Autoritarismus in Lateinamerika: Rechte auf Rachefeldzug

Nr. 15 –

Ecuadors Präsident Daniel Noboa liess die mexikanische Botschaft stürmen, um einen politischen Gegner zu entführen. Das schockierende Vorgehen passt ins Drehbuch der lateinamerikanischen Rechten.

Daniel Noboa am 27. März an der Jubiläumsfeier einer polizeilichen Spezialeinheit in Quito
«Vatersöhnchen» ohne Skrupel: Daniel Noboa (Mitte) am 27. März an der Jubiläumsfeier einer polizeilichen Spezialeinheit in Quito. Foto: Hamilton Lopez, Imago

Roberto Canseco, der Chef der konsularischen Abteilung der mexikanischen Botschaft in Quito, konnte es nicht fassen. «Das kann doch nicht wahr sein, das ist verrückt», stammelte er am Freitag in der Hauptstadt Ecuadors in die Mikrofone lokaler Medien. «Das ist völlig ausserhalb jeglicher Norm.» Ein Polizeikommando hatte kurz zuvor das Tor zum Botschaftsgelände aufgebrochen und Canseco, der die Männer aufhalten wollte, niedergeschlagen. Anschliessend hatten sie ein Gebäude gestürmt und den dorthin geflohenen Jorge Glas entführt. Auch der ehemalige Vizepräsident Ecuadors, der seit vergangenem Dezember in der Botschaft lebte, sei niedergeschlagen und «auf den Kopf und in den Rücken getreten» worden, sagte dessen Anwältin.

Am Montag wurde Glas vom Gefängnis in ein Krankenhaus gebracht. Die Polizei behauptet, er habe eine Überdosis Beruhigungsmittel geschluckt. Nach Darstellung des Spitals soll er aufgrund eines Hungerstreiks einen Schwächeanfall erlitten haben.

Ausgerechnet Ecuador

Der Vorfall ist tatsächlich äusserst ungewöhnlich. Ausgerechnet Ecuador, das Land, das in seiner Londoner Botschaft von 2012 bis 2019 dem Wikileaks-Gründer Julian Assange Asyl gewährte, lässt eine Botschaft stürmen und dort einen Mann entführen, den Mexiko als politischen Flüchtling anerkannt hat. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador brach darauf die diplomatischen Beziehungen zu Ecuador ab. Der Überfall verstösst gegen alles, was in der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen von 1961 zur Unantastbarkeit von Botschaften vereinbart ist.

Als Assange in London Asyl gewährt wurde, war der linke Rafael Correa Präsident Ecuadors. Der jetzt entführte Glas war von 2013 bis 2017 dessen Vizepräsident. Seit November vergangenen Jahres regiert der rechte Daniel Noboa: Der 36-Jährige ist Sohn des Bananenmagnaten Álvaro Noboa, des wohl reichsten Mannes des Landes. Dieser hat selbst fünfmal vergeblich für das höchste Staatsamt kandidiert. Noboa junior wirft Glas vor, korrupt zu sein und mit seiner Flucht in die mexikanische Botschaft versucht zu haben, sich einem Gerichtsverfahren zu entziehen.

Tatsächlich sass Glas schon wegen Korruption in Haft. 2017 wurde er zu sechs Jahren verurteilt, weil er Schmiergelder des brasilianischen Bauriesen Odebrecht angenommen haben soll. Der Konzern hatte quer durch Lateinamerika so gut wie jede Regierung bestochen. 2020 wurde Glas wegen eines weiteren Korruptionsfalls zusammen mit seinem ehemaligen Chef Correa zu noch einmal acht Jahren Gefängnis verurteilt. Correa lebt heute in Belgien im Exil, Glas wurde im November 2022 vorzeitig aus der Haft entlassen. Jetzt läuft ein drittes Korruptionsverfahren gegen ihn.

Man kann vielen lateinamerikanischen Spitzenpolitiker:innen Korruption unterstellen. Wie stichhaltig die erhobenen Vorwürfe jeweils sind, ist eine andere Frage. Auch die Justiz gilt in den meisten Ländern der Region als korrupt und politisch beeinflusst. Und es fällt auf, dass rechte Regierungen versuchen, mithilfe von Staatsanwaltschaft und Gerichten die linke Konkurrenz auszuschalten.

Regeln? Egal!

In Argentinien wurde unter dem rechten Präsidenten Mauricio Macri (2015 bis 2019) dessen linke Amtsvorgängerin Cristina Fernández mit Korruptionsverfahren überzogen. In Guatemala hetzte der rechte Präsident Alejandro Giammattei (2019 bis Januar 2024) zum Ende seiner Amtszeit die Staatsanwaltschaft auf den als sein Nachfolger gewählten Sozialdemokraten Bernardo Arévalo. In El Salvador liess der seit 2019 regierende Nayib Bukele die halbe Führungsriege der linken Vorgängerregierung ins Gefängnis werfen – von Richter:innen, die er selbst eingesetzt hatte. Ungeachtet dessen, ob Korruption dabei tatsächlich eine Rolle spielt oder nicht, haben die entsprechenden Verfahren den Charakter eigentlicher Rachefeldzüge.

Noch etwas anderes verbindet den 36-jährigen Noboa mit dem sechs Jahre älteren Bukele: Beide kamen als Multimillionäre zur Welt. In Lateinamerika gibt es für sie ein Wort: «hijos de papi» – Vatersöhnchen. Von klein auf herrschten sie über ein Heer von Hausangestellten. Sie mussten sich nie an Regeln halten. Sie lernten nie, dass es Dinge gibt, die ausserhalb ihres Machtbereichs liegen.

Mit dieser Haltung hat auch Bukele mittlerweile alle staatlichen Institutionen unter seine Kontrolle gebracht, seit über zwei Jahren gilt in El Salvador der Ausnahmezustand. In dieser Zeit hat der Präsident über 80 000 Menschen ins Gefängnis werfen lassen – in aller Regel ohne konkreten Tatverdacht, ohne richterlichen Haftbefehl und ohne Gerichtsverfahren. Noboa eifert ihm nach. Schon bei seiner ersten Rede als Präsident sagte er, dass Bukele ein Vorbild sei. Im Januar hat auch Noboa den Ausnahmezustand ausgerufen (siehe WOZ Nr. 3/24). Was die Stürmung der Botschaft angehe, sei Mexiko selbst schuld: Das Land habe «die Immunität einer Gesandtschaft missbraucht», liess sein Büro verlautbaren.