Durch den Monat mit Mareice Kaiser (Teil 1): Warum hassen Sie Geld?

Nr. 10 –

Die deutsche Autorin Mareice Kaiser stammt aus einer Arbeiter:innenfamilie. In ihrem Buch fragte sie Menschen nach ihren Gefühlen zu Geld.

Portraitfoto von Mareice Kaiser
«Ich hasse nicht mehr das Geld, sondern seine ungerechte Verteilung»: Mareice Kaiser.
 
Foto: Jana Rodenbusch

WOZ: Frau Kaiser, am Sonntag nahm die Schweiz eine Vorlage für eine 13. Altersrente an. In den Wochen davor las man in vielen Zeitungen Porträts von Menschen, die mit wenig Geld im Alter auskommen müssen. Das war ungewohnt – in der Schweiz gibt es kaum einen öffentlichen Diskurs über Geld. Erst recht nicht darüber, keins zu haben. Wieso?

Mareice Kaiser: Es gibt wenig armutsbetroffene Menschen, die auf Redaktionen arbeiten. Oder die diese Erfahrung als Kinder oder Jugendliche gemacht haben. Journalist:innen, die ja neugierig auf andere Lebensrealitäten sein sollten, interessieren sich vor allem für Menschen, die sich in ähnlichen Situationen befinden wie sie. Wenn dich eine tiefe Rente selbst betrifft, dann liegt es nahe, dass du dich damit beschäftigst. Wenn an einer Redaktionskonferenz niemand armutsbetroffen ist, dann werden entsprechende Themen auch viel weniger verhandelt. Ein weiterer Grund ist natürlich Scham. Menschen schämen sich dafür, wenig Geld zu haben.

Für die Porträts von Armutsbetroffenen in der WOZ haben wir lange nach Menschen gesucht. Die meisten wollten nicht mit Namen und Bild hinstehen – zu unwohl war es ihnen beim Gedanken, als «arm» abgestempelt zu werden.

Das ist ja das Perfide am Kapitalismus: dass so getan wird, als wären Menschen persönlich schuld daran, wenig Geld zu haben. Wir werden alle mit der Idee sozialisiert, dass, wenn wir uns nur doll anstrengen, es schon klappen wird mit dem Geld. Das bedeutet dann auch: Diejenigen, die kein Geld haben, haben sich nicht genug angestrengt. Was Quatsch ist, denn oftmals arbeiten armutsbetroffene Menschen sehr, sehr viel. Hinzu kommt: Wenig Geld zu haben, macht klein. Es sorgt dafür, dass sich Menschen zurückziehen. Depressionen resultieren oft aus Armut. Wenn ich mich mit solchen Problemen herumschlage, rufe ich nicht auf einer Redaktion an und sage: «Hey, berichtet doch von meinem Leben.»

Sie stammen aus einer Arbeiter:innenfamilie. Wann wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass Sie wenig Geld haben?

Als ich vielleicht zwölf war, waren Benetton-Pullover in. So einen wollte ich unbedingt haben, meine Eltern konnten und wollten mir aber keinen kaufen. Ich weiss nicht, ob Sie die Pullis kennen?

So sportliche Pullover mit einem Logo, ja. Bei mir waren es die Chiemsee-Pullover, die konnten wir uns auch nicht leisten.

Hatten Sie irgendwann einen?

Eine Freundin schenkte mir ihren, den trug ich sehr stolz.

Mir kaufte die wohlhabende Mutter einer Freundin den Pullover. Als ich den für die Schule anzog, sagte mein Lehrer: «Oh, Mareice trägt jetzt auch Markenklamotten.» Das war mir total peinlich. Ich wollte auch unbedingt Klavier spielen, wir hatten aber nur Geld für eine gebrauchte Orgel. Dann musste es halt die Orgel sein. Ich merkte sehr stark: Was für andere selbstverständlich ist, ist es für uns nicht.

In Ihrem Buch fragen Sie Menschen nach ihren Gefühlen zu Geld. Am bezeichnendsten finde ich die Antwort der Millionenerbin Marlene Engelhorn, die reichste Person, die Sie interviewen. Sie sagt, sie fühle in Bezug zu Geld: nichts.

Ja, das fand ich auch krass. Aber ich nehme es ihr nicht ganz ab.

Ist Geld eher egal, wenn man reich ist?

Es ist selbstverständlicher. Es ist einfach da. Und damit alles, was dazugehört: eine gute Ausbildung, gesundes Essen, Mobilität, Reisen, Talentförderung, vielleicht ein Klavier. Geld macht Möglichkeiten.

In der Einleitung Ihres Buches schreiben Sie: «Ich hasse Geld. Und ich will es haben.» Am Ende ist Ihr Hass verflogen. Was ist passiert?

Während der Recherche habe ich gemerkt, dass nicht Geld das Problem ist, sondern wie wir es verteilen und wie wir damit umgehen. Dass Geld nicht nur Geld ist, sondern auch für unseren Wert steht, oft sogar für unseren Selbstwert. Dabei können wir selbst sehr wenig dafür, ob wir in eine reiche Familie geboren werden oder nicht. Jetzt hasse ich nicht mehr das Geld, sondern die ungerechte Verteilung von Geld.

Sie sprechen davon, dass man seine Privilegien nutzen solle, um Geld gerechter zu verteilen. Wie könnte das aussehen?

Nehmen Sie Ihre Arbeitgeberin. Sie haben bei der WOZ einen Einheitslohn, ja? Jetzt könnten Sie zum Beispiel darüber nachdenken, ob der gerecht ist. Auf den ersten Blick: ja. Aber auf den zweiten Blick? Ist es gerecht, dass alle, unabhängig von ihrer Lebenssituation, dasselbe verdienen? Dass hypothetisch eine alleinerziehende Mutter, die ein Kind mit Behinderung betreut, gleich viel bekommt wie ein Mann, dessen Ehefrau zu Hause die gesamte Care- und Haushaltsarbeit übernimmt? Ich glaube nicht. Solidarität heisst schauen, wer was braucht, um in Würde zu leben. Nicht nur für sich zu schauen, sondern auch nach links und rechts. Auch wenn es bedeutet, dass einige Menschen gewisse Privilegien dafür aufgeben müssen. Das wären dann die, die mehr als genug davon haben.

Nach dem Kommentar ihres Lehrers trug Mareice Kaiser (43) den grünen Benetton-Pulli nie wieder. Aber sie dachte immer wieder über Geld nach, zuletzt in ihrem Buch «Wie viel. Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht» (Rowohlt, 2022).