Zweitwohnungsbau: Ausverkauf in der Surselva

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In vielen Berggemeinden werden weiter Ferienwohnungen gebaut, während es kaum mehr bezahlbaren Wohnraum gibt. Was läuft da schief, und wie war das noch mal mit der Zweitwohnungsinitiative? Ein Augenschein in einem Bündner Dorf.

Ein Haus im Bündnerland.
In diesem Haus entsteht eine Genossenschaft: Flurin Bundi baut das Haus seiner Eltern in Sagogn zu einem Mehrfamilienhaus um.

Vom Bergpanorama, das Sagogn für Tourist:innen attraktiv macht, ist an diesem Tag nicht viel zu sehen. Nasse Schneeflocken fallen vom Himmel, und die Wolken und Nebelfetzen hängen so tief, dass die Sicht von der Terrasse der Casa Encarden aus nur gerade bis zum Obstbaumgarten reicht. Hier, in einem alten Wohnhaus mit angrenzendem Stall, das mitten im Dorfkern der Sursilvaner Gemeinde steht, soll eine Genossenschaft entstehen, umgebaut nach den Wünschen derjenigen, die einst darin wohnen werden. Damit will die Familie Bundi, der das Haus gehört, einen Gegenpol zur Entwicklung setzen, dass im Dorf immer noch Zweitwohnungen entstehen, obwohl diese bereits mehr als die Hälfte des Wohnraums ausmachen. Das ist legal – obwohl sich die Schweizer Stimmbevölkerung vor über zehn Jahren dafür ausgesprochen hat, genau diese Entwicklung zu stoppen.

Als am 11. März 2012 die Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» mit 50,6 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde, war das in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Erfolg. Nicht nur, weil Volksbegehren in der Schweiz selten genug durch Bevölkerung und Stände angenommen werden. Die Initiative galt zudem als eher linkes Anliegen. Dabei war die Unterstützung durch SP und Grüne bescheiden, die Ja-Kampagne wurde zu einem grossen Teil von den Initiant:innen um Franz und Vera Weber sowie deren Stiftung Helvetia Nostra getragen. Die Initiative wollte den Anteil von Zweitwohnungen auf zwanzig Prozent pro Gemeinde begrenzen, um damit die Zersiedelung zu stoppen und die Landschaft zu schützen. Regionen, die davon am meisten betroffen waren, weil sie bereits einen hohen Anteil an Zweitwohnungen aufwiesen, wehrten sich vehement. «Die Berggebiete haben eine regelrechte Weltuntergangsstimmung heraufbeschworen», erinnert sich Silva Semadeni. Die Bündnerin war damals SP-Nationalrätin und hatte sich als eine der wenigen Politiker:innen im Kanton für die Initiative engagiert.

Gravierende Probleme

Nach der Abstimmung wurde ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der die Vorlage dermassen stark verwässert hätte, dass Vera Weber und ihre Stiftung mit dem Referendum drohten. «Ich bin dann auf SVP und FDP zugegangen, um zu erreichen, dass wir einen Kompromiss finden», sagt Weber, die in der entsprechenden Arbeitsgruppe sass. Sie schaffte es, zusammen mit der SVP, drei Gesetzesartikel, die eine Umgehung des Gesetzes grosszügig ermöglicht hätten, zu verbessern. Doch auch mit dem Kompromissvorschlag sind im Gesetz, das seit 2016 in Kraft ist, so viele Ausnahmen vorgesehen, dass es fast scheint, als gäbe es mehr Schlupflöcher als Beschränkungen. So können etwa weiterhin neue Ferien­­wohnungskomplexe auf unverbauter Fläche entstehen – sofern sie touristisch bewirtschaftet werden. Ein solches Beispiel ist das Rocksresort in der Sagogner Nachbargemeinde Laax, deren Skigebiet mit Flims und Falera eines der bekanntesten der Schweiz ist. Hier steht seit mehr als zehn Jahren ein Komplex aus Zweitwohnungen, die in der Zeit, in der die Besitzer:innen sie nicht nutzen, professionell vermietet werden. Ein ähnliches Projekt ist in Sedrun am anderen Ende der Surselva gerade in Planung.

«Das ist so ein Beispiel, hier waren früher Erstwohnungen drin», sagt Flurin Bundi in Sagogn und zeigt auf ein Mehrfamilienhaus an der Via Vitg Dadens, das frisch renoviert aussieht – und verlassen. Die braunen Rollläden vor den Fenstern sind heruntergelassen. Keine Fahrzeuge, kein Werkzeug, keine Blumentöpfe stehen vor dem Haus. Es ist eines der gravierendsten Probleme im neuen Gesetz: Alle Wohnungen, die bereits vor 2012 existierten, gelten als «altrechtlich» und unterliegen somit nicht den neuen Auflagen. Das bedeutet, dass diese Häuser zu hohen Preisen als Ferienwohnungen vermietet oder an die oder den Meistbietende:n verkauft werden können. Es ist bei weitem nicht das einzige Gebäude mit geschlossenen Rollläden an der Via Vitg Dadens, an der auch Flurin Bundis Elternhaus liegt.

Bundi, ausgebildeter Primarlehrer und aktuell in erster Linie Vater, wohnt, wie seine drei Brüder, nicht mehr in Sagogn. Trotzdem wollen die Söhne gemeinsam mit Vater Martin Bundi, der schon heute in einer der Wohnungen der Casa Encarden lebt, mit der Genossenschaft ein Zeichen setzen. «Hier entstehen keine Zweitwohnungen!» lautet der Slogan ihres Projekts. Und um das Thema Zweitwohnungen sowie um die aktuelle Wohnungsnot geht es auch an diesem Nachmittag an einem von den Bundis organisierten Workshop in der Aula des Schulhauses, bei dem Leute aus dem Dorf und potenzielle Genossenschafter:innen, insgesamt etwa vierzig Leute, zusammenkommen. Dabei wird auch über die alten Ställe im Dorf diskutiert.

Immer noch in der Via Vitg Dadens, Flurin Bundi bleibt vor einem eingerüsteten Stall stehen, der sich gerade im Umbau befindet. Dass hier kein günstiger Wohnraum für Menschen mit durchschnittlichem Einkommen entsteht, wird bei einem Blick auf die Visualisierungen auf der Website klar, wo das Architekturbüro von Mann den Ausbau des ortsbildprägenden Gebäudes bewirbt: Vom Stall bleiben die alten Rundhölzer und Balken, drinnen herrscht minimalistischer Luxus mit Blick auf Obstbäume und Berge. Auch dieser Umbau ist gesetzeskonform, denn ein Artikel erlaubt unter einigen Auflagen explizit den Bau von Zweitwohnungen in «geschützten oder ortsbildprägenden Bauten», auch wenn die Gemeinde bereits einen Zweitwohnungsanteil von über zwanzig Prozent aufweist. Theater, Ausstellungsraum, Ladenlokal – den Workshopteilnehmer:innen fällt einiges ein, was man mit den alten Ställen im Dorf sonst so anstellen könnte. Der Unmut in der Gemeinde über luxuriöse Zweitwohnungsprojekte sei gross gewesen, weshalb aktuell keine solchen bewilligt würden, erklärt der Sagogner Bauvorsteher Raphael Egli, der an diesem Nachmittag im Schulhaus mitdiskutiert – allerdings «privat», wie der Zimmermann und Familienvater betont, der seit 2019 in der Gemeinde wohnt.

In Luxuswohnungen umgewandelt

«Wir führen gerade eine Ortsplanungsrevision durch», sagt Egli, der seit anderthalb Jahren Mitglied der Gemeindeexekutive ist. Der revidierte Entwurf wurde von einer Kommission, bestehend aus Leuten aus dem Dorf, ausgearbeitet. «Wir waren uns ziemlich schnell darüber einig, dass im Umgang mit den Ställen strengere Vorschriften gelten müssen», sagt Egli. Tatsächlich sind die Gemeinden, genau wie der Kanton, befugt, Massnahmen zu ergreifen, um unerwünschte Entwicklungen zu verhindern, die sich aus dem Gesetz ergeben. Sagogn ist nicht die einzige Gemeinde, die diesen Spielraum nutzt.

Für einiges Aufsehen sorgte letzten Sommer etwa ein Fall im engadinischen Celerina. Wie SRF und «Engadiner Post» aufdeckten, wollte dort eine Zuger Immobilienfirma 22 Erstwohnungen in 14 Luxusferienwohnungen umbauen. Dies, während im Engadin eine besonders gravierende Wohnungsnot herrscht. Als Reaktion auf den öffentlichen Aufschrei stoppte die Gemeinde das Projekt. Fest steht, dass die Nachfrage sowohl nach Erst- als auch nach Zweitwohnungen hoch ist. Wie sich aber der Anteil an Zweitwohnungen konkret verändert hat, lässt sich schwer in Zahlen messen. Da die Gemeinden ihre Wohnungsbestände unterschiedlich detailliert erfassen können, ist die Entwicklung der Zweitwohnungsanteile über die Jahre und zwischen den Gemeinden nur bedingt vergleichbar.

Dass die Nachfrage nach Erstwohnungen in den gut erschlossenen und touristischen Gebieten in Graubünden gestiegen ist, hängt auch mit der Pandemie zusammen. «Da Arbeitgebende seit Corona vermehrt auch Homeoffice zulassen, gibt es zunehmend ausgebildete Leute, die in ihre Heimatdörfer zurückziehen möchten», erklärt Christine Seidler, Professorin am Institut für alpines Bauen an der Fachhochschule Graubünden, die den Workshop im Schulhaus leitet. «Sie finden aber keine bezahlbaren Wohnungen.» Seidler begleitet mit ihrem Team das Genossenschaftsprojekt der Bundis im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Raumentwicklung in der Schweiz.

Darüber, wie man den Problemen begegnen kann, gehen die Meinungen, wenig überraschend, auseinander. Für Bürgerliche und Interessenvertretungen wie die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete liegt im Gesetz selbst die Ursache der Probleme. Mithilfe einer Revision, die derzeit in der Vernehmlassung ist, wollen sie die Initiative zusätzlich verwässern. Für die frühere Nationalrätin Silva Semadeni hingegen ist klar: Nicht die Zweitwohnungsinitiative ist das Problem, sondern ihre Umsetzung. «Wenn man die Initiative sinnvoll angewendet hätte, so wie sie gedacht war, dann hätte es in den touristischen Gemeinden mit einem Anteil von mehr als zwanzig Prozent keine zusätzlichen Zweitwohnungen gegeben.» Während weder Linke noch Rechte mit dem Gesetz so richtig zufrieden sind, findet immerhin der Bundesrat, es sei «wirksam und zeitgemäss». Zu diesem Schluss kam er nach der Sichtung einer Wirkungsanalyse des Bundesamts für Raumentwicklung, die die bisherige Umsetzung des Gesetzes untersucht hatte und 2021 veröffentlicht worden war. Handlungsbedarf sieht der Bundesrat aber unter anderem im Bereich des Vollzugs – und dieser liegt zu einem grossen Teil in der Kompetenz der Gemeinden.

Reiche Unterländer:innen zahlen gut

Der Sagogner Bauvorsteher Raphael Egli findet, Bund und Kantone würden es sich zu einfach machen, wenn sie die gesamte Verantwortung auf die Gemeinden schöben. Denn diesen fehlten die nötigen Ressourcen für genaue Kontrollen der Nutzung der Wohnungen. Und Egli spricht ein weiteres Thema an, nämlich die Rolle der Eigentümer:innen im Dorf. Sie sind diejenigen, die altrechtliche Wohnungen und Ställe an reiche Unterländer:innen verkaufen.

Der Meinung, dass im Zweifelsfall die meisten ihr Haus an die Meistbietenden verkaufen würden, scheinen an den kleinen Tischen in der Schulhausaula viele zu sein – auch wenn ihnen die Folge davon, ein nur halblebendiges Dorf, nicht gefällt. «Wenn ich die Wahl habe, ob ich mein Haus für eine halbe Million an einen Einheimischen oder für anderthalb an einen reichen Unterländer verkaufe, dann ist der Fall ja klar, oder?», meint etwa ein junger Mann aus einer Nachbargemeinde. Dass man sich als Eigentümer durchaus anders entscheiden kann, macht die Familie Bundi vor. Ihr Projekt ist eine der kürzlich entstandenen Initiativen im Kanton, die der aktuellen Entwicklung etwas entgegensetzen. Darunter sind Genossenschaften, von denen einige explizit bezahlbaren Wohnraum schaffen wollen wie etwa Pfruondhus Tenna, aber auch vereinzelte politische Bewegungen wie der Verein Anna Florin, der Gemeinden dabei unterstützen will, «dem Druck des Zweitwohnungs-Immobilienmarkts entgegenzuwirken».

Der Workshop neigt sich dem Ende zu. Eine Person fasst zusammen, wie absurd es doch sei, dass Wohnungsnot herrsche, während gleichzeitig so viel Wohnraum fast das ganze Jahr über leer stehe. «Vielleicht müsste man auch mal über Enteignungen sprechen», wirft Flurin Bundi ein und erzählt von Berlin, wo sich 2021 eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Initiative aussprach, die die Enteignung grosser Immobilienunternehmen forderte und damit eine breite gesellschaftliche Diskussion angestossen hatte. Ein paar Leute lachen, wirklich ernst zu nehmen scheint die Aussage niemand. Es sind mit Sicherheit die revolutionärsten Töne, die an diesem Nachmittag im Schulhaus zu hören sind. Doch auch wenn man von Enteignungen in Sagogn noch weit entfernt ist: Das Dorf ist dabei, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.