Konzeptlose Aufrüstung: Das Bundeshaus im Schützengraben
Die bürgerliche Parlamentsmehrheit will deutlich mehr Geld in die Armee pumpen, den Blick auf reale Gefahren hat sie dabei komplett verloren. Wie können die Beschlüsse korrigiert werden?

«Die Frage wird gar nicht mehr gestellt, ob es sinnvoll ist, diese enormen Summen für die Armee auszugeben, ob diese Aufrüstung wirklich mehr Sicherheit für die Schweizer Bevölkerung bringt, sagt eine hörbar wütende Lisa Mazzone am Telefon. «Es geht nur noch darum, wo das Geld für diese Aufrüstung aufgetrieben werden kann», so die neue Präsidentin der Grünen, die am Freitagnachmittag gerade im Zug von Brüssel zurück. Mazzone traf sich dort zu einem Austausch mit grünen Parteivorsteher:innen aus ganz Europa, um sich über die Auswirkungen der EU-Parlamentswahlen auszutauschen. «Es droht ein Rechtsruck innerhalb der EU-Institutionen mit gravierenden Folgen für die Menschenrechte, die Demokratie und vor allem die Umwelt», sagt Mazzone. Die Stimmung sei konstruktiv und kämpferisch gewesen.
In der Schweiz ist der Rechtsruck bereits vollzogen. Lisa Mazzone hat ihn ganz direkt zu spüren bekommen. Die 36-Jährige verlor im Herbst ihren Genfer Ständeratssitz an den Rechtspopulisten Mauro Poggia. Die bürgerliche Dominanz aus vorwiegend männlichen SVP-, FDP- und Mitte-Mitgliedern ist in der kleinen Kammer seither noch erdrückender. Das manifestiert sich nirgends deutlicher als in der Sicherheitspolitik.
Kahlschlag allenthalben
Anfang Juni beschloss der Ständerat, die Armeeausgaben deutlich stärker zu erhöhen als vom Bundesrat vorgeschlagen. Dieser hatte einen Zahlungsrahmen von 25,8 Milliarden Franken in den kommenden vier Jahren vorgesehen. Das wären 6,45 Milliarden Franken pro Jahr und damit über eine Milliarde mehr als beim letzten Zahlungsrahmen (2021–2024). Doch der bürgerlichen Mehrheit reichte die beträchtliche Aufstockung nicht. Sie setzten 4 Milliarden obendrauf und pochten zudem auf zusätzliche 660 Millionen Franken für das Rüstungsprogramm des laufenden Jahres. Kommt der ständerätliche Vorschlag in der Herbstsession auch im Nationalrat durch, steigen die Armeeausgaben für die nächsten vier Jahren auf knapp 30 Milliarden Franken.
Weil dieselbe bürgerliche Mehrheit dogmatisch an der Schuldenbremse festhält und somit eine Erhöhung der Bundesausgaben ausschliesst, muss die Aufrüstung mit anderen Mitteln finanziert werden (vgl. «Die Bürgerlichen bremsen sich selbst aus»). So hat der St. Galler Mitte-Ständerat Benedikt Würth einen Plan vorgelegt, der die Mehrwertsteuer befristet um einen Prozentpunkt von heute 8,1 auf 9,1 Prozent erhöhen will – 0,6 Prozent sollen in den AHV-Fonds fliessen, die anderen 0,4 Prozent in die Armee. Mehrkosten für die Konsument:innen: etwa 3,5 Milliarden Franken pro Jahr. Immerhin hätte hier die Stimmbevölkerung das letzte Wort.
Einen Alternativvorschlag präsentierte Anfang Juni der Glarner FDP-Ständerat Benjamin Mühlemann. Er verlangt, die Hälfte der Vier-Milliarden-Franken-Aufstockung der Armeeausgaben bei der internationalen Zusammenarbeit (IZA) einzusparen. Ausgerechnet ein freisinniger Politiker also will seinem eigenen Bundesrat, Aussenminister Ignazio Cassis, eine enorme Summe wegstreichen. Und was macht dieser? Cassis taucht ab und zeigt damit, was er von der IZA offenbar hält: nichts.
Es ist eine politische Bankrotterklärung, doch sie geht im Trubel rund um die damals anstehende Bürgenstock-Konferenz unter. Weitere zwei Milliarden Franken will Mühlemann durch Einsparungen beim Verteidigungsdepartement (VBS; 15 Prozent) sowie bei anderen Teilen der Bundesverwaltung (35 Prozent) einstreichen. Wer die sicherheitspolitischen Berichte des Bundesrats lese und sich mit Sicherheitsexperten unterhalte, wisse, was es geschlagen habe, begründet Mühlemann seinen Vorschlag. «Für die russischen Kriegstreiber ist die Eroberung der gesamten Ukraine sowie das Vordringen ins Innere von Europa mehr als nur eine Option.»
Mühlemanns Vorschlag fand im Ständerat tatsächlich eine Mehrheit, das Geschäft geht nun an den Nationalrat. Im Gegensatz zum Würth-Plan käme es beim Mühlemann-Vorschlag absehbar zu keiner Abstimmung, die Stimmbevölkerung bliebe aussen vor. Dabei hätte die Umsetzung für sie gravierende Konsequenzen. Die Eidgenössische Finanzverwaltung hat mittlerweile ausgerechnet, wie sich die finanziellen Kürzungen auswirken würden: 504 Millionen Franken bei Bildung und Forschung, 193 Millionen bei der Landwirtschaft, 175 beim Verkehr, 63 bei der sozialen Wohlfahrt, 33 Millionen Franken im Kulturbereich. Ein Kahlschlag in ganz vielen Lebensbereichen.
Alles Heavy Metal
Der bürgerliche Aufrüstungsfuror ist auch ein Ausdruck davon, wie sehr es die Armeeführung derzeit schafft, die sicherheitspolitische Debatte zu dominieren – und damit der Gesellschaft ihren Blick auf Bedrohungen und Gefahren aufzuzwingen. Das belegt anschaulich die sogenannte Armeebotschaft 2024: Sie ist die Grundlage der bundesrätlichen Vorgaben zu den Armeeausgaben fürs Parlament. Darin hat die Armee unmissverständlich dokumentiert, auf welches Szenario sie sich ausrichten will: «einen eskalierenden bewaffneten Konflikt». Dafür brauche es ein «Fähigkeitsprofil, das ausgewogen auf eine hybride Konfliktführung, auf Bedrohungen aus der Distanz und im Extremfall auf einen umfassenden militärischen Angriff ausgerichtet» ist. Kurzum: Die Armee soll möglichst omnipotent sein.
Interessanterweise klingt die Bedrohungslage beim neu geschaffenen Staatssekretariat für Sicherheitspolitik deutlich anders: «Eine direkte militärische Bedrohung durch einen Angriff auf die Schweiz zu Land oder aus der Luft ist kurz- und mittelfristig unwahrscheinlich.» Eine Aussage, die unweigerlich zur Frage führt, die Lisa Mazzone eingangs gestellt hat: Bringt die militärische Aufrüstung wirklich mehr Sicherheit für die Schweizer Bevölkerung?
Franziska Roth, Solothurner SP-Ständeratin und Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, hat dazu eine klare Meinung: Die bürgerliche Mehrheit wolle dort investieren, wo die Risiken am kleinsten seien – und sparen, wo die sicherheitspolitischen Herausforderungen am grössten seien. «Wir müssen massiv mehr in die Ukrainehilfe investieren, und wir verlieren den Globalen Süden, wenn wir nicht viel mehr für die Armutsbekämpfung und den Klimaschutz tun», so Roth. Alle finanziellen Mittel würden «in Heavy Metal fliessen», in komplexe Waffensysteme wie den US-amerikanischen F-35-Kampfjet, der über sechs Milliarden Franken kosten werde und somit einen wesentlichen Teil der Armeemittel auffresse. Ausgeblutet würden hingegen jene Gefässe, die für die Kooperation mit EU-Staaten nötig seien, etwa wenn es um die Bedrohung durch Drohnen- oder Cyberangriffe gehe.
Die Debatte weiten
Für Lisa Mazzone offenbart der Aufrüstungsfuror im Bundeshaus auch einen grossen Graben zwischen dem Parlament und der Schweizer Bevölkerung. Sie weist einerseits auf eine NZZ-Umfrage hin, die im Frühjahr ergab, dass über die Hälfte der Befragten Einsparungen beim Militär befürworten würden, um die 13. AHV-Rente finanzieren zu können. Nur der Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer war noch populärer. Auf der anderen Seite zeige die Studie «Sicherheit 2024», die unter anderem von der ETH-Militärakademie herausgebracht wird, dass nur gerade zwanzig Prozent von über 1200 Befragten finden, die Schweiz gebe aktuell «viel zu wenig» für die Armee aus. «Das Parlament politisiert komplett an der Bevölkerung vorbei und spart überall: bei der sozialen Sicherheit bis zur Entwicklungshilfe», sagt Mazzone. Die Konsequenzen der gewollten Armeeaufrüstung für die Bürger:innen wären so gravierend, dass es völlig undemokratisch sei, diese ohne Abstimmung durchzuziehen. «Im Moment führen wir jedoch noch nicht einmal eine Debatte darüber, welche Sicherheit wir als Bevölkerung brauchen und wollen.»
Dabei gibt es zweifellos genügend Fakten und auch Expert:innen, die für eine solche überfällige Debatte beizuziehen wären. Laurent Goetschel, Direktor des Friedensforschungsinstituts Swisspeace in Basel, sagt: «Leider werden die Friedens- und die Sicherheitspolitik noch zu sehr als vollkommen getrennte Politikfelder gesehen. Dabei leistet die Friedensförderung einen essenziellen Beitrag an die langfristige Sicherheit.» Es gehe nicht nur darum, Bedrohungen zu begegnen, sondern auch darum, auf deren Ursachen einzuwirken. Für Goetschel ist es zentral, die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu stabilisieren oder neu aufzustellen – und Sicherheit dabei nicht rein militärisch zu definieren. «Konkret denke ich, dass sich die Schweiz vor allem für die Einhaltung des Völkerrechts, die Klimapolitik und die Reduktion von Armut einsetzen sollte», sagt Goetschel. Von den Sicherheitspolitischen Kommissionen des Parlaments ist Swisspeace übrigens bis jetzt nicht angehört worden.
Eine radikalere Analyse und Position hat jüngst die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) publiziert. Ihr Grundlagenpapier «Für eine nüchterne und ehrliche Bedrohungsanalyse» zeigt einerseits auf Basis statistischen Materials auf, dass das bürgerliche Narrativ einer «totgesparten» Armee schlicht nicht stimmt. Und es verweist andererseits darauf, dass in absehbarer Zukunft realistischerweise vor allem «die Klima- und Biodiversitätskrise mit einer grossen Wahrscheinlichkeit immense Kosten und riesiges Leid verursachen» werden. Erhellend ist auch eine Risikoanalyse des Bundesamts für Bevölkerungsschutz (Babs), die zum Schluss kommt, dass die aktuell grössten Gefahren für die Schweiz in einer möglichen Pandemie, einer Strommangellage oder einem Erdbeben bestehen.
Interessante Impulse kommen auch von der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik, wo etwa Altbotschafter Martin Dahinden kürzlich einen Text publizierte, der «Soft Power» statt «Heavy Metal» forderte: Die Schweiz solle auf Diplomatie, Friedensförderung, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe als sicherheitspolitische Instrumente setzen.
An den entscheidenden Stellen fehlt bislang allerdings ein Korrektiv, um die sicherheitspolitische Debatte endlich zu weiten. Das Babs könnte ein solches sein, doch es gehört zum VBS – und damit zum selben Departement wie die tonangebende Armee. Aussenminister Cassis müsste gar amtshalber intervenieren, wirkt durch sein Abtauchen aber eher wie der Vasall von Verteidigungsministerin Viola Amherd (Die Mitte). Und weil die bürgerliche Parlamentsmehrheit kaum von selbst zur Besinnung kommen dürfte, werde die Kurskorrektur ausserhalb des Bundeshauses angestossen werden müssen, kündigt Lisa Mazzone an: je nach Art der definitiven Finanzierungsvorschläge mittels Referenden, Initiativen oder zivilgesellschaftlichem Protest.