Psychische Gesundheit: «Das sind Menschen, keine Diagnosen!»
Salome Balasso begleitet in Bern psychisch erkrankte Menschen. Als jemand, die selbst einmal betroffen war, weiss sie: Dass die Universitären Psychiatrischen Dienste jetzt Angebote wie das Freizeitzentrum Metro schliessen, wird gravierende Folgen haben.

Als Salome Balasso mit achtzehn Jahren die Diagnose bekam, fühlte sie sich erleichtert. Jahrelang hatte sie immer wieder zu spüren bekommen, dass sie nicht wie diejenigen ist, deren Leben entlang jener Geleise verlaufen, für die die Gesellschaft ein mächtiges Wort hat: normal. Balassos Leben scherte immer wieder aus, brachte sie an ihre Grenzen und darüber hinaus.
Der Name der Diagnose war seltsam kongruent mit diesem Zustand: «Borderline-Persönlichkeitsstörung» stand nun in ihrer Akte. Das Wort gab ihr Gewissheit, dass der Grund für vieles in ihrem Leben eine Erkrankung war. Sie war nicht schlecht oder dumm oder böse. Sondern krank.
Ein immenser Stellenwert
Balasso wuchs im Berner Quartier Bethlehem in einem Elternhaus auf, das von psychischen Erkrankungen gezeichnet war. Sie war ein sensibles Kind, die Aussenwelt setzte ihr zu, mehr als anderen. In der Pubertät fügte sie sich Verletzungen zu, hinzu kamen Suizidgedanken. Mehr als einmal landete sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Die Borderline-Diagnose öffnete Türen zu Therapien, die auf Balassos Erkrankung zugeschnitten waren – aber zur Erleichterung gesellte sich bald ein anderes Gefühl. «Es ist schwierig zu erklären», sagt sie heute bei einem Chai in der Berner Innenstadt. «Als wäre ich damals nur noch meine Diagnose gewesen.»
Sechzehn Jahre ist es her, seit die heute 34-Jährige Balasso einen Namen für die Erkrankung bekam. So verstanden sie sich danach mit der Diagnose fühlte, so sehr sehnte sie sich nach einem Umfeld, das sie nicht nur als Kranke sah. «Deshalb kann ich es ja auch nicht fassen, dass sie jetzt ausgerechnet das Metro schliessen.»
«Sie», das sind die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD). Im Januar gab die Psychiatrieleitung bekannt, dass aus wirtschaftlichen Gründen wichtige Zusatzangebote gestrichen werden müssen (siehe WOZ Nr. 6/24), darunter das Freizeitzentrum Metro auf dem Gelände der UPD, das Patient:innen und Angehörigen einen Ausgleich zum Therapiealltag bietet. Man habe Finanzierungsanträge für derartige Angebote an den Regierungsrat gestellt, alle seien abgelehnt worden.
Für die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI) war indes klar: Geld für eine angemessene Versorgung ist genug da. Man unterstütze die ambulante Versorgung seit Jahren, wie und wofür das zur Verfügung gestellte Geld eingesetzt werde, müssten die Institutionen selbst entscheiden.
Unverständnis bei den Betroffenen
Dass für Erkrankte zentrale Angebote wie das Freizeitzentrum (per Ende März) oder die Holzwerkstatt (per Anfang Februar) geschlossen werden, stösst bei Betroffenen auf Unverständnis. «Das Metro hat einen immens hohen Stellenwert», sagt eine involvierte Person, die lieber anonym bleiben möchte. «Es dient zur Entlastung der Stationen und der Betroffenen.» Nun wirke es fast so, als hätten die UPD absichtlich dort angesetzt, um einen Aufschrei zu provozieren, damit der Kanton unter Druck gerate. «Sie tragen ihren Sparkampf mit dem Kanton auf dem Rücken der Erkrankten aus.»
Zu diesen Vermutungen kann sich Balasso nicht äussern, sie ist selbst als freie Referentin bei den UPD tätig. Aber sie weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig das Metro für Betroffene ist, und findet es seltsam, dass ausgerechnet dort gespart werden soll. Vor sechzehn Jahren war sie selbst häufig Gästin, spielte Lotto und machte Ausflüge mit.
Das Freizeitzentrum im Untergeschoss der Klinik ist für alle geöffnet: Menschen, die ambulante oder stationäre Hilfe in Anspruch nehmen, aber auch ehemalige Betroffene, die wieder zurückkommen, weil sie Gesellschaft suchen. «Im Metro nahm man dich, wie du bist», sagt Balasso. «Du konntest auch einfach irgendwo still sitzen und einen Tee trinken.» Es brauchte keine Erklärungen. Und trotzdem hätten alle gewusst, was das Setting sei. Ein kleiner, freier Raum in einem grossen klinischen Haus.
Balasso nimmt einen Schluck Chai. Sie sei sich nicht sicher, fährt sie fort, ob allen Verantwortlichen wirklich klar sei, was so eine Entscheidung für längerfristige Konsequenzen nach sich ziehe. «Psychische Erkrankungen sind immer noch sehr stigmatisiert. Wenn es keine Räume mehr gibt, in denen Betroffene sich sicher fühlen, dann trauen sie sich womöglich gar nicht mehr hinaus.» Und wer nicht mehr hinausgehe, werde unsichtbar. Für die Gesellschaft, für sich selbst. Balasso sagt, sie kenne Menschen, die jahrelang fast jeden Abend im Metro verbracht hätten.
Nachdem sie ihre Diagnose bekommen hatte, fing Salome Balasso an, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Sie interessierte sich für den Peer-Ansatz – dass ehemals Betroffene anderen Betroffenen eine Vertrauensperson sein können, die zwischen ihnen und den klinischen Fachpersonen vermittelt. 2014 meldete sie sich selbst für die Peer-Ausbildung an. Die Plätze waren beliebt, aber Balasso kam rein, als Jüngste aller Teilnehmer:innen. Nach anderthalb Jahren war sie offiziell Genesungsbegleiterin für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Spezialistin mit Grenzen
Seither besucht Balasso Schulklassen, hält Referate und doziert zu Themen wie Traumafolgestörungen, Borderline, Schlafparalyse oder selbstschädigendes Verhalten, macht ambulante Einzelbegleitungen, arbeitet in verschiedenen Psychiatrien und führt zusammen mit einem anderen Peer eine ambulante Emotionsregulationsgruppe und mit einer Psychologin das Mental Health Café in Bern. Sie klärt ausserdem auf Instagram (@salome_skillskiste) über Mental Health auf. Es ist nicht immer einfach, besonders wenn sie dabei an eigene Grenzen stösst. «Ich musste lernen, mit meiner Energie umzugehen. Das mag banal klingen, aber ich brauchte mehrere Durchgänge, bis ich merkte, wann ich jeweils eine Pause brauche.»
Die Arbeit gibt ihr Struktur und den Lebenssinn zurück, den sie viele Jahre verloren glaubte. Das schönste Kompliment erhielt sie von einer Klientin: «Es gibt mir Hoffnung, in dir zu sehen, dass es Hoffnung gibt.» Balasso trinkt den letzten Schluck. «Dass ich für andere Menschen eine Hoffnungsträgerin sein kann, macht mich besonders glücklich.»
Auch Menschen können sichere Orte sein. Angebote wie das Metro ersetzen sie trotzdem nicht. «Ich sorge mich ernsthaft um die Personen, denen das Metro in den UPD eine Heimat war. Das sind Menschen, nicht nur Diagnosen. Wo sollen sie jetzt hin?» Die Antwort sei so traurig wie evident, sagt Balasso: hinauf in die oberen Stockwerke, in die stationären Abteilungen.
Am 16. März 2024 findet auf dem Rathausplatz in Bern eine Demonstration der Basisgewerkschaft FAU gegen die Sparmassnahmen der UPD statt. Besammlung ist um 14 Uhr. Salome Balasso wird auch vor Ort sein.