Lisa Mazzone: «Es ist der Moment, einen Unterschied zu machen»
Lisa Mazzone ist die neue Präsidentin der Grünen Partei. Sie erklärt, wie sie als Romande auch in der Deutschschweiz wirken will, wie sie das Verhältnis der Grünen zur Klimabewegung sieht und warum Friedenspolitik so wichtig ist.
WOZ: Lisa Mazzone, woher kommt Ihr Wille zur Macht?
Lisa Mazzone (denkt nach): Habe ich einen Willen zur Macht? Ich habe sicher einen Willen, mitzugestalten. Ich bin in einer grünen Familie aufgewachsen. Es gab eine gewisse Spannung mit der Welt draussen, die diesen grünen Werten widersprach.
Das ist noch nicht unbedingt ein Grund, in die Politik zu gehen.
Ich habe in Versoix, wo ich wohnte, ein Jugendparlament mitgegründet. Als ich dort aktiv war, kam 2006 eine Asyl- und Ausländergesetzesrevision. Ich wollte, dass sich das Jugendparlament dazu positioniert, aber manche sagten, das sei zu politisch. Da dachte ich: Jetzt muss ich in eine Partei.
Ihre Grosseltern kamen aus Italien in die Schweiz, um am Cern zu arbeiten, Ihre Eltern sind Naturwissenschaftler:innen. Sie haben hingegen Literaturwissenschaft studiert.
Die Literatur bietet die Möglichkeit, sich eine andere Welt vorzustellen, die Perspektive anderer besser zu verstehen und auch eine Vision zu spüren. Meine Familie hat meine Beziehung zur Natur schon geprägt. Aber ich hatte Lust auf Literatur und ihre Vorstellungskraft. Ohne gross über Berufsperspektiven nachzudenken!
Sie kommen aus Genf. Wer die Stadt kennt, weiss: Sie ist anders als der Rest der Schweiz. Wie lässt sich dieses Land von Genf aus verstehen?
Ich habe eine Grossmutter aus Rapperswil, ich war immer viel in der Deutschschweiz unterwegs. Und Genf hat ja auch zwei Seiten: Einerseits ist es sehr weltoffen und solidarisch, die Stadt der Menschenrechte und internationalen Organisationen, ein Kanton, der einen Mindestlohn eingeführt hat. Aber es gibt eine andere Seite, eine starke populistische Rechte. Genf kann auch sehr hart sein. Dennoch: Genf gehört zur Schweiz und prägt das Land. Mehrheitlich im Guten, finde ich.
Lange hatten wir in der Deutschschweiz den Eindruck, die Romandie sei weniger offen für ökologische Anliegen.
Das glaube ich nicht. Genf ist zum Beispiel der einzige Kanton, der im letzten Jahrzehnt alle drei Volksinitiativen der Grünen angenommen hat: Grüne Wirtschaft, Atomausstieg und Fair Food. Sicher stärker ist in der Romandie die Überzeugung, der Staat solle eine aktive Rolle einnehmen. Und was auch wichtig ist: Die Grünen haben seit langem Regierungsräte in der Romandie, wie Robert Cramer in Genf oder heute Sylvie Bonvin-Sansonnens in Freiburg. Sie haben konkretisiert, was grüne Politik im Alltag bedeutet: Wandel bei der Mobilität, viele mutige Massnahmen im Bereich Energie. Ein besseres Leben. Das erlaubt einen Bezug zur grünen Politik, der greifbar ist.
Es gibt zurzeit einen antiökologischen Backlash im Parlament: Man will Autobahnen ausbauen, Tempo 30 einschränken, es gab Angriffe auf das Umweltschutzgesetz … Es scheint ein schwieriger Moment, Präsidentin der Grünen zu werden.
Ja, aber auch ein Moment, in dem man einen Unterschied machen kann. Die Bürgerlichen spüren keine Grenzen mehr. Sie glauben offenbar, die grüne Welle sei nur ein kurzer Hype gewesen, die Bevölkerung sorge sich nicht mehr um die Umwelt, und jetzt sei wieder alles erlaubt, was Profit bringt. Das ist eine Fehleinschätzung.
Die letzte Legislatur war die grünste der Geschichte. Wir haben bei den erneuerbaren Energien und der Kreislaufwirtschaft, aber auch beim Sexualstrafrecht, der Ehe für alle viel erreicht. Und dieses Jahr werden wir über die Energiewende, über Biodiversität und den aus der Zeit gefallenen Ausbau der Autobahnen abstimmen. Das sind alles Gelegenheiten, um zu entscheiden, in welche Richtung es geht.
Sie wollten kein Kopräsidium. Weil sonst der Lohn zu knapp wäre?
Nein, das war nicht der Grund. Das ist eben mein Wille zur Macht (lacht). Ich habe Lust, etwas zu beeinflussen …
Das geht doch auch zu zweit, die SP macht es vor.
Das ist nicht das Gleiche. Als Romande neben einer Person aus der Deutschschweiz besteht das Risiko, immer in den Hintergrund zu rücken. Und ehrlich gesagt: Regula Rytz hat es allein gemacht, Balthasar Glättli hat es allein gemacht. Ich frage mich, warum man immer mir diese Frage stellt.
Sie haben eine Tour durch alle Kantone angekündigt.
Ja, ich war schon in Zürich, in Zug, in Luzern, bald gehe ich nach Glarus und Walenstadt im Kanton St. Gallen.
Sind das Anlässe für Parteimitglieder?
Nicht nur. Es ist offener. Es ist für alle Personen, die sich für den Wandel engagieren. Kürzlich war ich in La Neuveville, ein toller Abend! Wir waren dreissig Leute, mehrheitlich Nichtmitglieder, und haben darüber diskutiert, wie man auf lokaler Ebene eine grüne Politik konkretisieren kann. Es ging zum Beispiel um Verkehrsberuhigung, Biostände auf dem Markt. Eine bessere Lebensqualität.
Die Grünen stecken in einem Dilemma: Aus Sicht der Ökologie ist klar, dass die Konsumgesellschaft keine Zukunft hat, dass die Wirtschaft nicht immer weiterwachsen kann, sondern sich radikal transformieren muss. Aber das ist nicht mehrheitsfähig.
Es ist wichtig, klar zu sagen, dass materielle Grundlagen nötig sind zum Leben: eine gute Wohnung, Zugang zur Gesundheitsversorgung, gutes Essen. Da muss man das Materielle pflegen und sichern. Ich glaube, wenn man das mal gewährleisten kann, wünschen sich viele Leute darüber hinaus mehr Zeit, mehr Austausch und gemeinsame Projekte, mehr Sinn.
Aber viele wollen doch auch Billigflüge und grosse Autos.
Es ist unsere Aufgabe, Alternativen zugänglich zu machen und Lust auf ein anderes Zusammenleben zu verbreiten. Zu sagen: Ein ökologischeres Leben ist schön. Man muss die Spielregeln so ändern, dass es für alle möglich ist, besser zu leben. Die Klimakrise ist eine Weltkrise, man fühlt sich klein und überfordert. Ich sage nicht, dass kleine, lokale Ansätze reichen werden. Aber sie helfen, die Leute mitzunehmen in einem Projekt, das auch Kraft entwickelt, um die nationale Politik mehr zu beeinflussen.
Während der Pandemie hofften viele auf einen grünen Wandel, jetzt geht es trotzdem weiter wie bisher …
Das sind auch politische Entscheide! Die Fluggesellschaften hatten es sehr schwer während Corona. Und was ist passiert? Sie haben haufenweise Subventionen bekommen. In Genf gibt es eine Fluglärmabgabe. Sie wurde gesenkt, um Easyjet zu unterstützen. So wird die Umweltpolitik sabotiert.
Am 9. Juni stimmen wir über die Energiepolitik ab, den sogenannten Mantelerlass. Bei der Parolenfassung an der Delegiertenversammlung der Grünen fiel auf, dass fast niemand das Thema Biodiversität ins Zentrum stellte. Kommt es sogar in Ihrer Partei zu kurz?
Dass es einen Konflikt zwischen Biodiversität und Energieproduktion gibt, ist eine Tatsache. Und wir haben diesen Konflikt nicht nur thematisiert, sondern auch Lösungen ins Parlament gebracht und hart gekämpft dafür.
Der Konflikt ist damit nicht einfach verschwunden.
Nein. Aber wir haben es geschafft, dass Biotope von nationaler Bedeutung weiterhin geschützt sind, dass man den Gewässerschutz sichert. Das ist der Grund, warum auch Brigitte Wolf Ja zum Mantelerlass sagt, die Präsidentin der Grünen Wallis, die sich sehr stark für die Biodiversität engagiert. Entscheidend ist: Wir haben jetzt einen Plan für die Energiewende. Wir wollen aus der Atomenergie und den fossilen Energien aussteigen und können zeigen, wie das geht. Der Mantelerlass setzt vor allem auf Solarenergie auf bestehenden Gebäuden, daneben Wind- und Speicherwasserkraft, aber auch Energieeffizienz, die wir schon lange forderten.
Die Klimabewegung hat sich gegen die fossilen Reservekraftwerke gewehrt, die Grünen blieben eher ruhig.
Das stimmt nicht. Das Gaskraftwerk in Birr war nicht nur illegal, wie inzwischen klar ist, sondern auch unnötig. Es war ein Fehler und eine Geldverschwendung.
Manche Klimaaktivist:innen fühlen sich entfremdet von den Grünen.
Die meisten Klimaaktivist:innen findet man bei den Grünen! Natürlich sind wir als Partei in den Institutionen tätig. Aber wir sind mit anderen Gruppierungen Teil einer grossen Bewegung. Es ist sinnvoll, dass es verschiedene Formen von Engagement gibt.
Das klingt ziemlich distanziert.
Wir sind im Austausch und schauen, wie wir etwas beeinflussen können. Was mir Sorgen macht, ist nicht unser Verhältnis zu den Bewegungen, sondern dass die Klimakrise, die Biodiversitätskrise, die ganze Umweltkrise von der politischen Agenda verdrängt werden. Das hat auch mit dem Krieg gegen die Ukraine zu tun. Seit dem Februar 2022 wollen viele Bürgerliche zurück in die Vergangenheit, die Prioritäten verschieben: «Jetzt hören wir auf mit dem Fokus auf das Klima, auf Biodiversität, mit Gleichstellungsfragen, es gibt Wichtigeres.» Es ist die Rückkehr der männlichen Politik: Uniformen, Armee, Hierarchie. Das sind anspruchsvolle Zeiten für eine feministische Partei, die in die Zukunft schaut und die Veränderung anstrebt.
Sind Sie Pazifistin?
Ja.
Was bedeutet das für Sie?
Dass ich immer noch an Multilateralismus glaube. Dass wir eine Welt schaffen sollten, die sich am Frieden orientiert und nicht in ein Wettrüsten verfällt. Es ist der einzige Weg für eine nachhaltige Sicherheit.
Und was heisst das in Bezug auf Russland?
Seit über zwei Jahren muss sich die Ukraine unter grössten Opfern gegen den brutalen Angriffskrieg Russlands verteidigen. Dass sie es tut, ist wichtig für die Werte Europas, für Frieden und Demokratie. Die Schweiz sollte sie viel stärker unterstützen, aber gezielt dort, wo sie wirklich einen Unterschied machen kann: den Rohstoffhandel viel besser kontrollieren, Sanktionen konsequent anwenden und den Wiederaufbau der Ukraine solidarisch mitfinanzieren.
Wie stehen Sie zur Lieferung von Waffen oder anderen militärischen Gütern, direkt oder indirekt?
Es ist das Paradox der Schweiz, dass man an das Neutralitätsrecht gebunden ist und eine Friedenspolitik betreiben will und gleichzeitig eine exportorientierte Waffenindustrie hat. Obwohl diese Industrie klein ist – es ist ein Widerspruch. Die Lösung wäre, die Waffenausfuhr ganz grundsätzlich zu verbieten, in alle Länder.
Sehen Sie da eine Differenz zur SP?
Ja. Für uns ist es ein Hauptanliegen, dieses Wettrüsten zu bremsen.
Das Parlament hat jetzt beschlossen, dass die Armee viel mehr Geld erhalten soll.
Ja, das geht überhaupt nicht. Es frisst das ganze Budget des Bundes: Alles ist auf Eis gelegt. Es gibt kein Geld mehr für die Umwelt, das Soziale, die Kinderbetreuung, Elternzeit. Selbst für die Anpassung an die Klimakrise werden wir keine Mittel haben. Sie steht für uns zwar nicht im Fokus; die Dekarbonisierung ist wichtiger. Aber auch bei der Anpassung braucht es Investitionen. Mit dem Armeewahn und der bürgerlichen Finanzpolitik ist das alles blockiert, und zwar bis 2035. Ich finde es dringend, dass es über die unsinnige Erhöhung des Armeebudgets eine Volksabstimmung gibt.
Lisa Mazzone (36) war von 2015 bis 2019 Mitglied des Nationalrats. Von Ende 2019 bis Ende 2023 vertrat sie im Ständerat den Kanton Genf. Am 6. April wurde sie zur Parteipräsidentin der Grünen gewählt.