Renovate Switzerland: Experimente in zivilem Widerstand
Sie blockieren Autobahnen und Hauptverkehrsadern und möchten so den Bundesrat unter Druck setzen. Die Klimaaktivist:innen von Renovate Switzerland haben in den letzten Wochen eine Menge Autofahrer:innen zum Hupen gebracht. Was bringt das?
«Unser Ziel ist es nicht, die Autofahrer zu verärgern. Aber wir wollen gehört werden. Der Bundesrat muss zuhören.» Der Jurassier Sylvan Isler sitzt an diesem Freitag um acht Uhr morgens zusammen mit sechs weiteren Aktivist:innen auf dem Utoquai in Zürich, einer viel befahrenen Einfallstrasse, die die Zürcher Goldküste mit der Innenstadt verbindet, und blockiert den Verkehr. Auf grossen Transparenten, die sie halten, steht «Renovate Switzerland».
Die Forderung ist simpel: Der Bundesrat soll vier Milliarden Franken bereitstellen und die klimagerechte Sanierung von einer Million schlecht isolierten Häusern in der Schweiz rasch voranbringen. 100 000 Personen sollen ein Stipendium erhalten, um sich in Berufen auszubilden, die für die Sanierung nötig sind. Denn alle wissen: Es fehlen die entsprechenden Fachkräfte.
«Der Bundesrat hat die Verpflichtung, die Bevölkerung zu schützen.»
Selina Lerch, Renovate Switzerland
Die Blockade vom Freitag ist bereits die sechste Strassenblockade innerhalb von elf Tagen; drei in Lausanne, eine in Bern und zwei in Zürich. Am Mittwoch folgte Aktion Nummer sieben, wieder in Zürich. Das Medienecho ist gross. Das liegt auch an gekonnten Inszenierungen. So liess sich in Bern unter anderem die bekannte Lausanner Professorin Julia Steinberger, die selbst bei der Abfassung des neusten Klimaberichts der Uno beteiligt war, von der Polizei wegtragen. Aktivist:innen werden von Medien zu Streitgesprächen eingeladen. Es wird nicht nur über den Sinn von Verkehrsblockaden diskutiert, sondern, zumindest in der Romandie, auch über die konkrete Forderung.
Auf der Überholspur
Die Kampagne Renovate Switzerland orientiert sich in ihren Aktionen stark an anderen Gruppierungen wie Letzte Generation in Deutschland oder Just Stop Oil in Grossbritannien. Schon lange hatten die Aktivist:innen den Oktober zum Aktionsmonat erklärt. In Berlin sind in diesen Tagen täglich Dutzende Aktivist:innen der Letzten Generation am Werk. Sie legen die wichtigen Verkehrsadern der Hauptstadt lahm und fordern ein Tempolimit auf den Autobahnen sowie die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets. Die Aktivist:innen von Just Stop Oil wollen von der britischen Regierung, dass diese alle Pläne zum Abbau neuer Öl- und Gasvorkommen aufgibt. Auch sie konzentrieren sich derzeit auf die Hauptstadt und blockieren in London täglich den Verkehr. Am Montag gelang es zwei von ihnen, auf die Tragseile der Queen-Elizabeth-II-Brücke zu klettern und damit eine 37-stündige Sperrung dieser wichtigen Verkehrsverbindung über die Themse durchzusetzen. Für viele Autofahrer:innen habe die Blockade eine Verspätung von bis zu zwei Stunden bedeutet, berichtet der «Guardian».
Doch nicht nur wegen solcher Aktionen ist Just Stop Oil inzwischen weitum bekannt: Am vergangenen Freitag warfen zwei Aktivistinnen in der National Gallery in London den Inhalt einer Büchse Tomatensauce auf die Schutzscheibe des berühmten Van-Gogh-Gemäldes «Sonnenblumen» und klebten sich anschliessend an die Wand. Eine der Aktivistinnen rief den Museumsbesucher:innen zu: «Seid ihr mehr besorgt um den Schutz eines Kunstwerks als um den Schutz des Planeten und der Menschen?» Das Video der Aktion wurde Millionen Male in den sozialen Medien angesehen und heftig diskutiert.
Was bringen solche Aktionen? Selina Lerch, Sprecherin von Renovate Switzerland, sagt: «Es geht um alles oder nichts. Die Klimaveränderungen werden immer gefährlicher. Der Bundesrat hat die Verpflichtung, die Bevölkerung zu schützen.» Renovate Switzerland beruft sich dabei auf den neusten Uno-Klimabericht, aber auch auf Uno-Generalsekretär António Guterres, der sagt: «Wir befinden uns auf der Überholspur in die Klimakatastrophe.» Ziel der Gruppe ist einerseits, dass weitere Menschen inspiriert werden, ebenfalls aktiv zu werden. Andererseits soll eine Diskussion über die konkreten Forderungen initiiert werden.
Man kann die Aktionen von Renovate Switzerland als Experimente der Klimabewegung sehen. Die Gruppe testet aus, wie mit wenigen Leuten viel Wirkung erzielt wird. Ziviler Widerstand ist dabei in der Klimabewegung nicht neu: Schon in den vergangenen Jahren blockierte etwa Extinction Rebellion Strassen, andere Gruppen setzten sich vor Eingänge von Banken und Einrichtungen der fossilen Industrie. «Die Aktionen von Extinction Rebellion haben in der britischen Bevölkerung das Bewusstsein für die Klimakrise stark gefördert», sagt James Ozden. Er betreibt als bewegungsnaher Forscher das Social Change Labor in London, wertet sozialwissenschaftliche Fachliteratur aus und macht Meinungsumfragen. Zwar könnten radikale Aktionen einer bestimmten Gruppe deren Unterstützung in der Bevölkerung mindern, aber das heisse nicht, dass damit auch das Anliegen selbst diskreditiert werde. «Moderate Teile einer Bewegung werden durch radikale Aktionen tendenziell gestärkt», sagt er.
Das Wohl aller
Doch muss man deswegen Autofahrer:innen verärgern? Renovate Switzerland kann als Akteurin in einem gesellschaftlichen Konflikt begriffen werden. Strassenblockaden sind darin ein Druckmittel, genau so, wie ein Streik von Beschäftigten das ist. Sie unterbrechen den normalen Ablauf, führen zu Störungen und Verspätungen. In diesem Fall zielen die Blockaden sehr breit auf die Wirtschaft und den Staat. Letztlich wird gedroht: Wir machen immer weiter und eskalieren, wenn ihr nicht handelt. Das ist insofern legitim, als es sich bei den Forderungen ja gerade nicht um die Durchsetzung von Einzelinteressen handelt, sondern um das Wohl aller geht.
Natürlich provoziert das. Und es ruft Verteidiger der Autofahrer:innen auf den Plan wie den Zürcher SVP-Nationalrat Mauro Tuena. Dieser wirkt darauf hin, dass die Verkehrsteilnehmer:innen die Blockade persönlich nehmen, statt sie als gesellschaftliche Auseinandersetzung zu begreifen. In medialen Streitgesprächen mit Klimaaktivist:innen auf Blick TV und Tele Züri spricht er von «klaren Fällen der Nötigung» und ruft betroffene Automobilist:innen auf, Strafanzeige einzureichen.
Allerdings: So klar ist der Tatbestand der Nötigung nicht. So hat der Zürcher Bezirksrichter Roger Harris kürzlich eine Klimaaktivistin freigesprochen, die im Oktober 2021 eine Brücke in Zürich blockierte. Es gebe ein Mass an Behinderung, das geduldet werden müsse, sagte er in der Urteilsbegründung. Vor allem, wenn es sich um ein so wichtiges Anliegen wie den Klimaschutz handle. Harris kündigte an, künftig alle Klimaaktivist:innen freizusprechen.
Alles nicht so einfach?
SP-Nationalrätin Martina Munz empfindet «grundsätzliche Sympathie» für die Leute von Renovate Switzerland. «Es ist fünf nach zwölf, eine hochdramatische Situation», sagt das Mitglied der Umwelt- und Energiekommission. Mit dem Mittel der Strassenblockade bekundet Munz allerdings Mühe: «Man rüttelt damit nicht die Politik auf, sondern verärgert Leute, die von A nach B wollen.» Zur konkreten Forderung nach 100 000 zusätzlichen Fachkräften sagt sie: «Der Fachkräftemangel ist real. Aber wir können nicht einfach mit den Fingern schnippen, und dann sind die Leute da, die sich ausbilden lassen wollen. So einfach ist das nicht.»
Reto Knutti, Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich, sagt, er wolle niemanden kritisieren, der gewaltfreien zivilen Widerstand leiste. Dem Dringlichkeitsdiskurs von Gruppen wie Renovate Switzerland steht der viel zitierte Klimawissenschaftler jedoch skeptisch gegenüber. Die Argumentation, man habe nur noch zwei bis drei Jahre Zeit, um die grosse Katastrophe zu verhindern, sei falsch: «Diesen klaren Abgrund gibt es nicht.» Ausserdem würden so nur jene bestärkt, die schon überzeugt seien. Aber es bestehe auch die Gefahr, «dass damit Angst und Hilflosigkeit ausgelöst werden und sich Leute abwenden». Knutti hält Handeln für dringlich, weil bislang viel zu wenig getan worden sei. Aber besser sei es, «gemeinsam tragfähige Lösungen zu erarbeiten, statt Leute vor den Kopf zu stossen». Andererseits sagt er auch: «Es braucht wohl Extreme wie Moderate, verschiedene Akteure, die verschiedene Rollen übernehmen.»
In diesem Sinn spielt Renovate Switzerland den radikalen Part, um den Diskurs in die gewünschte Richtung zu verschieben. Am Mittwoch blockierten drei Aktivisten die Ausfahrt der A3 in Zürich-Wiedikon. Diesmal gab es für die Autofahrer:innen keine Möglichkeit, umzudrehen. Während die einen hupten und tobten, nahmen es andere gelassen. Eine Mutter, die mit ihren Kindern auf dem Weg zum Vergnügungspark Rust war, meinte: «Bloss nicht aufregen.» Und bezüglich der Klimakrise: «Es muss ja schon endlich was passieren.»
Klimabewegung: Immer mehr Blockaden und Besetzungen
Derzeit mehren sich in der Klimabewegung Aktionen des zivilen Widerstands. Was zudem auffällt, ist die immer grössere internationale Koordination. So blockierte am Sonntag eine Gruppe Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Ländern unter dem Namen Scientist Rebellion eine Tagung der Weltgesundheitsorganisation in Berlin. Ihr Statement: Die Klimakrise sei auch eine Gesundheitskrise. Zwei Tage später blockierte die Gruppe das deutsche Verkehrsministerium und forderte eine sofortige Dekarbonisierung des Transportsektors.
In der Neuenburger Gemeinde Cressier schlossen derweil vergangene Woche Aktivist:innen der Gruppierung Debt for Climate die Zufahrtsstrasse zur einzigen Ölraffinerie der Schweiz. Die Forderung: Die Industriestaaten müssten den Ländern des Südens alle Schulden streichen. Staaten wie die Schweiz hätten eine grosse ökologische Schuld auf sich geladen, da ihre wirtschaftliche Entwicklung auf dem Ausstoss von klimaschädigenden Treibhausgasen fusse. Aufgrund der Klimakrise müssten nun Länder im Süden auf die Ausbeutung ihrer fossilen Bodenschätze verzichten, was aber nur gehe, wenn diese nicht weiter Schuldendienste zu leisten hätten. Laut Alexandra G., Sprecherin des Schweizer Ablegers von Debt for Climate, steht die Raffinerie Cressier beispielhaft dafür, wie die Ausbeutung des Globalen Südens auch heute noch funktioniere: So werde in Cressier zu vierzig Prozent nigerianisches Erdöl verarbeitet. Die Gewinne daraus kämen aber nicht der lokalen Bevölkerung in Nigeria zugute, sondern den grossen westlichen Erdölkonzernen. Es gehe Debt for Climate um den Kampf für «globale Gerechtigkeit».
Auch Schüler und Studentinnen planen in nächster Zeit unter dem Namen End Fossil Occupy international koordinierte Aktionen des zivilen Widerstands. So sollen in Deutschland demnächst zwanzig Universitäten und Schulen besetzt werden. In der Schweiz sind derzeit mindestens drei Besetzungen geplant, wie Cyrill Hermann, Mediensprecher des Klimastreiks, sagt. «Wir wollen an den Schulen und Unis eine Repolitisierung in Gang setzen.» Es gebe viel Unzufriedenheit, nicht nur wegen der Unfähigkeit der Politik, die Klimakrise zu meistern. Generell sei an den Schulen zu wenig Platz, sich über die gesellschaftlichen Zustände Gedanken zu machen, sagt der Gymnasiast aus Zürich.