Sonderzonen in Honduras: Land ohne Geld für Geld ohne Land
Wie Honduras’ Präsident Porfirio Lobo sein armes Land in einen mittelamerikanischen Tigerstaat verwandeln will und dabei die Rechte einer ethnischen Minderheit mit Füssen tritt. Ein Besuch bei den Garífuna in El Triunfo de la Cruz.
Porfirio Lobo muss bisweilen der Verzweiflung nahe sein. Es ist nicht leicht, Präsident eines Landes zu sein, das zu den ärmsten in Lateinamerika gehört und das derzeit die weltweit höchste Mordrate ausserhalb von Kriegsgebieten vorweisen kann – jedes Jahr sterben mehr als achtzig Menschen pro 100 000 EinwohnerInnen eines gewaltsamen Tods. Lobo ist Herr über eine kriminell unterwanderte Polizeitruppe und einen korrupten Justizapparat. Sein Land ist eine Schleuse für das Kokain, das aus Kolumbien kommt und in die USA weiterverfrachtet wird. Und obendrein haftet Lobo auch noch der Makel an, nur deshalb Präsident von Honduras zu sein, weil der letzte vor ihm legal in dieses Amt gekommene Mann 2009 Opfer eines Putschs geworden war und Lobos «Wahl» ein halbes Jahr später vom Militär veranstaltet wurde. Internationales Kapital meidet das unsichere Land. Kein Wunder, dass der Präsident manchmal aus der Realität zu fliehen scheint.
«Lasst uns zusammen träumen», sagte er seinen Landsleuten vor einem guten Jahr bei einer Ansprache. «Stellen wir uns doch gemeinsam einen idealen Ort vor, an dem wir sehen, wie Investoren kommen, ohne dass man ihnen Schranken setzt.» So etwas könne Wahrheit werden. Er wolle tausend Quadratkilometer, auf denen «derzeit rein gar nichts passiert», in «das Land verwandeln, das wir gerne hätten»: eine «Modellstadt», einen «Diamanten in Honduras». Dort werde Rechtssicherheit herrschen und Freiheit des Unternehmertums. Es werde keine Kriminalität geben, gute Schulen und Spitäler für alle, und alle, die dort wohnen und arbeiten, bekämen einen guten Lohn.
Hongkong sei sein Vorbild oder Singapur, «wo auf 27 Quadratkilometern 5,5 Millionen Menschen leben und ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 40 000 US-Dollar haben». Die knapp über acht Millionen HonduranerInnen kommen nicht einmal auf durchschnittlich 2000 Dollar im Jahr. Aber wenn sie Lobo glauben, müssen sie nur noch ein bisschen warten. In seiner ersten Modellstadt, die als Videoanimation mit in Sekundenschnelle in den Himmel wachsenden Hochhäusern virtuell schon existiert, hätten «bis zu zehn Millionen Menschen» Platz.
Hirngespinste eines Grössenwahnsinnigen? «Nein», sagt Lobo und verweist auf die chinesische Wirtschaftszone Shenzhen. Dort sei «aus einem verschlafenen Fischerdorf in wenigen Jahren eine Zehn-Millionen-Metropole» geworden. Auch seine Modellstadt soll ans Meer, an die karibische Küste von Honduras, in die Gegend zwischen den Hafenstädten Trujillo und Puerto Cortés. Das sei gewissermassen der Mittelpunkt der Welt: zwei Flugstunden von den USA entfernt oder drei Tage mit dem Schiff. Von China aus braucht ein Frachter drei Wochen.
Ein Volk ist im Weg
El Triunfo de la Cruz ist ein Fischerdorf, in der Mitte zwischen Trujillo und Puerto Cortés gelegen und mit 10 000 EinwohnerInnen fast schon ein kleines Städtchen. Es ist schwül dort und heiss, die Schotterstrassen sind breit und staubig. Die Häuser sind eingeschossig, aus Holz oder bunt verputzten Hohlblocksteinen, die Dächer aus Zinkblech. Ein paar stehen auf Stelzen, wegen des vielen Wassers in der tropischen Regenzeit, das die Pfützen schnell zu kleinen Teichen wachsen lässt. Und ein paar wenige sind noch ganz traditionell gebaut, mit Wänden aus Bambus und Dächern aus Palmstroh. Sie sind um kleine Freiflächen gruppiert, auf denen die NachbarInnen hocken und schwatzen. Die Schreiner arbeiten auf der Strasse, und vorne am Strand, wo das karibische Meer träge am feinen Sand leckt, liegen einfache Kähne, um die herum junge Männer Fussball spielen. Aus irgendeinem Haus dröhnt immer Punta, ein Musikstil, der ein bisschen an Reggae erinnert. Die Hautfarbe der Menschen ist dunkelbraun oder schwarz.
In El Triunfo de la Cruz leben keine Maya, keine Mestizen und keine Weissen. Der Ort ist eine der grössten Siedlungen der Garífuna, einer ethnischen Minderheit in Honduras, die aus dem Zusammentreffen entlaufener SklavInnen und den inzwischen ausgestorbenen KaribInnen entstanden ist. Sie lebten zunächst auf den kleinen Antillen und wurden von den britischen Kolonialherren vor 215 Jahren an die honduranische Karibikküste deportiert. Damals war diese Gegend nur ganz dünn besiedelt. Heute sind die Garífuna im Weg.
«Wir sind besorgt um unser Territorium», sagt Secundino Torres, Vorsitzender des Komitees zur Verteidigung des Landes in El Triunfo de la Cruz. «Wir führen einen frontalen Kampf gegen den Staat.» Fünf Mitglieder des Komitees seien in den letzten Jahren ermordet worden, des Nachts erschossen von bezahlten Killern. Er selbst hat einen verkrüppelten Arm von einem Angriff mit einer Machete. «Viele waren schon im Gefängnis.»
Secundino Torres sitzt auf einem ausgeleierten Plastikstuhl im Schatten vor dem Tante-Emma-Laden, den seine Frau betreibt. Torres ist klein, faltig und verschmitzt und sagt, hier warte er auf seine Rente. Beim Lachen werden seine geröteten Augen riesig und rund, er zeigt seine schlechten Zähne. Er war lange weg, als Matrose, wie viele Männer aus dem Dorf. Sie fahren zwanzig oder dreissig Jahre zur See und kommen dann abgearbeitet und ausgemergelt zurück. Torres erinnert sich an Bremerhaven, an Hamburg und an Antwerpen und dass es dort immer furchtbar kalt war.
Die Garífuna leben schon immer mit dem Meer. Sie wurden gewissermassen aus dem Ozean geboren, ihre Geburt lässt sich genau datieren: 1655 sanken vor der kleinen Karibikinsel St. Vincent, das damals noch Yolome hiess, zwei spanische Schiffe, die mit SklavInnen aus Afrika beladen waren. Die Schwarzen, die sich ans Ufer retten konnten, flohen ins bergige Hinterland und vermischten sich dort mit den UreinwohnerInnen aus der Ethnie der Kariben. Und weil die Insel unter der Herrschaft dieses kriegerischen Volkes so etwas wie eine neutrale Zone im karibischen Gerangel der Kolonialmächte England, Frankreich, Spanien und Holland war, kamen immer mehr Schwarze: SklavInnen, die von den Zuckerrohrplantagen der Nachbarinseln geflohen waren. Afrikanische Kulturen und Sprachen vermischten sich mit den Traditionen der KaribInnen.
Bis heute sprechen die Garífuna neben dem Spanischen ihre eigene Sprache, in der LinguistInnen ausser dem Ursprung in der Karibensprache Arawak Einflüsse von Suaheli, Yoruba und Bantu, aber auch von Englisch, Französisch und Spanisch festgestellt haben. Ihre vom Katholizismus übertünchte Religion ähnelt dem Voodoo-Kult auf Haiti, ihre Musik – Punta – erhebt sich über dem Rhythmus vieler Trommeln. So hartnäckig, wie sie an ihren Sitten und Gebräuchen festhalten, sträubten sie sich gegen die Kolonialherrschaft der EngländerInnen, als diese 1775 St. Vincent einnahmen. 1797 wurden sie deshalb deportiert und kamen am 12. April in Trujillo an. HistorikerInnen schätzen, dass es um die 5000 Männer, Frauen und Kinder waren, die dann die honduranische Karibikküste besiedelten.
Heute gibt es 43 Garífuna-Gemeinden in Honduras, dazu kommen sechs in Belice, zwei in Nicaragua und eine in Guatemala. Die rund 200 000 Garífuna leben traditionell vom Fischen und vom Landbau. Der Boden und sein Ertrag sind genauso wie die Fänge bis heute Gemeineigentum.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts kam eine neue Einnahmequelle hinzu: Die Arbeit auf den Plantagen der United Fruit Company, die sich heute Chiquita Brands International nennt. Der Konzern bekam von der honduranischen Regierung riesige Ländereien im Siedlungsgebiet der Garífuna übereignet gegen das Versprechen, eine Bahnlinie zu bauen – weshalb er in Honduras unter dem Namen Tela Railroad Company firmierte. Firmensitz war das Garífuna-Städtchen Tela. Die BewohnerInnen wurden einfach umgesiedelt. Damals wurde ein paar Kilometer weiter im Osten El Triunfo de la Cruz gegründet.
Seit den fünfziger Jahren brauchte man die Garífuna auf den Plantagen nicht mehr. ArbeiterInnen aus dem überbevölkerten Nachbarland El Salvador waren mit deutlich niedrigeren Löhnen zufrieden. Seither fahren die Männer zur See. Oder sie gehen illegal in die USA. Vor allem in New York gibt es eine grosse Garífuna-Gemeinde. Als Rentner aber kommen sie zurück. Garífuna haben ein liebevolles, fast religiöses Verhältnis zu ihrer Heimat. «Das Meer ist unser Vater, das Land unsere Mutter», sagt Secundino Torres. Dieses Elternpaar ist er bereit zu verteidigen.
Dort, wo «rein gar nichts passiert»
KolonistInnen haben schon immer behauptet, dass das Land, das sie sich untertan machten, menschenleer gewesen sei. Die weissen SiedlerInnen, die von der Ostküste Nordamerikas im 19. Jahrhundert in den Westen zogen, haben das genauso gesagt wie die ZionistInnen in Palästina Anfang des 20. Jahrhunderts: ein Land ohne Menschen für Menschen ohne Land. Auch Präsident Lobo will seine erste Modellstadt in einer Gegend errichten, in der angeblich «rein gar nichts passiert». Nur wandelt er die klassische Schutzbehauptung neoliberal ab: ein Land ohne Geld für Geld ohne Land. Menschen spielen keine Rolle mehr.
Lobos Mann, der das Geld ins Land locken soll, ist Octavio Sánchez, der Chef seines Kabinetts im Ministerrang. Man sieht dem Mittvierziger an, dass er sein ganzes Arbeitsleben in Büros verbrachte und auch vorher schon Bewegung eher scheute. Mit Nadelstreifenanzug und viel Pomade im schwarzen Haar empfängt er im Vorzimmer des Saals, in dem jeden Montag der Ministerrat tagt: Möbel im Louis-XVI-Stil, die Wände aus dunklem Tropenholz, darauf eine Galerie früherer Präsidenten in Öl. Unter kaum einem steht als Amtsbezeichnung «verfassungsgemässer Präsident». Die meisten werden als «Staatschef», «ernannter Präsident» oder «provisorischer Präsident» vorgestellt. Viele von ihnen tragen Uniform. Honduras ist die Republik der Putsche. Sánchez spricht sanft und gerät ins Schwärmen, wenn er von den geplanten Modellstädten spricht. «Wir werden Stabilität schaffen mitten in der Instabilität», sagt er. Kapital werde ins Land strömen, aus Armut werde Reichtum und die erste Modellstadt werde den Anstoss für die Gründung von weiteren geben. «In dreissig Jahren wird die Mehrheit der Honduraner in solchen Zonen leben und arbeiten. Sie werden besser ausgebildet sein und besser verdienen, und niemand wird mehr aus Armut in die USA auswandern.» Der rechtliche Rahmen dafür ist schon geschaffen und vom Parlament als Gesetz verabschiedet worden.
«Besondere Entwicklungsregionen»
Im Dekret 123 von 2011, das im Gesetzblatt vom 23. August vergangenen Jahres veröffentlicht wurde und damit in Kraft trat, werden Modellstädte «Besondere Entwicklungsregionen» genannt, mit dem spanischen Kürzel RED. Sie sind vollkommen abgekoppelt vom Rechtssystem von Honduras, die Regierung in Tegucigalpa darf sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten einmischen. Das entscheidende Selbstverwaltungsgremium ist eine sogenannte Transparenzkommission aus bis zu neun Mitgliedern, die dann einen Gouverneur bestimmen. Diese Kommission wird zunächst von Lobo berufen und ersetzt dann ausscheidende Mitglieder selbst. Die Nationalität spielt dabei keine Rolle. «Wir stellen uns vor, dass ein paar Nobelpreisträger dabei sind und weltweit angesehene Unternehmer», sagt Sánchez.
Eine RED hat ihre eigene Verwaltung, eine eigene Gerichtsbarkeit und Polizei, ein eigenes Bildungs- und Gesundheitssystem. Ausserdem ist sie zollfreies Gebiet. Für die Einkommenssteuer gilt eine Obergrenze von zwölf Prozent, für die Steuer auf Unternehmensgewinne sechzehn und für die Mehrwertsteuer fünf Prozent. Honduras bekommt davon nichts. Alle Steuereinnahmen bleiben in der RED und werden von ihr selbst verwaltet. Der Gouverneur kann internationale Verträge abschliessen, Wirtschaftskonsulate im Ausland eröffnen und von AusländerInnen für einen Besuch ein Visum verlangen. Für HonduranerInnen genügt beim Grenzübertritt im eigenen Land ein Personalausweis.
Demokratische Wahlen sind nicht vorgesehen. So eine Sonderzone wird wie eine Aktiengesellschaft gemanagt. Den Chefplaner Sánchez stört das nicht. «Niemand wird gezwungen, in einer RED zu leben.» Was aber ist mit den Menschen, die jetzt schon dort leben, wo die erste Modellstadt entstehen soll?
«Vor hundert Jahren wurde unser Land an die Bananenkonzerne verschenkt», sagt Secundino Torres in El Triunfo de la Cruz. Dann kamen die grossen Viehzüchter, und nach einem verheerenden Wirbelsturm mit Milliardenschäden Ende 1998 setzte die Regierung auf Tourismus und vergab an der Küste freizügig Baugenehmigungen an internationale Hotelketten. Egal, ob dort Garífuna siedelten oder nicht. «Und heute wirft der Präsident unser Land den internationalen Konzernen hinterher.» Torres sagt «unser Land», obwohl das rechtlich gesehen meist nicht so ist. Die Garífuna kennen keinen privaten Landbesitz. Im Katasteramt ist der Boden der Gemeinde zugeordnet. Die Grenzen sind dabei in aller Regel eng um die besiedelte Fläche des Dorfes gezogen. Das Umland aber, das die BewohnerInnen für den Landbau brauchen, gehört meistens dem Staat. «Wir sind eine von vier Gemeinden, die es in Jahren der Auseinandersetzungen durchgesetzt hat, dass auch unser Umland zum Dorf gehört.»
Ein Landtitel alleine ist in Honduras wenig wert. Man kann sie rechtlich erkämpfen. Man kann aber auch einen Beamten bestechen. Man kann Gemeindeland einfach als Naturschutzgebiet ausweisen und so den eigentlichen Besitzern die Nutzung verbieten. Oder man kann per Dekret die Grenzen einer Gemeinde verschieben. In El Triunfo de la Cruz gibt es alle vier Varianten. Der Streit um ihr Land begann 1993, als die Nachbarstadt Tela, aus der die Garífuna einst vertrieben worden waren, ohne vorhergehende Konsultation ihre Grenzen ausweitete und El Triunfo de la Cruz plötzlich von einer selbstständigen Gemeinde zum Teilort wurde. Statt des gewählten Ältestenrats, der nach der Verfassung in Indígena-Gemeinden höchste Autorität ist, bestimmte der Bürgermeister von Tela einfach einen neuen. Seither gibt es zwei. «Es ist absurd», sagt Torres. «In der Hauptstadt werden wir empfangen, aber bei konkreten Entscheidungen vor Ort konsultiert der Bürgermeister seinen eigenen Ältestenrat.» Auseinandersetzungen zwischen den AnhängerInnen der beiden Gremien werden mitunter gewalttätig ausgetragen. Der verkrüppelte Arm von Torres ist eine Erinnerung daran.
Der grösste Teil ihres Landes ist für die BewohnerInnen von El Triunfo de la Cruz heute tabu. Der Staat hat den gesamten Küstenstreifen vom Dorf in Richtung Osten bis zur Gemeindegrenze zum Naturschutzgebiet erklärt. Nicht einmal mehr Palmstroh für die Dächer ihrer Häuser dürfen sie dort holen und eigentlich auch nicht mehr fischen – woran sich allerdings niemand hält. Aber Miguel Facussé, der reichste Unternehmer von Honduras und einer der Financiers des letzten Putschs, hat mitten in diesem Naturschutzgebiet die Genehmigung für den Bau eines grossen Anwesens bekommen. Sogar Wald durfte er roden und einen Berg einebnen, um einen Landeplatz für Helikopter anzulegen. Natürlich hat Facussé genauso wie die Garífuna einen Besitztitel über dieses Land.
Ein weiterer Unternehmer bekam die Genehmigung zum Bau eines Strandhotels. Rund um das Gelände liess er eine Mauer errichten. «Er wollte uns den Zugang zum Strand verwehren», sagt Alfredo López, der Chefredaktor des lokalen Radios Falume Bimetu. «Wir haben die Mauer im September vergangenen Jahres mit 200 Leuten inspiziert und dann einfach fünfzig Meter niedergerissen.» Derzeit sei Ruhe an dieser Front. Das Loch in der halb fertigen Mauer klafft noch immer. Bewaffnete Wächter des verhinderten Hoteliers stehen gelangweilt herum. Ob der aufgegeben hat oder irgendwann weiterbauen lässt, weiss niemand.
Paul Romers «Charter Cities»
«Falume Bimetu» heisst in der Sprache der Garífuna «süsse Kokosnuss». Die Frucht ist ihnen ein wesentliches Grundnahrungsmittel. «Kokos ist Leben», sagt López. «Wir machen alles daraus, sogar Schnaps.» Der sei nicht nur gut zu trinken, er habe auch heilende Wirkung bei allen möglichen Gebrechen. Das Radio erzähle von diesem Leben. Es sendet seit 1995, lebt ausschliesslich von Spenden und Schenkungen und werde weit über El Triunfo de la Cruz hinaus gehört, auch von Menschen, die keine Garífuna sind. «Vor allem wegen der Punta-Musik und weil wir keine Werbung haben.» López bestreitet täglich eine eigene Radioshow mit lokalen Nachrichten und ausführlichen Berichten über Landkonflikte, in Spanisch, damit sie nicht nur von Garífuna verstanden wird.
Natürlich ist er als Journalist Partei. Zweimal wurde das Häuschen, in dem das Studio untergebracht ist, niedergebrannt. Heute wird es von einer Videokamera überwacht. Seither ist Ruhe. Die BrandstifterInnen suchten sich ein neues Ziel und fackelten im April vergangenen Jahres das Haus des Chefredaktors ab. Wenn López’ Radioshow zu Ende ist, geht er zu seiner Ruine und baut sie selbst langsam wieder auf. Er, seine Frau und sechs seiner Kinder – drei weitere sind in die USA ausgewandert – leben derweil im Geräteschuppen. Die AttentäterInnen wurden nie gefasst.
López dagegen war schon im Gefängnis, sieben Jahre lang. Nicht etwa wegen seiner Berichterstattung – offiziell herrscht in Honduras Pressefreiheit. Man wollte ihm einen grösseren Drogendeal anhängen. Nach sieben Jahren wurde das Verfahren eingestellt, weil es keinerlei Beweise gab. López kam frei und wurde entschädigt. Er ist gross und stark und hat ein breites Kreuz. Die sieben Jahre haben ihn nicht gebrochen.
Octavio Sánchez im Präsidentenpalast in Tegucigalpa würde solche gesetzlosen Zustände «Instabilität» nennen, in die hinein er seine Insel der Stabilität bauen will. Er gibt gerne zu, dass die Idee nicht von ihm stammt und auch nicht von Präsident Lobo. Erfinder der Modellstädte ist ein US-Amerikaner: der Wirtschaftsprofessor Paul Romer vom Stanford Institute for Economic Policy Research. Der noch heute jungenhaft wirkende 55-Jährige mit sauber gescheitelter Bubenfrisur ist in Fachkreisen 1990 durch sein Romer-Modell bekannt geworden, bei dem es um die möglichst schnelle Umsetzung von Forschung in marktfähige Produkte geht. Das «Time»-Magazin führte ihn in jenen Jahren in der Liste der 25 einflussreichsten Nordamerikaner. Seit 2009 ist Romer von einer Idee umgetrieben, die er «Charter Cities» nennt. Mit solchen Städten könne die Armut aus der Welt verbannt werden. Romer ist heute Lobos Berater und mit diesem zusammen bereits nach Singapur und Südkorea gereist, um InvestorInnen für die erste Modellstadt zu suchen.
Ganz deckungsgleich sind die Vorstellungen von Präsident und Professor nicht. Nach Romers Theorie muss ein armes Land die Souveränität über das Gebiet der zu errichtenden Modellstadt an eine Industrienation weiterreichen. Oder mit seinen eigenen Worten: «Kanada entwickelt ein Hongkong in Kuba.» Lobo denkt nicht mehr national, sondern neoliberal: Statt eines Industrielandes will er InvestorInnen als neue Kolonialherren haben. Und noch etwas läuft nicht ganz nach Romers Plan: Eine Voraussetzung seiner Charter City ist, dass das Gebiet, auf dem sie entstehen soll, menschenleer ist. Das trifft auf die Karibikküste von Honduras nicht zu. Aber immerhin, es wird daran gearbeitet. «Im nächsten Jahr», verspricht Sánchez in seinem Büro im Präsidentenpalast, «werden Sie erste Ergebnisse sehen.»
Die honduranische Gewaltstatistik
Alle 74 Minuten ein Mord
Am 27. Januar 2010 wurde Porfirio Lobo Präsident von Honduras. Seit diesem Tag bis Ende 2011 wurden in dem gerade einmal acht Millionen EinwohnerInnen zählenden Land 12 838 Menschen ermordet – alle 74 Minuten ein Mensch, 19 an jedem Tag. Mit 82,1 Morden im Jahr pro 100 000 EinwohnerInnen ist Honduras weltweiter Spitzenreiter in der Kriminalitätsstatistik, weit vor den Nachbarländern El Salvador (66 Morde pro 100 000 EinwohnerInnen) und Guatemala (41,4). In der Schweiz sind es 0,7.
Das ist noch nicht lange so. Zwar war Honduras noch nie ein mustergültig ruhiger Rechtsstaat. Das Ausmass der Gewalt heute hat aber einen klaren Ausgangspunkt: den Militärputsch vom 29. Juni 2009 gegen den nach links tendierenden Präsidenten Manuel Zelaya. In den Monaten danach verfolgten Polizei und Armee ohne Rücksicht auf Gesetze den zivilen Widerstand gegen die PutschistInnen. Etwas weniger häufig und auffällig tun sie das heute noch. «Dieser Verlust des letzten Restes an Rechtsstaatlichkeit hat Honduras für nationale und internationale Mafias zu einem Territorium gemacht, auf dem sie mit vollkommener Straffreiheit operieren können», sagt der Soziologe Jorge Lara. Meist bleibt unklar, wer für welche Verbrechen verantwortlich ist. War es die Armee, die Polizei, das organisierte Verbrechen oder eine ganz private Abrechnung? Weniger als fünf Prozent der Morde werden aufgeklärt.
Präsident Lobo hat zwar nach etlichen Skandalen ein paar Dutzend Polizisten entlassen, die im Dienst verschiedener Mafias standen. Nach Ansicht von MenschenrechtlerInnen sind das aber viel zu wenige. Doch der Präsident hat seine eigene Strategie, um den Saustall der Sicherheitskräfte auszumisten: Anfang des Jahres stellte er evangelikale Prediger an, damit die den PolizistInnen Moral beibringen.
Toni Keppeler