Schullektüre: Ein demokratischer Kanon

Nr. 19 –

Einen Kanon gibt es immer, aber wer bestimmt über ihn? Die Verhandlungen darüber gehören in die Öffentlichkeit.

Menschen liegen im Grass und lesen Bücher im Central Park in New York
Wesentlich sind nicht die einzelnen Werke, wesentlich sind die Zusammenhänge, in die wir sie als Lesende stellen: Central Park in New York, 1981. Foto: Ernst Haas, Getty

Ein Buch allein zu lesen, ist in zweifacher Hinsicht sinnlos.

Erstens: Wer ein einziges Buch liest, eines allein, kann keine Vergleiche anstellen zwischen Stoff und Sprache. Aus Mangel an Zusammenhang, an Kontext wird er oder sie das Buch nicht verstehen. Erst wer ein zweites Buch liest, schafft sich einen Kommentar, eine Kritik, einen Zusammenhang, eine Referenz. Es ist eine Sache, Virginia Woolfs Roman «Miss Dalloway», erschienen 1925, zu lesen, eine andere, diese Lektüre jener von Auguste Escoffiers «Guide culinaire» von 1903 folgen zu lassen. Die romanhafte Darstellung einer Einladung in der Londoner Upperclass nach dem Ersten Weltkrieg und die enzyklopädische Sammlung von Kochrezepten der bürgerlichen Küche Frankreichs enthüllen die Vorstellungen einer bestimmten europäischen Epoche über die Gastfreundschaft.

Lektüre ist ein Gespräch

Wesentlich sind nicht die einzelnen Werke, wesentlich sind die Zusammenhänge, in die wir sie als Lesende stellen. Aus einem formal konventionellen Werk können wir eine Menge erfahren, wenn wir es mit einem zweiten Buch lesen. Lee Childs «Jack Reacher» und «Der Weg der Vollkommenheit» der Mystikerin Teresa von Avila: Wir können beide Bücher befragen nach der Gewalt und der Erlösung – über die Rache und die Hingabe. Hier entsteht eine explorative Lektüre, ein Lesen, das erkundet und Zusammenhänge nicht reproduziert, sondern schafft.

Wer so liest, schafft gleichzeitig einen Kanon, schafft sich Referenzwerke. Auf diese Weise lesen wir nicht Texte, wir lesen auch keine Bücher, wir lesen Bibliotheken, und letztlich lesen wir die Welt. Was diese Welt beinhaltet, ist nicht gegeben. Wie diese Welt, in der wir mit anderen leben, aussehen soll, ist nicht gegeben. Deshalb ist es in zweiter Hinsicht sinnlos, ein Buch allein zu lesen: Wenn es niemanden gibt, mit dem ich meine Lektüreerfahrungen teilen kann, werde ich das Buch nicht verstehen. Lektüre ist ein Gespräch, Lesen ist eine soziale Praxis. Lesen stiftet Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Lesenden, der Menschen, die sich in einem Gespräch befinden über die Geschichten, mit denen sie sich und anderen die Welt erzählen.

Diese Welt verändert sich, und die Zeit, die wir in ihr verbringen, in der wir sie lesen können, ist beschränkt. Wir müssen entscheiden, welchen Zusammenhang wir in unserem Leben mit welchen Büchern schaffen wollen. Kanon bedeutet Macht. Kanon, das ist der Stock, die Rute, das Mass, das Kanonenrohr. Macht bedeutet, eine Wahl treffen, entscheiden zu können. Ich kann nicht alle Bücher lesen. Welche lasse ich aus? Und in welcher Reihenfolge soll ich die ausgewählten Bücher lesen?

Wer an die Demokratie glaubt, wird den Kanon an der Wahrheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Gleichheit messen. Diese Begriffe bestimmen, wie ein demokratischer Kanon aussieht. In den demokratischen Kanon gehören die Bücher der Subalternen. Jene, die sie befreien, und jene, die sie unterdrücken. Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Staates sollen jene Bücher lesen, die sie verpflichten und binden: die ökonomischen, die ästhetischen, die religiösen Theorien und die universellen Gesetze der Wissenschaft.

Wissen geht verloren

Ob sie uns gefallen oder nicht, manche Texte sind zu einer bestimmten Zeit mächtiger, einflussreicher als andere. Diese Texte zu finden und zu lesen, vergrössert die eigene Handlungsmacht. Die ICD-10, die «International Classification of Diseases» in der 10. Revision von 1990, ist keine geschmackvolle Lektüre. Das Handbuch legt die Grundsätze dar, nach denen unsere Gesellschaft die Gesunden von den Kranken trennt. Und so leicht es fällt, die Nase über Paolo Coelhos «Der Alchimist» zu rümpfen, enthält dieser Text eine Lektion über die spirituelle Sehnsucht der Moderne, über den Kitsch und die ökonomische Kraft, mit der diese Erbauungsliteratur die Herzen und die Brieftaschen von 150 Millionen Leserinnen und Lesern erobert hat. Gemeinsam gelesen, eröffnen sie den Zusammenhang zwischen Positivismus und Obskurantismus.

In einen demokratischen Kanon gehören die vergessenen, die verlorenen, die verbotenen Texte. Sie müssen wir finden und lesbar machen. Sie erzählen die Verfolgung, das Verschwinden, die Macht der Geschichtsschreibung und die Ohnmacht jener, die keine Archive bekommen. In den demokratischen Kanon gehören jene Werke, die uns unverständlich geworden sind. Zum Fortschritt gehört die Regression. Menschen vergessen. Wissen und Erfahrung gehen verloren. Das sollten wir nicht ohne Widerspruch hinnehmen. Schwere und leichte Sprache, kritische und immersive Lektüre bedingen sich gegenseitig.

Ein Kanon ist vorläufig. Ein Kanon braucht einen zweiten Kanon, der widerspricht, ergänzt, erweitert. Mit der Einführung des Lehrplans 21 verzichtet die Schule auf ihre Macht, verbindliche Werke zu nennen. An die Stelle dieser staatlichen Institution sind das ästhetische Subjekt und das ökonomische Kollektiv getreten. Produkt und Konsum bestimmen über die Aufmerksamkeit und damit über den Kanon.

Einen Kanon gibt es immer. Die Frage ist nur, wer über ihn bestimmt. Der demokratische Kanon will durchgesetzt werden. Die Verhandlungen darüber brauchen Räume für eine gemeinsame Öffentlichkeit. Es braucht Bibliotheken, Hochschulen, Verlage, Plattformen. Ein demokratischer Staat kennt den Wert dieser Strukturen. Sie entscheiden, was wir denken, fühlen und wissen, sie entscheiden, wie wir leben.

Lukas Bärfuss ist Dramatiker, Romancier, Essayist und Dramaturg. 2019 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Sein letzter Roman, «Die Krume Brot», erschien 2023.

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