thurgauer Nationalrätin Verena Herzog prangt mit dem Satz «Erste Priorität hat das Kindswohl», ist das an Zynismus kaum zu überbieten. Gemeint ist hier offenbar nur das Wohl von Kindern mit Schweizer Pass.