Netflix-Tricksereien: New Jersey liegt in Polen
Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem US-Bestsellerautor wirft ein Schlaglicht darauf, wie der Streamingdienst Netflix «Originalproduktionen» in lokalen Märkten angeht.

Wer kennt Harlan Coben? Vermutlich kaum jemand – ausserhalb der Szene eingefleischter Krimifans. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass viele bereits einmal mit einem Produkt von Coben in Kontakt gekommen sind. Zumindest wenn sie einen Netflix-Account besitzen. Oder einen bei Sky. Oder bei Amazon Prime.
2018 hat der US-Autor einen spektakulären Vertrag mit Netflix unterzeichnet: Die weltweit grösste Film- und Serienplattform erwarb die Rechte an vierzehn bereits veröffentlichten Kriminalromanen von Harlan Coben. Seither wurden acht von ihnen als Netflix-Serien aufbereitet; der ursprünglich auf fünf Jahre angelegte Vertrag wurde 2022 frühzeitig verlängert. Die jüngste Verfilmung trägt den deutschen Titel «In ewiger Schuld», nach Cobens Roman «Fool Me Once». Der Achtteiler führte Anfang 2024 in vielen Ländern wochenlang die Netflix-Charts an, auch in der Schweiz; wobei die Veröffentlichung am 1. Januar sicher einen entscheidenden Startanschub gab.
Action als Ablenkung
«In ewiger Schuld» enthält zahlreiche Komponenten, die sich durch fast alle Werke des Bestsellerautors mit weltweit über achtzig Millionen verkauften Büchern ziehen: ein grosses, dunkles Geheimnis, das einen stabilen Spannungsbogen über alle acht Folgen schlägt; dazu viele kleinere Twists, alte Todesfälle, die neu aufgerollt werden, hochemotionale Familiendynamiken – und einen zentralen Plot, der sich um Überwachungstechniken dreht. Die ganze halsbrecherische Action lenkt gut von logischen Unebenheiten ab, die man erkennen könnte, wenn man nach dem Finale weiter über das Gesehene nachdenken würde. Macht aber wohl kaum jemand.
Cobens Schauplätze sind New York und der Nachbarstaat New Jersey, wo er selbst aufgewachsen ist und bis heute mit seiner Familie lebt. Doch da Netflix «In ewiger Schuld» als britische Serie vermarktet, hat man die Geschichte in eine fiktive britische Stadt umgesiedelt. Die Hauptfigur ist eine kriegstraumatisierte Veteranin der britischen Armee aus der Mittelklasse, ihr rätselhaft zu Tode gekommener Gatte der Spross einer schwerreichen Landadelsfamilie mitsamt weitläufigem Herrenhaus im Grünen: «In ewiger Schuld» thematisiert offensiv das britische Klassensystem. Die junge Hauptdarstellerin ist eine bekannte britische Soap-Grösse, auch ihr Mann wird von einheimischer TV-Prominenz gespielt. Seine Mutter wiederum wird verkörpert von Joanna Lumley, die in Grossbritannien Kultstatus geniesst als eine Hälfte des weiblichen Comedyduos aus der legendären Sitcom «Absolutely Fabulous».
Wer bei Netflix die «Harlan Coben Collection»-Kachel anklickt, erkennt bald, dass diese britische Einbürgerung eines amerikanischen Stoffes längst nicht die einzige ist. Es gibt Coben-«Originalserien» aus Spanien und Frankreich, drei weitere aus Grossbritannien, zwei aus Polen. Die «serial originalny» mit dem Titel «W głębi lasu» (deutsch: «Das Grab im Wald»), eine Adaption von Cobens Roman «The Woods», war die zweite polnische Netflix-Serie überhaupt. Der US-Streamingdienst ist seit 2016 in Polen aktiv und dominiert heute den dortigen Streamingmarkt. Die erste polnische Eigenproduktion war «1983», eine düstere, an Orwells dystopischen Roman angelehnte Serie, die Ende 2018 herauskam und an der vier bekannte polnische Regisseurinnen beteiligt waren, unter ihnen Agnieszka Holland.
Echt polnisch aus New Jersey
Zwei Jahre später erschien «Das Grab im Wald» – und wurde von der renommierten deutschen Zeitschrift «epd Film» prompt im Sammelartikel «Der aktuelle polnische Film» gelobt: «Das Grab im Wald» komme zwar «als Crime-Serie» daher, verrate aber viel über Polens «Wunden aus der unbewältigten Vergangenheit»; «Themen wie Postkommunismus und Antisemitismus» würden «originell und treffend thematisiert». Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass auch «The Woods» ursprünglich in New Jersey spielt.
Das ist alles auch deshalb aufschlussreich, weil es nicht nur um populäre Fiktionen, sondern auch um viel Geld geht. Wie in anderen Ländern sind Streamingdienste in Polen per Gesetz dazu verpflichtet, 1,5 Prozent des im Land erwirtschafteten Umsatzes ins einheimische Filmschaffen zu investieren – in Polen ist das als Abgabe an das Polnische Filminstitut geregelt. Gleichzeitig profitiert das Medienunternehmen von substanziellen Steuererleichterungen. 2022 hat Netflix in Warschau Büros eingerichtet «für Produktionen in Zentral- und Osteuropa», 2023 zusätzlich einen «engineering hub» für technische Auftragsarbeiten; auch viele englischsprachige Serien werden dort gedreht. Netflix spricht von 2600 Stellen, die man in Polen geschaffen habe, was sich allerdings kaum überprüfen lässt.

Eine der Investitionen war «Das Grab im Wald». Stofflieferant Coben ist als Produzent beteiligt, das Drehbuch haben polnische Autor:innen geschrieben. Überhaupt ist alles an der Serie polnisch – Regisseure, Kostümbildnerin, Schauplätze, Schauspieler:innen. Nur nicht Idee und Plot. Das war schon beim ersten «Original» so: Buch und Idee zu «1983» stammen von einem gewissen Joshua Long. Netflix kürzt also den aufwendigen und unberechenbaren Prozess, geeignete lokale Serienstoffe zu finden, zuweilen forsch ab. Bereits erprobte Bestsellerplots vom Krimifliessband in New Jersey sind schliesslich ausreichend vorhanden, man muss nur noch einen auswählen.
Cobens Krimis eignen sich auch deshalb perfekt für solche Übernahmen, weil ihnen alles fehlt, was gelungene Kriminalromane auch jenseits ihres Potenzials, Spannung zu erzeugen, attraktiv macht: Lokalkolorit, charismatisches Personal, philosophische Tiefe, ein unverkennbarer Stil. Dieser Mangel wird für die Adaptionen zur Tugend. Man kann Cobens Plots problemlos in andere Umgebungen und Sprachen umtopfen und mit kritischen Tönen zu Justiz und Medien im damals rechtsnational regierten Polen ergänzen oder mit Seitenblicken auf Rassismus und Bandenkriminalität in Frankreich. Diese lokalen Übersetzungen sind oft besser als die Originale, was Coben in Interviews sogar selber zugibt. Es scheint ihm auch nichts auszumachen, wenn seine Geschichten für den Bildschirm umgeschrieben werden.
Der Roman als Setzbaukasten
Cobens Fiktionen sind selten Thema in den Feuilletons. Man muss die neuste Coben-Serie nicht gesehen haben, um mitreden zu können. Aber diese Serien sind mit Cliffhangern und geschickter Geheimnisbewirtschaftung so konstruiert, dass man nicht aufhören kann weiterzuschauen. So wie auch bei der Netflix-App der «Beenden»-Link gut versteckt ist. Überhaupt funktioniert die Ein-Mann-Krimifabrik Coben nach ähnlichen Regeln wie die globale Unterhaltungsfirma. Seine Technik, Krimis aus stets ähnlichen Effekten, Spannungsbausteinen und Plotversatzstücken zusammenzubauen, gleicht den Algorithmen des Streamingdiensts, die künftige Erfolge aufgrund vergangener Erfolge berechnen, weshalb man uns ständig neu verpackte Variationen des Immergleichen vorsetzt.
Das System Coben läuft weiter wie geschmiert. Aus den Engagements bei Amazon und Sky sind bislang zwar keine weiteren Serien entstanden. Dafür legte Cobens Tochter Charlotte kürzlich ihren ersten Amazon-Sechsteiler vor. Das Handwerk hat sie als Drehbuchmitarbeiterin bei den englischen Serien ihres Vaters gelernt. Von Harlan Coben selbst erscheint im Mai der neue Roman «Think Twice», es ist insgesamt sein 36. «Think Twice» ist Teil einer Reihe mit dem Ermittler Myron Bolitar. Netflix soll Interesse signalisiert haben, auch diese Bolitar-Reihe als Serie zu lancieren. Es könnte die erste Coben-Verfilmung werden, die auf US-Boden spielt.