Blasen im Netz: In der Todeszone der Algorithmen
Das personalisierte Internet hat verheerende Folgen gerade auch für die Kultur. «Filterwelten» befördern einen Tunnelblick auf Klicks und Likes.
Mit dem Stichwort «Filter» im Internet verbinden wir zunächst die aus den sozialen Medien bekannten Bildoptimierungs-Softwares, die einen fragwürdigen Schönheitskult fördern. Doch es gibt noch weit folgenreichere Filter im Netz. Algorithmische Empfehlungen und Engführungen sorgen für eine kommerzielle Personalisierung des einst auf Offenheit und Austausch hin angelegten Kommunikationsmediums. Besonders für die Kultur habe das desaströse Folgen, die erst allmählich sichtbar würden, so die These des US-Journalisten Kyle Chayka in seinem neuen Buch «Filterworld».
Nicht nur mit dem Titel, auch mit seiner Argumentation bezieht sich Chayka teilweise auf einen Klassiker der Netzkritik, «Filter Bubble» von Eli Pariser. Dieser warnte bereits 2011 vor der Macht der Internetkonzerne. Pariser beschrieb, wie sie als Datensauger agierten und wie ihre mysteriösen Algorithmen die immensen Datenmengen filterten, angeblich um den Nutzer:innen ein besseres, auf sie zugeschnittenes Angebot zu präsentieren: allen ihre je eigene «Filterblase». Doch diese Filterblasen leiteten eine zunehmende Fragmentierung des Internets ein. Der erste grosse Sündenfall war für Pariser die 2005 eingeführte personalisierte Suche von Google.
Nur noch Hipstercafés
Zwischen Parisers und Chaykas Diagnosen liegt mehr als ein Jahrzehnt, in dem sich die Entwicklungen im Internet fast überschlagen haben. Auch ihr Fokus ist unterschiedlich. Pariser zeigte vor allem in Bezug auf die Politik, wie algorithmische Manöver eine Verengung des Weltbilds durch Polarisierung und Radikalisierung förderten. Und er prophezeite die inzwischen nicht nur in den USA eingetretenen dramatischen Auswirkungen. Chayka blickt heute auf die kulturelle Welt, wo er einen gegenläufigen Prozess der algorithmischen Trendverstärkung am Werk sieht. Hier modellieren die Algorithmen eine konsumorientierte Wohlfühlzone und richten den gesellschaftlich nicht minder bedenklichen kulturellen Einheitsbrei der «Filterwelt» an.
Diese Filterwelt kartografiert und analysiert Chayka ausgehend von eigenen Erfahrungen. Es sind die eines New Yorker Millennials. Eines Tages fragte er sich, warum sich seine Lieblingscafés weltweit immer mehr ähneln. Apps wie «Yelp» oder «Google Maps» hatten Hinweise auf seine Vorlieben gesammelt und ausgewertet und zeigten ihm nun bevorzugt überall dieselben Hipstercafés an. Detailliert schildert Chayka das Funktionieren der Illusionsmaschinerie beliebter Plattformen wie Netflix, Spotify, Instagram oder Tiktok und zeichnet ein Tableau der Verheerungen und neuen kreativen Zwänge durch die algorithmische Revolution in der Kultur.
Was den ästhetischen wie intellektuellen Anspruch betrifft, gehorcht das Rauschen der Bilder und Sounds im Internet Chayka zufolge dem Prinzip des «kleinsten gemeinsamen Nenners». Es bedient immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen beim pausenlosen Weiterscrollen am Smartphone. Das «algorithmische Ökosystem» fördert insgesamt «Ähnliches mit minimaler Abweichung», eine Art kulturelles Hintergrundrauschen: Netflix-Serien wie «Emily in Paris», wo die Stadt zum Selfiehintergrund für eine Influencerökonomie wird; trendig dekorative, zugleich völlig belanglose Malerei, aber bestens «instagrammable»; Instagram-Poesie als Social-Media-taugliche Kombination von Text und Bild.
Die emanzipatorische Vorstellung einer stetigen Horizonterweiterung durch Kultur hat in dieser Umgebung ebenso wenig Zukunft wie die Ausbildung des individuellen Geschmacks. Zumal die klassischen Medien, die für die zugehörigen Aushandlungsprozesse einst ein Forum boten, ein frühes Opfer der Digitalkonzerne geworden sind. Diese gruben mit algorithmisch gestützter, sprich zielgerichteter Werbung dem Geschäftsmodell der traditionellen Printmedien das Wasser ab. Sogar einst stolze Redaktionen setzen heute primär auf Klickraten. Diese sind das Todesurteil für diejenigen Inhalte, die «nur» eine Minderheit ansprechen. Die Devise der Filterwelt heisst «Geh viral oder stirb». Heute betrifft der «Untergang des Kulturjournalismus», wie ihn jüngst der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen anlässlich der Einstellung des digitalen Musikmagazins «Pitchfork» beklagt hat, längst auch erfolgreiche digitale Formate, wenn sie für die algorithmisch homogenisierte Filterwelt zu anspruchsvoll werden.
Ein technokratisches Modell
Chayka bringt die Ernüchterung gerade jener Kulturszene auf den Punkt, die das Internet einst als Ort für Innovationen begrüsst hatte. Man denke an die frühen Chatgroups, die Musiktauschbörsen – erinnert sich noch jemand an Napster? –, die experimentelle Netzkunst und -literatur. Leider haben die anfangs sympathischen Garagen- oder Campus-Start-ups von Google bis Facebook das ihnen einst entgegengebrachte Vertrauen schwer enttäuscht. Sie setzen ihre Algorithmen nur noch dazu ein, uns etwas zu verkaufen – oder uns zu verkaufen. Oder beides. Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff nennt diesen Zusammenhang «Überwachungskapitalismus».
Nun rächt sich, dass die Entwicklung des Internets von Technokraten gesteuert wird. So formulierte Nicholas Negroponte, Gründer des Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, 1995 die futuristische Vision eines personalisierten Auswahlsystems. Es sollte das Problem des Überangebots an TV-Kanälen strukturieren. Seine Zöglinge im Silicon Valley griffen solche Ideen auf, als es zunächst darum ging, die rasant anwachsende Menge günstig herstellbarer Inhalte im Netz zu bändigen. Die «Ökonomie der Aufmerksamkeit» (Georg Franck) nahm ihren Lauf.
Das Hauptproblem der Filterwelt ist nicht die Sortierfunktion als solche, sondern ihre Intransparenz – und ihre Instrumentalisierung zu kommerziellen Zwecken. Kein Wunder, ist «der Code» das bestgehütete Geheimnis aller Plattformbetreiber. Inzwischen reduziert die heisslaufende Klick-und-Like-Ökonomie den einst versprochenen Nutzen der Plattformen von Spotify über Facebook bis Tiktok. Deren ständige, willkürliche und intransparente Veränderungen der Spielregeln machen den User:innen allmählich klar, wie sie missbraucht werden.
Ohne die Politik geht es nicht
Chayka versucht, Auswege aus dem algorithmischen Debakel aufzuzeigen. Enthusiastisch verweist er auf das EU-Gesetz über die digitalen Märkte (Digital Markets Act) und das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) von 2022, die allmählich greifen. Ersteres soll die Techmonopole aufbrechen und kleinere Mitbewerber:innen stärken, Letzteres zielt auf bessere Kontrolle der Inhalte ab (etwa Hassrede). Für die USA sieht Chayka einen Hebel in einer Reform des Artikels 230 des Communications Decency Act (CDA) von 1996, die derzeit vor dem Supreme Court, dem obersten Gerichtshof der USA, verhandelt wird. Der CDA unterscheidet zwischen «Promotion» und «Publikation». Er benachteiligt traditionelle Medien, da diese für ihre Inhalte zur Rechenschaft gezogen werden können, während sich die Plattformen unter dem Hinweis auf die «Promotion» aus dieser Verantwortung stehlen können.
Gerade die von Chayka als pionierhaft gepriesenen europäischen Gesetze sind aber nicht unumstritten, da sie illiberale Tendenzen haben. Bleibt neben der eher weltfremden Abstinenz der Vorschlag einer Kuratierung von Inhalten durch informierte, verantwortungsbewusste Menschen statt durch Algorithmen. Das klingt zwar sympathisch, mutet aber auch etwas nostalgisch und naiv an. Denn es setzt neben ökonomisch überlebensfähigen Modellen genügend «kritische Masse» seitens der Nutzer:innen voraus. Doch die Filterwelt schwächt deren Problembewusstsein und Reflexionsvermögen seit Jahren. Politische Massnahmen dürften definitiv das bessere Rezept sein.
Kommentare
Kommentar von Whakahoatanga
Di., 16.04.2024 - 11:26
Danke sehr für die Buchempfehlung. War ein wirklich sehr interessantes Buch. Hab es dieses Wochenende gerade gelesen.