Milena Krstić: «I wett mi nie meh schäme»

Nr. 12 –

Milena Krstić macht als Milena Patagônia mehrsprachigen R ’n’ B und erfindet sich immer wieder neu. Auch in einem Film.

Portraitfoto der Musikerin Milena Krstić
Um Abhängigkeiten und Machtpositionen im Musikgeschäft umgehen zu können, brauche man eine eigenständige Fanbasis, sagt Milena Krstić.

«Will man ein ehrliches Porträt über mich?», fragt Milena Krstić in «Kapi padaju po betonu – Tropfen fallen auf Beton». Und antwortet gleich selbst: «Nein, eigentlich ja nicht.» Damit bestimmt sie die Ausgangslage in ihrem autofiktionalen Dokumentarfilmdebüt, in dem ihr Alter Ego Milena Patagônia in der Heimat der Eltern mit serbokroatisch-berndeutschen Songs berühmt werden will. Das unterhaltsame Konglomerat aus Musikvideo, Lo-Fi-Bildmaterial und Spurensuche hat Krstić gemeinsam mit dem Musiker und Produzenten Markus Mezenen realisiert.

Der perfekte Balkanhit

In den Songs im Musikfilm sowie auf der dazu erschienenen «Kapi EP» wechselt Patagônia inmitten der Zeilen die Sprache und vermengt sie. In «Evo Me», einem tanzbaren Techtelmechtel mit Belgrad, etwa so: «Evo me / neznam još / tražim, lutam, skitam / finde gli / was ig bi dir am Sueche bi / a ko si ti / reci mi / reci mi.» In «Luda» kommen Spoken Word und Gesang zusammen, «ds Ergäbnis vore Forschig» und «dr Sud vo mim Angstschweiss». Dazu erklingen anfangs zögerliche R-’n’-B-Rhythmen, die immer drängender werden. «Atom» wiederum ist düsterer: eine verträumte Stimme auf schweren, schleppenden Clubbeats, Patagônia singt vom Auseinanderfallen und Zusammenfügen.

Vier Monate verbrachten Milena Krstić und Markus Mezenen in Belgrad, wo Milena Patagônia mit «Evo Me», dem Song, der wie ein Balkanhit klingt, über Nacht zum Star wurde. Zumindest im Film.

Ein halbes Jahr nach dem gefakten Erfolg auf der Kinoleinwand sitzt Krstić in einem Café im Berner Lorrainequartier. Gerade ist sie viel mit Cruise Ship Misery unterwegs: Die Spoken-Pop-Combo, die Krstić gemeinsam mit der Autorin und Multimediakünstlerin Sarah Elena Müller und seit neustem dem Schlagzeuger Johannes Werner betreibt, hat ihre zweite Platte «Brutto Inland Netto Super Clean» getauft.

Vom Wunsch, berühmt zu sein, habe sie sich geheilt, meint Krstić. «Mir gehts nicht darum, um Selfies gebeten zu werden, wenn ich am Einkaufen bin.» Aber Berühmtsein wirke wie Zündstoff für den Karriereboost, und dieser wiederum gehe mit Anerkennung, Möglichkeiten sowie höheren Gagen einher.

Krstić spricht über Abhängigkeiten und Machtpositionen im Musikbusiness, die sich nur umgehen liessen, wenn man es schaffe, eigenständig eine Fanbasis aufzubauen. «Als Künstlerin findest du letztendlich nur dann statt, wenn die entsprechenden Kurator:innen, Booker:innen und Labelchef:innen dich auch haben wollen. Oder der Club weiss, dass genug Fans da sind, die Eintritt zahlen.» Und weiter: «Ich dachte lange, wenn ich fleissig genug bin, kommt der Erfolg von selbst. Das ist Bullshit. Du brauchst die Gunst des Publikums, aber noch wichtiger ist die der Leute, die in der Industrie die Fäden ziehen.»

Letztlich sei es auch sie selbst, die ihren Wunsch nach einem kommerziellen Durchbruch sabotiere, räumt Krstić ein. Auch wenn sie sich vornehme, eingängigen Sound zu produzieren, komme im Studio etwas «ganz anderes» raus. Krstić lacht. «Ich akzeptiere zu einem gewissen Grad auch einfach meine künstlerischen Entscheidungen und erfreue mich daran, an einem eigenen Stil zu arbeiten.»

Zwar nimmt Krstić seit ihrer Kindheit Musikunterricht und spielte früh in Bands – lange war aber nicht klar, dass sie ein Leben als Musikerin führen würde. Sie ist Mitte zwanzig, als sie dank ihres Jobs bei der Swisscom etwas Geld auf der Seite hat und sich für ein halbes Jahr nach São Paulo verabschiedet. In dieser Zeit beginnt die heute 37-Jährige, Portugiesisch zu lernen. Und sie feiert. An den meist queeren Partys lernt Krstić unterschiedliche Genres elektronischer Musik kennen. Irgendwann sei sie müde geworden, das Geld sei ausgegangen, und sie habe das Gefühl gehabt, etwas «mehr Berechtigung für das eigene Dasein» zu benötigen. Also behauptet Krstić, Journalistin zu sein. Und schreibt.

Es folgen ein Stage im Kulturressort des «Bunds» und einige Jahre als freie Journalistin. Während dieser Zeit lernt sie verschiedenste Musiker:innen kennen. «Selbst eine zu sein, schien plötzlich eine realistische Option», erinnert sie sich. Krstić studierte Sound Arts an der Hochschule der Künste Bern und ruft 2016 Cruise Ship Misery und ihr Soloprojekt Milena Patagônia ins Leben. Vom Journalismus hat sie sich zu diesem Zeitpunkt verabschiedet: «Eine solche Doppelrolle auf einem kleinen Platz wie Bern wäre nicht einfach gewesen.»

Exzentrisch und unterkühlt

Als im stickigen «Rössli» der Berner Reitschule vor fünf Jahren das Cruise-Ship-Misery-Debütalbum «Urteil» getauft wird, steht Milena Krstić im Abendkleid auf der Bühne, und Sarah Elena Müller hat ihr Cap tief ins Gesicht gezogen. Müller verlangt ihrem alten Keyboard schräge Synthieklänge ab, Krstić raunt, singt und erzählt auf Mundart mit samtig-dunkler Stimme von Nachbarschaftspsychosen, Paranoia und Aussageverweigerung. Krstićs Auftritt wirkt exzentrisch und unterkühlt zugleich. Über einen Bildschirm flimmern die berndeutschen Lyrics in Schriftdeutsch, denn Cruise Ship Misery ist auch ein Übersetzungsprojekt: Müller schreibt die Songs auf Hochdeutsch, Krstić wandelt sie in Mundart um.

Zum selben Zeitpunkt bringt Krstić ihr Debüt «MP EP» heraus. Mundartrap, das waren viele gewohnt, aber was Krstić da in Dialekt gebraut hatte, war doch noch einmal ganz anders: selbstbewusst zwischen Avantgardepop und futuristischem R ’n’ B, mit einem Hauch 2000er-Nostalgie. Leise Melodien, schnelle Beats und wuchtige Synthies treffen auf Lyrics, die mehr oder weniger explizit vom Begehren berichten. «Chum, mir gö i Waud ga vo de Quelle trinke, Harz schmöcke, Chrüttli binde, figge», hiess es etwa in «Waud». Die einen fanden das anziehend, die anderen bezeichneten es als «cringe», meint Krstić heute. «Auch wenn es unterdessen mehr Newcomerinnen gibt, die Mundart machen, ist Berndeutsch immer noch nicht die Sprache, die wir uns für Sexyness gewöhnt sind.» Von der Scham, die andere ihr in diesem Zusammenhang auferlegen wollten, hat sich Krstić befreit.

Das «Jugo-Ding» verstecken

«I wett mi nie meh schäme», das sagt Krstić auch an einer Stelle in «Kapi padaju po betonu – Tropfen fallen auf Beton» und bezieht sich auf die Herkunft ihrer Eltern, mit der sie sich durch den Film zum ersten Mal richtig konfrontierte. Ihre Eltern kamen in den siebziger Jahren unabhängig voneinander aufgrund des Fachkräftemangels im Gesundheitswesen in die Schweiz. Seien sie anfangs willkommen gewesen, habe es gegen Ende der neunziger Jahre durch die Aussenwahrnehmung des Jugoslawienkriegs einen «Switch» gegeben. «Jugo sein» sei plötzlich negativ konnotiert gewesen, erzählt Krstić. «Mein Serbokroatisch hielt ich lange unter Verschluss.» In Thun, wo sie aufwuchs, habe sie als Kind ihren Eltern verboten, in der Öffentlichkeit «so» mit ihr zu sprechen. Ihre Eltern habe das nicht gestört. Das zeige, wie normal es gewesen sei, das «Jugo-Ding» zu verstecken.

Für Krstić hat sich mit dem Belgradaufenthalt ein Kreis geschlossen, der sie komplementiere. Sie weiss nun, was ihre Diasporakindheit in der Schweiz für sie bedeutet. Krstić erzählt, dass sie gerade dabei ist, ihr Alter Ego Milena Patagônia wieder neu zu überdenken. Mit welchem musikalischen Selbst sie als Nächstes die Bühne betritt, wird sich zeigen. So aufregend wie hier klingt Identitätssuche jedenfalls selten.

Albumcover «Kapi EP» von Milena Patagônia
Milena Patagônia: «Kapi EP». 2023.
Albumcover «Brutto Inland Netto Super Clean» von Cruise Ship Misery
Cruise Ship Misery: «Brutto Inland Netto Super Clean». Verlag Der gesunde Menschenversand. 2024.