Puerto Rico: Nach dem Sturm die Invasion
Die Insel wurde erst von einem Wirbelsturm verwüstet, dann von Immobilien- und Kryptoinvestor:innen heimgesucht. Eine Reportage aus Puerto Rico, für manche eine Neokolonie der USA.
Der Wagen kriecht eine schmale Strasse hinauf. Der linke Arm ruht auf dem Lenkrad, den rechten schwenkt Gloria Cuevas wie einen Taktstock. Hier unten wohne Familie Soundso, da oben der Sohn von Frau Soundso. Jede kennt hier jeden in Rincón, einem Surfstädtchen am westlichen Zipfel Puerto Ricos, dreieinhalb Flugstunden von New York entfernt.
An diesem Morgen kehrt Cuevas (67), Silberlocken, Silberringe, gebräunte Haut, zum ersten Mal zu dem Haus zurück, von dem sie geglaubt hatte, hier würde sie einmal alt werden. Es kam alles anders.
Im September 2017 überlebte Cuevas eine der tödlichsten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten: den atlantischen Wirbelsturm Maria. Windgeschwindigkeit 260 Kilometer pro Stunde, geschätzte 3000 Todesopfer. Die Schäden beliefen sich auf knapp 112 Milliarden Dollar. Gloria Cuevas, ihre Frau und ihre sieben Hunde und Katzen retteten sich vor der Flut zu Freund:innen. Aber sie verloren ihre Mietwohnung in Strandnähe und fast ihren gesamten Besitz. Monatelang lebten sie ohne Strom, zogen von einer Unterkunft zur nächsten.
Grossartige Piña Coladas
Für Puerto Rico, das schon lange vor dem Hurrikan von Schulden in Milliardenhöhe geplagt wurde und sich in eine Steueroase für Festlandamerikaner:innen verwandelt hatte, war der Sturm eine nationale Tragödie. Als der damalige US-Präsident Donald Trump dreizehn Tage nach der Katastrophe für vier Stunden einflog, prahlte er mit der hervorragenden Katastrophenhilfe und warf in einer Kirche Küchenpapierrollen in die Menschenmenge. Wochen nach dem Hurrikan packte Gloria Cuevas endlich ein Hilfspaket von der US-Katastrophenhilfe aus. Statt sauberen Trinkwassers fand sie darin Süssigkeiten und Dosenfleisch. In der Realität hatte die Hilfe versagt.
Auf dieser Insel kann man jeden, wirklich jede fragen, was es mit dem Begriff «Katastrophenkapitalismus» auf sich hat. Alle wissen Bescheid: Naturkatastrophen schaffen ideale Bedingungen für Investor:innen. Sie stürzen sich auf die günstigen Immobilien und machen später Gewinn damit.
Cuevas betont immer wieder, sie hätte nichts gegen «Gringos». «Das hier ist kein Kampf zwischen uns und ihnen, sondern einer zwischen Arm und Reich.» Längst sind es nicht nur Amerikaner:innen, die Häuser aufkaufen, auch gut verdienende Puerto Ricaner:innen wollen am Airbnb-Boom mitverdienen. Es fühle sich so an, sagt Cuevas, als ob der Hurrikan ihrer Insel einen Stempel aufgedrückt hätte: «Zum Verkauf».
Das Verhältnis zwischen Insel und Festland ist von historischen Traumata und wirtschaftlicher Abhängigkeit gezeichnet. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg verlor Spanien die Insel, seit 1898 gehört Puerto Rico zu den USA. Bis heute ist es ein «Aussengebiet» – ein seltsamer Hybrid, der zwar Teil der USA ist, bei der Präsidentschaftswahl jedoch nicht mitreden darf. Die Einwohner:innen können jederzeit aufs Festland übersiedeln, doch sie fühlen sich als Bürger:innen zweiter Klasse.
Den USA diente Puerto Rico immer wieder für Experimente: Im Kampf gegen Armut wollte man die Bevölkerung schrumpfen, zwischen 1930 und 1970 sterilisierte man etwa ein Drittel der Frauen, experimentierte mit Verhütungsmitteln und Medikamenten. Auf der kleinen Insel Vieques vor der Küste wurden jahrzehntelang Waffen getestet. Chemierückstände führen bis heute zu erhöhten Krebsraten.
Dann kam Hurrikan Maria – und einige verstanden die Tragödie als Einladung. Weniger als ein halbes Jahr nach dem Sturm verkündete Puerto Ricos damaliger Gouverneur Ricky Rosselló vor einem New Yorker Businesspublikum, Maria habe eine «blank canvas» hinterlassen, eine leere Leinwand für Investor:innen, um sich ihre Traumwelt zu malen. Von 2017 bis 2022 kamen in Puerto Rico 300 000 Wohnungen durch Maria und weitere Stürme zu Schaden, viele Menschen verliessen ihre Heimat. Investor:innen stürzten sich auf die günstigen Immobilien.
Im März 2018, einen Monat nach dem Auftritt des Gouverneurs, kamen im Luxushotel Condado Vanderbilt am Strand der Hauptstadt San Juan Hunderte selbsternannter «Puertopians» zusammen, surften, machten Yoga, meditierten und bastelten an ihrer Vision, Puerto Rico in ein Paradies für Kryptoinvestor:innen, ein «Hongkong der Karibik» umzuwandeln. Einer der Redner prahlte, dass er seit seinem Umzug von Kalifornien nach Puerto Rico nur noch vier statt über fünfzig Prozent Einkommenssteuer zahle. «Leben auf einer tropischen Insel, mit tollen Menschen, tollem Wetter und grossartigen Piña Coladas. Warum nicht?»
Der lokale Wirtschafts-Thinktank Center for a New Economy fand in einer Studie zur Entwicklung des Immobilienmarktes heraus, dass Angebote für Kurzzeitunterkünfte wie Airbnb nach Maria um dreissig Prozent angestiegen sind. In Rincón dient jede dritte Mietunterkunft der Kurzzeitmiete. So wie Gloria Cuevas mussten in beliebten Küstenstädten fast alle, die zur Miete lebten, in den letzten Jahren das Haus verlassen, weil jemand es aufkaufte.
Fünf Sterne für Chiodo
In Rincón brennt die Sonne auf der Haut. Damien Chiodo (50), «Gringo», sitzt auf seiner Farm auf einer Holzbank und erklärt Puerto Rico. Die Hühner gackern, die Hunde toben, in der Nähe plätschert ein Fluss. Chiodo hat ein robustes Selbstbewusstsein, in seine Sätze schiebt er Wörter wie «pussy», «fuckin’» und «bro» ein. Er sagt, es lasse sich nicht alles mit Kolonialismus und Leuten wie ihm erklären, die vom Festland hierhergezogen seien.
Chiodo besitzt 150 Immobilien in Puerto Rico, nur eine davon ist ein Airbnb: als Zeitvertreib für seine Frau. Vor fünf Jahren zog er mit seiner Familie in ein Haus am Strand in Rincón. Die Eier, die die Hühner auf der eigenen Farm legen, verteilt er in der Nachbarschaft. Dafür hat er sich selbst auf Google eine Bewertung von fünf Sternen gegeben. «Ich bin nicht der amerikanische Bösewicht, den du zu finden hoffst», hatte er vor dem Interview erklärt.
Das durchschnittliche Haushaltseinkommen in Puerto Rico beträgt knapp 22 000 Franken, auf dem Festland sind es etwa dreieinhalb Mal so viel. Vier von zehn Inselbewohner:innen leben unter der Armutsgrenze – doppelt so viele wie in Mississippi, dem ärmsten US-Bundesstaat. Dabei ist das Leben auf der Insel genauso teuer wie auf dem Festland.
#GringoGoHome
Der «Jones Act», der nur US-amerikanischen Schiffen erlaubt, Puerto Rico zu beliefern, schränkt den Handel stark ein. Die aus Puerto Rico stammende Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez bezeichnete den Status der Insel wiederholt als «Neokolonie».
Fast alle Puerto Ricaner:innen haben Familie in Florida, Philadelphia oder New York. Etwas mehr als drei Millionen leben auf der Insel, rund acht Millionen auf dem Festland. In den Monaten nach Maria erlebte Puerto Rico den grössten Exodus seiner Geschichte. Braindrain plagt die Insel. Manche warnen, sie könnte bald nur noch den Bedürfnissen von Touristinnen und Kryptomilliardären dienen.
Mal sagt Chiodo, er sei von Kalifornien hergezogen, weil er sich hier ein Haus direkt am Strand leisten könne, dann, weil es in Rincón keine Amokläufe gebe. Er selbst besitzt gut zwei Dutzend Waffen («zur Verteidigung»), auch jetzt liegt eine in seinem Auto, das vor der Farm parkt. Auf seinem linken Oberschenkel hat er eine Pistole tätowiert, auf dem Knöchel über seinem rechten Fuss das Wort «Punkrocker».
Chiodo ist Gründer und CEO der Firma Keylink. Kann jemand die Schulden für seinen Immobilienkredit nicht abzahlen, wendet sich die Bank an die Firma, die sich dann um Renovierung und Weiterverkauf des Hauses kümmert. Wegen der Rezession machte Chiodo schon lange vor Maria Geschäfte auf der Insel.
Über hundert Bungalows liess er zu Sozialwohnungen umwandeln. «Eines der bereichernden Projekte in meinem Leben.» Hat er, der selber in Armut aufgewachsen ist und nun sechs Privathäuser auf der Insel besitzt, Gewissensbisse? Chiodo tut etwas, was er selten tut: Er schweigt. Dann sagt er, er habe den Swimmingpool in seinem Garten so bauen lassen, dass er von draussen kaum zu sehen sei. Manchmal schicken ihm Aktivist:innen der lokalen Gruppe #GringoGoHome Todesdrohungen.
Chiodo läuft zu seinem Auto. Nächste Woche werde er wieder unterwegs sein: Business in Baltimore. Er holt einen Batzen Marihuana in der Grösse eines Tischtennisballs aus seiner Hosentasche. «Want some?»
Die Kakerlake bleibt
San Juan ist ein Schmelztiegel. Eine Stadt, in der der Himmel fast immer strahlt und Tag und Nacht Salsabeats ertönen. Knallbunte Häuschen im spanischen Kolonialstil reihen sich wie auf Traubenzuckerketten aneinander. Nichts passt hier zusammen, aber alles ergibt Sinn. In den vergangenen Jahren entstanden am Strand gigantische Hotelbauten, Luxusketten haben sich niedergelassen. Ein Airbnb mit acht Betten in der Altstadt kann zur Hochsaison 3000 Dollar pro Nacht kosten. Genauso findet man: illegal besetzte Häuser, Gemeinschaftsgärten, leer stehende Gebäude, überall Kunst und Graffiti. Manchmal blockieren Hühner und giftgrüne Leguane die Strassen.
Alana Mediavilla (37) trifft Geschäftspartner im Universitätsviertel Rio Piedras. Sie sitzt zum Mittagessen im Sandwichladen El Panismo. Mediavilla ist Produzentin, Regisseurin, Unternehmerin, dreifache Mutter. Ausserdem: Bitcoin-Investorin. Gerade hat das Filmfestival Cannes ihre Dokumentation «Dirty Coin» als besten Kurzfilm ausgezeichnet. In ihrer Familie bringe sie das Geld nach Hause, sagt sie stolz.
Mediavilla kam in Puerto Rico zur Welt, zum Studium zog sie in die USA. Zuletzt lebte sie im kalifornischen San José. Anfang zwanzig wurde sie schwanger und musste ihr Studium abbrechen. Als die Pandemie ausbrach und Arbeitsorte plötzlich flexibel wurden, beschlossen sie und ihr Mann, «ein Gringo», nach Puerto Rico zu ziehen – wie viele jüngere Leute. Im Örtchen Humacao ausserhalb San Juans hat Mediavilla für 250 000 Dollar eine Dreizimmerwohnung am Strand gekauft. In Kalifornien wäre das unmöglich gewesen.
Die Aufregung um die Wohnungsnot versteht sie nicht. Was hier passiere, passiere auch auf dem Festland. «Nur ist es eine sexy Geschichte, weil die Sündenböcke hier die bösen Weissen sind.» Der Rassismus gegen Amerikaner:innen, gegen ihre eigenen Kinder, sei ihr neu. Er passe nicht zu Puerto Rico. Als Künstlerin habe sie hier endlose Möglichkeiten, vom US-Staat finanzierte Stipendien für Projekte zu ergattern. «Geld fällt hier von den Bäumen, man muss sich nur bewerben.» Vielen, die über die «Gringos» herziehen, fehlten einfach die richtigen Zugänge, meint Mediavilla: «Weisst du, wie schwierig es ist, von den Männern zum Golfspielen eingeladen zu werden?» Ausserdem hätten die Politiker mehr von der Bevölkerung gestohlen als die ‹Gringos›. «Die Wut richtet sich gegen die Falschen!» Mediavilla lässt ihr Schinkensandwich liegen und läuft zurück zum Büro. Vorbei an leer stehenden Gebäuden, an denen «Zu verkaufen»-Schilder hängen oder Schmierereien zu lesen sind: «Gringo go home».
Rio Piedras ist von feministischen Kollektiven, düsteren Punkspelunken und Secondhandläden geprägt. Auf der Strasse haben Künstler:innen zusammen mit den Einwohner:innen eine riesige Skulptur einer Kakerlake aus rezykliertem rostigem Stahl aufgestellt, sie reckt sich triumphierend in die Höhe. Die Kakerlake als Sinnbild für die Einwohner:innen des Viertels: eine Überlebenskünstlerin. Die Menschen in Rio Piedras wollen bleiben. Selbst wenn eines Tages alles den «Gringos» gehört.