Schullektüre: Mehr als nur gebundenes Altpapier
Rückblick auf sechs Jahre Deutschunterricht: Eine Schülerin berichtet von Schnarchnasenlektüre, Vorurteilen gegenüber Schweizer Literatur und von grossen Fragen, die sich bei der Lektüre von alten und neuen Büchern stellen.
Mein letztes Gymnasialjahr geht langsam zu Ende, die Matura ist in Sicht, und es beginnt der Rückblick auf sechs Jahre Gymnasium. Mit einem Gefühl der Nostalgie und der Vorfreude auf den Neuanfang kann ich nun reflektieren, was ich alles gelernt und welche Bücher ich im Deutschunterricht gelesen habe. Zur Freude meiner Deutschlehrer:innen sind mir die meisten Bücher in Erinnerung geblieben, einige positiv, andere negativ.
Bücher über Gewalt und Krieg
Wenn ich bei den Klassenbestsellern beginne, muss ich leider feststellen, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben: Gewalt und Krieg. Sei es Erich Maria Remarques «Im Westen nichts Neues» (1928), «Jugend ohne Gott» (1937) von Ödön von Horváth oder das moderne Justizstück «Terror» (2015) von Ferdinand von Schirach: Allesamt schildern sie gewaltsame Prozesse. Obwohl mir die Auseinandersetzung mit historischen – oft gewaltsamen – Geschichten wichtig scheint, finde ich die verbreitete Faszination für Brutalität erschreckend. Und doch sind es oft diese Bücher, die uns am meisten im Kopf bleiben und zum Nachdenken anregen – ohne uns jedoch zu Gewaltfanatiker:innen zu machen. Im Gegenteil, sie spiegeln das Interesse an moralischen Fragen: Wie soll ich handeln? Was ist gutes Tun? Kann Gewalt ein Mittel zum Zweck sein?
Allerdings ist es verständlich, dass sich meine Generation eher für aktuelle Themen und nicht für altmodische Literatur interessiert. Damit möchte ich ältere Werke nicht kleinreden, sie sprechen mich jedoch durch andere Aspekte an als zeitgenössische Bücher. «Die schwarze Spinne» (1842) von Jeremias Gotthelf machte zwar einen beängstigenden Eindruck auf mich, jedoch bot diese Novelle eine stabile Basis für Gesprächsstoff. Genauso tat es Schiller mit «Die Räuber» (1782), sein Drama packt und regt zu Diskussionen an. Ephraim Lessings «Nathan der Weise» (1779) lehrte uns einiges: der Charakter der Titelfigur Ruhe, seine Ringparabel Akzeptanz und friedliches Zusammenleben – auch wenn nicht alle meiner Klassenkamerad:innen vom Buch so begeistert waren wie ich.
Wie viele andere bemängle auch ich die fehlende Repräsentation weiblicher Autorinnen: Mit «Die Inkommensurablen» (2023) von Raphaela Edelbauer lasen wir vor kurzem zum ersten Mal in fast sechs Jahren Deutschunterricht das Werk einer Frau. Jedoch waren genau jene von männlichen Autoren geschriebenen Werke, die die Rolle der Frau behandeln, meine Favoriten: Das Theaterstück «Nora (Ein Puppenheim)» (1879) von Henrik Ibsen zeigt die gesellschaftliche Rolle der Frau wunderbar und regt durchaus zu Kontroversen an. Zudem war die Länge respektive die Kürze des Stückes natürlich auch sehr ansprechend. Auch Heinrich von Kleists «Die Marquise von O» (1808) hat mich sehr geprägt mit ihrer Geschichte und ihren Erlebnissen und Entscheidungen, die sich wieder auf die Fragen «Was soll ich tun?» und «Was ist gutes Tun?» beziehen. Nicht nur der berühmteste Gedankenstrich der Literaturgeschichte wird mir dabei in Erinnerung bleiben. Leider haben diese Lektüren vor allem die Schülerinnen und nur wenige Schüler angesprochen.
Der ulkige Name Kohlhaas
Es gab jedoch auch einige Schnarchnasenlektüren. Kleist hat mich schon auf den ersten Seiten von «Michael Kohlhaas» (1810) verloren, vielleicht lag es am ulkigen Namen Kohlhaas, vielleicht daran, dass dies das einzige Wort war, das ich noch verstehen konnte. Auch die «Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» (1976) von Niklaus Meienberg konnte mich trotz der eigentlich spannenden Geschichte nicht abholen, da der Text auch eher einer Berichterstattung als einer Geschichte gleicht. Es gilt: Je verständlicher der Inhalt beschrieben wird, desto eher wird das Buch auch gelesen.
Obwohl mich Meienberg von Schweizer Literatur abgeschreckt hat, stellte ich fest, dass es auch lesenswerte Schweizer Romane gibt: «Zündels Abgang» (1984) und «Am Hang» (2004) von Markus Werner waren das Leseerlebnis. Sie sind sowohl verständlich als auch inhaltlich fesselnd, sodass ich im Namen meiner Klasse und wider meine Vorurteile behaupten kann, dass es auch grossartig berührende Schweizer Literatur gibt.
Einer meiner absoluten Lieblingsromane ist «Agnes» von Peter Stamm – seinetwegen verbinde ich noch heute das Glück mit Punkten. Obwohl es eine Liebesgeschichte ist, die normalerweise unter Klassenkamerad:innen nur peinlich berührt besprochen wird, wurde diese leidenschaftlich diskutiert. Gottfried Keller erreichte dies mit seiner Liebestragödie «Romeo und Julia auf dem Dorfe» (1856) nicht, obwohl oder vielleicht weil alle die Handlung der Geschichte schon kannten.
Meiner Meinung nach ist das Lesen von alter und moderner Literatur im Deutschunterricht von gleicher Wichtigkeit. Alte Literatur erklärt frühere Generationen und weshalb die Welt so ist, wie sie ist, moderne Literatur erklärt unsere Generation. Schlussendlich konnte ich von jedem Buch mehr mitnehmen als nur gebundenes Altpapier: Diskussionen, Lehren, Erinnerungen und Emotionen kann man bei jeder Lektüre gewinnen, sogar von den Schnarchnasenbüchern.
Luna Petrillo (18) besucht die letzte Klasse des Zürcher Gymnasiums Rämibühl. In ihrer Freizeit liest sie vor allem deutsch- und englischsprachige Jugendromane.