Auf allen Kanälen: Unter Belagerung

Nr. 10 –

Wenn authentischen Bildern nicht mehr geglaubt wird: Mit seinem Dokumentarfilm «20 Tage in Mariupol» ist der ukrainische Journalist Mstyslaw Tschernow für den Oscar nominiert.

stilisiertes Foto eines Baumes

Wo die Stadt Mariupol liegt, wissen mittlerweile selbst Menschen, die das nie hatten wissen wollen. Die Belagerung der ukrainischen Stadt am Asowschen Meer, der Kampf um ihre Stahlwerke und schliesslich die Einnahme Mariupols durch russische Truppen am 20. Mai 2022: Das alles waren dramatische Höhepunkte in den Nachrichten der ersten Monate dieses unseligen Kriegs.

Am Filmfestival in Cannes in jenem Jahr wurde schon der erste Dokumentarfilm zum Krieg aufgeführt. «Mariupolis 2» von Mantas Kvedaravičius zeigte Bilder der Zerstörung und des Terrors gegen die Zivilbevölkerung, doch besonders virulent war der Film auch deshalb, weil der litauische Regisseur während seiner Dreharbeiten am 30. März 2022 von russischen Soldaten gefangen genommen und erschossen worden war. «Mariupolis 2» war denn auch weniger ein Film im eigentlichen Sinn als eine ungeheuer bedrückende Montage des Rohmaterials, das Kvedaravičius vor allem in einer Kirche gedreht hatte, wo eine Handvoll Menschen inmitten der Angriffe verzweifelt ausharrten.

Wie Kvedaravičius hat auch der ukrainische Journalist Mstyslaw Tschernow in jenen ersten Tagen nach dem Beginn der von Wladimir Putin so genannten «Spezialoperation» in Mariupol gedreht. Anders als Kvedaravičius aber schaffte er es noch vor dem Fall, aus der Stadt zu kommen. Wie ihm das gelang, oder eher: welche glücklichen Umstände dazu führten, dass es ihm gelang, erzählt er eher beiläufig und aus dem Off am Ende seines nun für einen Oscar nominierten Dokumentarfilms «20 Tage in Mariupol».

Von Truppen umstellt

Der Vergleich zu Kvedaravičius’ Film ist natürlich ungerecht, denn Tschernow konnte sein Material noch schneiden und zu einer Erzählung formen, die für das steht, was ihm wichtig ist. Fast unmerklich erreicht er dabei, die reflexhafte Abwehr derer zu überwinden, die einen Film über den aktuellen Kriegshorror lieber gar nicht sehen wollen.

Die erste Szene folgt noch dem Kalkül eines Thrillers: Aus dem Fenster eines oberen Stockwerks beobachtet die Kamera einen mit «Z» gekennzeichneten Panzer unten auf der Strasse. Der Offkommentar erläutert lakonisch die Situation: Tschernow und sein Team filmen in einem Krankenhaus, das nun von russischen Truppen umstellt ist. Und dann geht der Film zurück zu Tag eins, dem ersten Kriegstag.

In den Schutzkellern

Fortan hat der Film keine Kniffe mehr nötig. Tschernows Kamera fängt die Konfusion der Menschen ein: geschockte Frauen, die nicht wissen, wo sie sich in Sicherheit begeben können; weinende Kinder, die die Panik ihrer Eltern spüren und selbst verzweifeln. Es geht alles ziemlich an die Nieren. Tschernow und seine Leute wechseln häufig den Ort. Sie filmen die Unsicherheit in den Schutzkellern und immer wieder in Krankenhäusern, wo Ärzte versuchen, Kinder zu retten, denen beim Fussballspiel ein Geschoss die Beine abriss. Das Leid ist unmittelbar und sehr individuell. Eine ältere Frau versucht vergeblich, die Plünderung ihres kleinen Supermarkts zu verhindern. Ein Mann zieht einen Leiterwagen mit seinen letzten Habseligkeiten durch die Stadt: Seine Wohnung sei weg, es gebe sie nicht mehr. Immer wieder beschwören Menschen, «dass das einfach alles aufhört». Sie wollten doch nur in ihrem Land, der Ukraine, leben. Andere packt eine Art stoischer Abgebrühtheit: «So ist es nun.» Wieder andere fordern Tschernow auf, zu filmen, festzuhalten, was die russischen Truppen hier tun, während Putin behauptet, der Zivilbevölkerung keinen Schaden zufügen zu wollen.

«20 Tage in Mariupol» ist kein Horrorfilm, der es aufs Erschrecken abgesehen hat. Im Gegenteil, Tschernow will sachlich bleiben. Das Ziel seines Films ist es, uns zu Zeug:innen zu machen. Als eine Lektion dieses Kriegs erweist sich, dass in Zeiten von Fake News weniger die Fälschungen zum Problem werden, sondern die Tatsache, dass authentischen Bildern nicht mehr geglaubt wird. Eine der bekanntesten Aufnahmen von Tschernow ist die der zerbombten Geburtsstation, von der der russische Aussenminister Sergei Lawrow später höchstpersönlich verkündet, es handle sich um gestellte Szenen mit Schauspieler:innen.

«20 Tage in Mariupol» ist noch bis am 23. März 2024 auf www.srf.ch zu sehen. Die Academy Awards werden in der Nacht auf den 11. März 2024 verliehen.