Tourismus-Hotspots: Wem gehört das Engadinerhaus?

Nr. 9 –

Im Unterengadin spitzt sich der Mangel an günstigem Wohnraum zu – ein Verein warnt vor der Verwaisung der Dörfer. Die Situation hat viel mit der laxen Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative zu tun.

Häuser im Dorfkern von Guarda
Die Sehnsucht nach Idylle macht den Wohnraum knapp: Etwa in Guarda. Foto: Stock Adobe

Veronica Yogesh wollte nach dem Tourismusstudium in Luzern zurück in die Berge. Mit ihrem Mann und der kleinen Tochter suchte sie eine Wohnung im Unterengadin in der Nähe ihrer Eltern. Den Job bei einer Versicherung in Scuol fand sie rasch, doch die Wohnungssuche gestaltete sich überraschend schwierig. Zur Überbrückung musste die dreiköpfige Familie zwei Monate lang in Yogeshs ehemaligem Kinderzimmer wohnen, wie sie erzählt. «In meinem eigenen Dorf keine Wohnung zu finden, das war schon frustrierend.»

Ähnliche Geschichten gibt es einige, denn im Unterengadin herrscht Wohnungsnot. In der grössten Gemeinde Scuol, zu der seit der Fusion von 2015 auch die Dörfer Sent, Ftan, Tarasp, Ardez und Guarda gehören, ist das auch offiziell: Die Leerwohnungsziffer lag letztes Jahr bei 0,42 Prozent; unter einem Prozent spricht man von Wohnungsnot. Anschaulich wird das Problem, wenn die Leute erzählen: von einem Bäcker, der die Stelle im Dorf nicht antreten konnte, weil er keine Wohnung fand, oder von Hoteliers, die ohne bezahlbaren Wohnraum in der Nähe kein Personal finden können.

Einer dieser Hoteliers ist der Cousin von Riet Fanzun. Der 36-jährige Architekt fährt ein kleines Auto im Schritttempo durch den alten Dorfkern von Tarasp, der sich an den Hang unterhalb des bekannten Schlosses schmiegt. Die meisten dieser Häuser würden als Zweitwohnungen genutzt, erklärt Fanzun. Viele Besitzer:innen seien nur wenige Wochen vor Ort. Als Mitglied der Baukommission von Scuol kann Fanzun die aktuelle Entwicklung an den Baugesuchen ablesen, die reinkommen: Oft geht diesen ein Handwechsel von Ortsansässigen zu Auswärtigen voraus. «In Guarda sowie in Tschlin in der Nachbargemeinde Valsot ist es am schlimmsten», sagt er. «Im Moment beobachten wir, wie auch Sent und Ardez ausverkauft werden.»

Beunruhigende Dynamik

Der Verein Anna Florin will diese Entwicklung stoppen, die Bevölkerung und die Gemeinden aufrütteln. Riet Fanzun hat den Verein im Herbst 2021 mitbegründet; ursprünglich war das Ziel, das Leben in den Dörfern und die dafür nötigen Treffpunkte wie Beizen und Dorfläden zu erhalten. «Wir haben schnell gemerkt, dass es dafür vor allem einen gewissen Anteil an ständiger Wohnbevölkerung braucht.» Der Verein untersuchte die Gründe, wieso Ortsansässige abwandern oder jemand nicht zuzieht, und stiess auf eine besorgniserregende Dynamik, die von zwei Bundesgesetzen beschleunigt wird.

Die 2012 angenommene Zweitwohnungsinitiative wollte, dass in Gemeinden mit einem Anteil von über zwanzig Prozent Zweitwohnungen keine weiteren gebaut werden dürfen. Doch das 2016 in Kraft getretene Gesetz hat diverse Schlupflöcher. Das grösste: Gebäude, die vor 2012 schon standen, sogenannte altrechtliche Wohnungen, dürfen in Zweitwohnungen umgewandelt werden.

Ein neues Schlupfloch

Das 2016 in Kraft getretene Zweitwohnungsgesetz verbietet den Bau neuer Zweitwohnungen in Gemeinden, in denen deren Anteil bereits über zwanzig Prozent liegt. Eine vom Nationalrat bereits gutgeheissene parlamentarische Initiative von Martin Candinas (Mitte, GR) will im Gesetz die Bedingungen für den Um- oder Neubau von Gebäuden lockern, die schon vor 2012 standen.

Sollte sein Vorstoss in der aktuellen Session auch im Ständerat durchkommen, dürfte die Nutzfläche bestehender Häuser um dreissig Prozent erweitert werden, und es könnten zusätzliche Wohnungen entstehen – auch Zweitwohnungen. Im Gesetz würde damit ein neues Schlupfloch entstehen, das den Zweitwohnungsmarkt weiter anheizen und Erstwohnraum vernichten könnte.

Daneben wurde 2014 die Revision des nationalen Raumplanungsgesetzes beschlossen, um die Zersiedelung zu stoppen. Für eine Gemeinde ohne hohes Bevölkerungswachstum wie Scuol bedeutet das die Rückzonung von zu grossen Baulandreserven und langfristig keine neuen Wohnungen auf der grünen Wiese. Die Folge: Die grosse Nachfrage nach Zweitwohnungen verdrängt die ortsansässige Bevölkerung aus dem bestehenden Wohnraum, in dem bald das gesamte Entwicklungspotenzial dieser Gemeinden liegt.

Hier in Tarasp reiht sich ein prächtiges Engadinerhaus ans nächste, grosse Bogentüren aus hellem Holz, weisser Verputz mit eingeritzten Sgraffiti, alles wirkt fein säuberlich renoviert und restauriert. In einem besonders schönen Haus lebe noch ein älterer Mann, die Erben seien längst weggezogen. Wenn diese das Haus zum Höchstwert verkaufen würden – was in den meisten Fällen bedeutet, dass daraus eine Zweitwohnung wird –, würden sie dafür aktuell eineinhalb bis zwei Millionen Franken erhalten, schätzt Fanzun.

Fanzun ist in Tarasp aufgewachsen, dann fürs Studium an der ETH nach Zürich gezogen. In Chur arbeitete er in einem Architekturbüro, das «schöne Engadinerhäuser zu Villen umbaut». Als Architekt sei es die schönste Arbeit, ein solches Haus mit hochwertigen lokalen Materialien und Respekt gegenüber der Geschichte umzubauen. «Aber es ist auch ein Luxusmarkt.» Auch in Chur blieb er mit Tarasp verbunden. Als die Dorfmusik keinen Dirigenten mehr fand, sprang er ein und fuhr jedes Wochenende für die Probe ins Unterengadin. Vor eineinhalb Jahren zog er wieder hierher, in eine Wohnung im Haus seiner Eltern, in dem auch Veronica Yogesh wohnt, und gründete zusammen mit seiner Partnerin ein kleines Architekturbüro.

Oft sind es Erbengemeinschaften, die Häuser verkaufen oder leer stehen lassen. Fanzun hält neben einem Auto mit Zürcher Nummernschild. Der ehemalige Stall, der bei alten Engadinerhäusern direkt an den bewohnten Teil anschliesst, ist zu einer Ferienwohnung ausgebaut. Eine neue Praxis der Gemeinde Scuol verunmöglicht es für den Moment, dass weitere Ställe zu Zweitwohnungen umgebaut werden – es ist eine erste zaghafte Gegenmassnahme. Doch ein Vorstoss des Bündner Mitte-Parlamentariers Martin Candinas (vgl. «Ein neues Schlupfloch»), der nach der Annahme im Nationalrat nächste Woche im Ständerat verhandelt wird und eine weitere Lockerung des Zweitwohnungsgesetzes verlangt, würde eine solche Umnutzung der Ställe wieder lukrativer machen.

Eine Symbiose?

Gemäss Anna Florin müsste es in die gegenteilige Richtung gehen: die Nutzung von altrechtlichem Wohnraum als Zweitwohnung einschränken, den Markt für Erstwohnungen schützen. Das wohl strengste kommunale Zweitwohnungsgesetz hat Ende letzten Jahres überraschend deutlich die Bündner Gemeinde Flims beschlossen. Wer dort künftig ein Wohngebäude ersetzt oder wesentlich umbaut, muss mindestens die Hälfte der Fläche zu Erstwohnraum machen. Auch im luxusaffinen Oberengadin, wo es schon länger an bezahlbarem Wohnraum fehlt, tut sich etwas. Pontresina etwa will eine Steuer auf Zweitwohnungen einführen, um damit günstigen Wohnraum zu fördern.

Wie blickt man aus dem Unterengadin auf solche Bestrebungen? «Wir beobachten die Entwicklung in Pontresina mit Interesse», sagt Aita Zanetti, Gemeindepräsidentin von Scuol. Aber sie sei sich nicht sicher, ob eine Steuer wie in Pontresina für Scuol der richtige Weg sei. Viele Leute, die hier Ferienwohnungen besässen, hätten eine starke Bindung zum Ort, würden sich fürs Dorfleben engagieren, das lokale Gewerbe berücksichtigen. «Wir leben auch in einer Symbiose mit ihnen und müssen dazu Sorge tragen, wie wir miteinander umgehen.»

Scuol hat eine Wohnbevölkerung von 4700 Personen – jetzt, während der Hochsaison, weilen hier bis zu 15 000 Menschen. Das Bundesamt für Raumentwicklung schätzt den Anteil an Zweitwohnungen in der Gemeinde auf sechzig Prozent.

Aita Zanetti empfängt in einem kleinen Saal im Gemeindehaus von Scuol, der vollständig mit Holz ausgekleidet ist. Sie macht nicht den Eindruck, als würde sie besonders gern über den Wohnungsmarkt reden. Auf problematische Entwicklungen und mögliche Massnahmen angesprochen, verweist sie auf lokale Unterschiede und Dilemmata oder auf die Verantwortung der Einheimischen. Die Eingriffe in den Markt, die Anna Florin für dringend nötig hält, scheinen für die Bäuerin aus Sent derzeit nicht im Bereich des Vernünftigen. Ausserdem hat die kleine Verwaltung immer noch alle Hände voll zu tun mit der Fusion. Die Harmonisierung der sechs Baugesetze ist einer der härtesten Brocken.

Eine Art Depression

Das einzige verbliebene Bauland der Gemeinde besteht aus drei Parzellen in Tarasp – könnte die Gemeinde dort nicht günstige Mietwohnungen bauen? «Ich frage mich, ob das wirklich die Aufgabe der Gemeinde ist», sagt Zanetti. Dass die Kombination aus Zweitwohnungs- und Raumplanungsgesetz zu einem Druck auf bestehende Wohnungen führt, bestreitet sie nicht. «Tatsächlich haben wir in Scuol eine sehr hohe Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum.» Aber ihr sei wichtig, dafür nicht nur die Besitzer:innen von Zweitwohnungen verantwortlich zu machen; auch die Ortsansässigen, die ihre Häuser verkauften, hätten ihren Anteil daran.

Während der Pandemie wuchs im Unterland vermehrt die Sehnsucht nach einem Haus in idyllischen Berggebieten. Von Scuol weiter ins Tal hinein liegt Sent, wo sich Altbundesrat Moritz Leuenberger 2021 ein elegant renoviertes Engadinerhaus gekauft hat. An Sent vorbei führt die Strasse dem Inn entlang weiter ins Tal; in Strada umsteigen und den Berg hoch, dann hält das kleine Postauto am Dorfeingang von Tschlin. Die schneefreien Hänge kündigen ein frühes Ende der Skisaison an. Hinter dem Dorf ragen österreichische Gipfel auf.

111 Leute leben hier. Vor fünfzehn Jahren seien es noch 146 gewesen. Die Gemeinde rechnet mit etwas mehr, aber Angelo Andina, der hier siebzehn Jahre lang Gemeindeschreiber war, zählt genau mit, wer wirklich noch dauerhaft hier lebt. Andina, der auch Mitglied bei Anna Florin ist, sitzt in einem kleinen Café, das er und andere Freiwillige betreiben, um einen Treffpunkt zu erhalten. Vor zwei Jahren schloss gleich gegenüber das letzte Hotel und damit auch Restaurant von Tschlin. Immerhin ist ein neues Restaurant im ehemaligen Schulhaus geplant.

Andina lebt seit 35 Jahren in Tschlin, heute diagnostiziert er den Berggebieten eine Art Depression: «Wir müssten alle mal zur Gruppentherapie.» Die Menschen seien blockiert, weil sie die Folgen der Abwanderung spürten. Der 68-Jährige hat sich schon für vieles engagiert, die GSoA etwa oder ein Verbot von Schneekanonen im Kanton Graubünden. In Tschlin hat er eine Bierbrauerei mitgegründet und wollte Stararchitekt Peter Zumthor hier ein Hotel bauen lassen. Mit den meisten seiner Projekte lief er bei den Gemeindebehörden auf – weil sie vom Falschen gekommen seien, ist er überzeugt.

Im Moment beschäftigt ihn vor allem der Wohnungsmarkt. Um den Ausverkauf der Dörfer zu stoppen, will er bald noch einmal eine kantonale Initiative lancieren, sagt Andina entschlossen. «Wenn sie dem Verein dann zu radikal ist, mache ich es halt allein.»