EGMR-Urteil: Es geht um die Hegemonie
Albert Rösti strahlt, es ist sein erstes Sechseläuten. Die Sonne scheint dem Bundesrat ins Gesicht, er spricht stockend. Trotz Festlaune eine ernste Frage der Moderatorin: Was er zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugunsten der Klimaseniorinnen sage, wonach der Schweizer Staat die Klägerinnen zu wenig vor den Folgen der Klimaerhitzung schütze? Rösti greift das Urteil scharf an: «Ich glaube, es ist nicht vereinbar mit einer direkten Demokratie. Hier beschliesst am Schluss das Volk, was für Massnahmen getroffen werden.» Die Spitzen von SVP-Politikern am Volksfest, sie sind eine kleine Tradition für sich. Das Sechseläuten als bürgerlicher Safe Space.
Die Meinung von Rösti zum EGMR-Urteil ist in der Schweiz von SVP bis Mitte erschreckender Konsens. Man hantiert mit einer grob vereinfachten Gegenüberstellung von Politik und Recht, wobei das Primat der Politik gegen die vorrückende Judikative aus Strassburg zu verteidigen sei. Direkt gegen die Menschenrechte zu schiessen, wagt man allerdings nicht – taktisch erklärt man gar das Gegenteil. In der NZZ zeigt sich Damien Cottier (FDP), Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die die EGMR-Richter:innen wählt, besorgt um die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs: «Es ist wichtig, die Akzeptanz der Menschenrechtskonvention nicht zu vermindern, indem man sie zu proaktiv interpretiert.»
Die Materie ist komplex, die Folgen des Urteils sind schwer abzusehen. Doch mit der juristischen Realität hat der Abwehrreflex sowieso wenig zu tun. Die autoritäre Bereitschaft, die darin aufblitzt, ist umso bedenklicher: Privilegien und Kapitalinteressen mit den nötigen Mitteln zu verteidigen, auch gegen eine aus dieser Sicht bedrohliche Verschiebung der öffentlichen Meinung zugunsten einer griffigeren Klimapolitik. Der Kampf gegen die «fremden Richter» ist vor allem einer zur Verteidigung einer Hegemonie: Darin werden die Klimakatastrophe und ihre sehr ungleichen Auswirkungen auf die Menschen weiterhin erfolgreich marginalisiert.
Kommentare
Kommentar von WV.
Fr., 19.04.2024 - 10:24
Was ist das für ein destruktives
kurzsichtiges Wirtschaftssystem/Politik, wo Klimaschutz nicht grundsätzlich als Menschenrecht gilt?
Wo Zerstörung Reiche immer reicher und Arme immer ärmer macht?
Der sinnlose Kapitalismus.