Freiheit der Wissenschaft: Verkümmert die Debatte, verkümmert die Demokratie

Nr. 14 –

Angriffe auf «die Demokratie» sind mit Angriffen auf «die Wissenschaft» verschränkt und umgekehrt. Deshalb sollten sich auch Wissenschaftler:innen für den Erhalt der Demokratie einsetzen.

Zur Aufgabe der Wissenschaft gehört es, Dinge, die als gegeben wahrgenommen werden, zu hinterfragen. Die Ergebnisse einer solchen wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind zuweilen unbequem, vermögen sie doch vermeintliche Selbstverständlichkeiten überhaupt sichtbar und damit diskutierbar zu machen. Damit ist aber zugleich ihre gesellschaftliche Relevanz gegeben. Das führt unweigerlich zu öffentlichen Debatten und Auseinandersetzungen – und damit auch zu politischer Angreifbarkeit. Das sind Sachverhalte, mit denen etwa auch die Nachhaltigkeitsforschung konfrontiert ist.

Zugleich hat es immer wieder Konjunktur, speziell die Geistes- und Kulturwissenschaften durch die Behauptung ihrer vermeintlichen gesellschaftlichen «Nutzlosigkeit» zu delegitimieren. Entweder wird der Vorwurf artikuliert, sie seien gesellschaftlich irrelevant und ihre Mittel gehörten folglich gekürzt. Wenn aber ihre gesellschaftsprägende Wirkung nicht negiert werden kann, weil sie durch ihre Analysen und ihre Begriffsarbeit die Art und Weise, wie wir Dinge wahrnehmen, mitformen, dann wird ihnen vorgeworfen, sie seien zu politisch.

Gender Studies als Feindbild

Es waren für mich sehr prägende Momente, als ich in meinem Studium zum ersten Mal realisierte, dass ich durch die Linse der Geschlechterverhältnisse auf die Gesellschaft blicken kann. Auf einmal fiel mir beispielsweise auf, dass die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz gemäss meiner Erinnerung in meiner gesamten Schulzeit nie ein Thema war. Auch die Einsicht, dass es mehr als eine binäre Sicht auf Geschlecht gibt, öffnete mir die Augen. Dieses Wissen hat für mich auch einen sehr praktischen Nutzen; hätte ich dieses Rüstzeug aus meinem Studium nicht, wäre ich auf einiges, was mich gegenwärtig im Alltag beschäftigt, schlechter vorbereitet gewesen.

Trotz – oder gerade aufgrund – dieser Alltagsrelevanz wurden und werden die Gender Studies immer wieder als Feindbild aufgebaut. So verbot etwa die ungarische Regierung 2018, Diplome in Geschlechterforschung zu verleihen. Die Vorkommnisse um die Gender Studies gingen damals mit weiteren Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit einher.

Auch in Polen hatte die PiS-Regierung verheerende Folgen für die Wissenschaft. Nicht erwünscht war etwa Forschung zur Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung durch Pol:innen während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Professorin für Soziologie an der Universität Warschau, Marta Bucholc, meint, dass es lange dauern werde, bis sich die polnischen Universitäten davon erholt haben werden.

In der Schweiz sehen die Verhältnisse zum Glück deutlich anders aus. Doch als im Kanton Baselland der Landrat dem Friedensforschungsinstitut Swisspeace nach Äusserungen von dessen Direktor Laurent Goetschel in Bezug auf den Krieg im Nahen Osten die Gelder kürzte, äusserte sich Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel, in einem Interview mit der «Basler Zeitung» besorgt über diese Entwicklung. Zwar halte er Goetschels Meinung «gegen ein Hamas-Verbot, für eine Einstaatenlösung» für weltfremd. Doch als Professor frage er sich: «Kann ich meine Meinung noch sagen? Oder bekomme ich nach einer Aussage, die vielen nicht gefällt, nie mehr einen Fuss auf den Boden?» Er diagnostizierte weiter, dass die fehlende Differenzierung im Medienkonsum dramatische Züge annehme. «Egal was man sagt: Man stösst auf eine Wand. Ein Reizwort ist entscheidend. Der Rest: egal.»

Wenn Menschen jedoch bereit sind, Ambivalenzen und Widersprüche in Debatten auszuhalten, sind sie auch bereit, sich auf demokratische Aushandlungen einzulassen. Verkümmert die Debatte, verkümmert die demokratische Kultur.

Die Demokratie wird gegenwärtig von verschiedenen Seiten offen angegriffen und infrage gestellt – erinnert sei etwa an die Vorkommnisse des 6. Januar 2021 in den USA oder 2022 in Brasilien nach der Abwahl von Jair Bolsonaro. Antidemokratische Bestrebungen und der Wunsch nach autoritärer Führung erleben weltweit einen Aufschwung. Daniele Caramani, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Zürich und am European University Institute in Florenz, sagte in einem Interview im Januar zum diesjährigen «Superwahljahr» mit wichtigen Entscheidungen in verschiedenen Ländern: «2024 wird ein Jahr sein, in dem die Demokratie in einem Ausmass geschwächt werden könnte, das ihr Überleben gefährdet.» Er fügte jedoch auch an: «Aber ich bin nicht fatalistisch: Chancen entstehen durch Handeln. Die Stärkung der Demokratie ist möglich, wir sind nicht durch ein ‹Schicksal›, das man nicht ändern kann, zu ihrer Schwächung verdammt.»

Es waren die liberalen Bewegungen, die in den 1830er Jahren den Aufbau der «modernen» Universitäten in Bern und Zürich ermöglicht hatten. Wissenschaftsinstitutionen wie die Royal Society in London entstanden zwar in monarchischen Kontexten – und die ersten Universitäten wurden in Europa vor über 800 Jahren gegründet. Doch eine Wissenschaft, die eine gesellschaftskritische Funktion einnimmt, ist genuin auf demokratische Verhältnisse angewiesen.

Wechselseitige Ermöglichung

Im Jahr 1942, als das «Dritte Reich» seine grösste Ausdehnung erreichte, äusserte sich der Soziologe Robert K. Merton in einem berühmt gewordenen Aufsatz zu diesem Thema. Seine Eltern waren wahrscheinlich aus der Ukraine vor antijüdischen Pogromen in die USA geflohen. Merton führte aus, dass die Entwicklung der Wissenschaft historisch gesehen in unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen stattfand. Zugleich stellte er die Frage, in welchem Kontext sich die Wissenschaft am besten entfalten könne. Er hielt fest: «Drohende und akute Angriffe auf die Integrität der Wissenschaft haben den Wissenschaftlern deutlich vor Augen geführt, dass sie auf gesellschaftliche Strukturen ganz spezifischer Art angewiesen sind.» Und er warnte davor, dass in den modernen totalitären Gesellschaften sowohl der Antirationalismus wie auch die Zentralisierung der institutionellen Kontrolle dazu führe, «den der wissenschaftlichen Aktivität zugestandenen Spielraum zu begrenzen».

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg rückten etwa mit Blick auf die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki die zerstörerischen Seiten «der Wissenschaft» stärker in den Blick. Mertons Ansicht, dass das «wissenschaftliche Ethos» und demokratische Ideale eng verschränkt seien, wurde vermehrt kritisch betrachtet. Doch auch wenn die Beziehung zwischen akademischer Wissenschaft und demokratischer Gesellschaftsform komplexer ist als von Merton beschrieben, so kann, wie es der Soziologe Peter Weingart formuliert, «ein Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung» ausgemacht werden.

Forschende müssen sich folglich auch aus wissenschaftlichem Selbsterhaltungstrieb für Demokratie einsetzen und sie in den Wissenschaften zum Thema machen – wie unvollkommen sie uns auch erscheinen mag. Das klingt banal, ist es aber gerade in der gegenwärtigen Situation nicht. Denn demokratische Verhältnisse sind nicht einfach gegeben. Ein Blick in die Geschichte zeigt vielmehr, dass demokratische Errungenschaften verletzlich sind und stets gefährdet bleiben – gerade auch in kriegerischen Zeiten.

Francesca Falk ist Historikerin und Dozentin für Migrationsgeschichte am Historischen Institut der Universität Bern.