Filipa César: Das fragile Gedächtnis der Bilder
Mit ihren filmischen Essays stellt sich die junge portugiesische Künstlerin Filipa César im Kunstmuseum St. Gallen der kolonialen Vergangenheit ihres Landes. Sie erweitert die Analyse ihres Mediums um eine politische Dimension.
Als Filipa César sich für das Filmschaffen in Guinea-Bissau zu interessieren begann, stiess sie mit ihrem Vorhaben in ihrer Heimat Portugal auf Skepsis. Doch die Künstlerin, 1975 in Porto geboren und seit 2001 in Berlin lebend, liess sich nicht beirren und reiste nach Bissau, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates, wo sie im nationalen Filmarchiv auf umfangreiches Material stiess.
Was ist interessant – und vor allem: für wen? Diese Frage steht im Zentrum von Filipa Césars künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Filmschaffen in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Guinea-Bissau, die in der filmischen Trilogie «Cacheu», «Conakry» und «Cuba» (alle 2012 entstanden) mündete.
Die Gleichgültigkeit seitens Portugals erstaunt wenig, zumal sich Filme aus der ehemaligen Kolonie als kompromittierend erweisen könnten. Für die Bevölkerung von Guinea-Bissau hingegen, für die die fast hundert Jahre dauernde Kolonisation bis heute sehr präsent ist, hat dieses Material eine ganz andere Relevanz.
Im Dienst der Revolution
Den Hintergrund von Césars filmhistorischer Recherche bildet der von Amílcar Cabral (vgl. «Antikolonialer Kampf») angeführte Unabhängigkeitskrieg mit Portugal von 1963 bis 1974. In dieser Zeit schickte Cabral vier junge GuineerInnen – Flora Gomes, Sana na N’Hada, Josefina Crato und José Bolama Cobumba – nach Kuba, damit sie dort das Filmhandwerk erlernen konnten. Cabrals Ziel war es, das Medium Film zur Bildung eines nationalen Bewusstseins sowie für revolutionäre Zwecke zu nutzen.
Neben Filmen dieser AutorInnen, die für die militante Phase guineeischen Kinos stehen, beherbergt das Archiv des nationalen Filminstituts (Instituto Nacional de Cinema e Audiovisual, INCA) auch Filme aus Ländern, die den Unabhängigkeitskampf unterstützt hatten, sowie mehrere Kopien von Filmen des vor einem Jahr verstorbenen französischen Regisseurs Chris Marker, der sich verschiedentlich im Land aufgehalten hatte.
Die Hauptrolle in «Cacheu» spielen vier Statuen aus der Kolonialzeit. Diese werden heute in der Festung der gleichnamigen Stadt aufbewahrt, die während der Kolonialzeit dem Sklavenhandel diente. Im Film montiert César eigene, vor Ort entstandene Fotografien mit Material aus dem Archiv – beispielsweise aus Markers «Sans Soleil» oder eine Szene aus «Mortu Nega» von Flora Gomes. Ausserdem zitiert die Schauspielerin Joana Barrios während eines performativen Vortrags in den Berliner Kunstwerken im März 2012 aus Erklärungen zur symbolischen Rolle dieser Denkmäler in der Geschichte des Landes. Einst von den Portugiesen zur Feier des Kolonialismus errichtet, wurden sie nach der Unabhängigkeit vom Sockel gezerrt und teilweise zerstört.
Zusammen mit der Überblendung unterschiedlicher Zeit- und Bildebenen im Film selbst manifestiert sich eine subtile Form der Ideologiekritik: Jede Aussage und jedes Bild ist vom jeweiligen Kontext abhängig, das gilt für die offizielle Geschichtsschreibung ebenso wie für die persönliche Erinnerung.
Fabriktor und Kinoausgang
Mit ihren Recherchen im INCA verfolgt Filipa César aber nicht nur eine künstlerische Absicht; vielmehr ist es ihr gelungen, das teilweise stark beschädigte Archivmaterial in Berlin digitalisieren zu lassen und es so vor dem vollständigen Zerfall zu retten. Inzwischen wurden die originalen Filmrollen mitsamt den digitalen Kopien wieder an das INCA zurückgegeben. Als Nächstes ist in Bissau, wo es kein funktionierendes Kino gibt, ein Workshop geplant, in dem die Filme der Öffentlichkeit gezeigt werden sollen.
Bereits 2007 hat Filipa César im Kunstmuseum St. Gallen an einer Gruppenausstellung mit dem Titel «Im Auge des Zyklons» teilgenommen. Im damals gezeigten Film «La Sortie du Cinéma» ist während zwölf Minuten ein verglaster Kinoausgang mit zwei Doppeltüren zu sehen, in dem sich das nächtliche Stadtleben spiegelt – begleitet vom Rattern eines Filmprojektors. Nichts Spektakuläres ereignet sich, ganz im Gegensatz zu den Erwartungen eines Publikums, das im Kino Spannung und Unterhaltung sucht. Gleichzeitig erinnert die statische Einstellung an den Film «Sortie d’Usine» der Brüder Lumière von 1895, der als erster vor Publikum aufgeführter Film der Filmgeschichte gilt.
In neueren Produktionen hat sich das Interesse der Künstlerin von medienspezifischen Reflexionen auf gesellschaftspolitische Themen ausgeweitet. Deutlich kommt dies im 2010 entstandenen Film «Porto, 1975» über eine ehemalige Sozialsiedlung in der Stadt, in der die Künstlerin in ebendiesem Jahr geboren wurde, zum Ausdruck. Wie bereits «La Sortie du Cinéma» ist der Film in einem «single shot», der nicht geschnittenen Sequenz einer 16-mm-Filmrolle, gedreht. Eine subjektiv geführte Kamera führt uns durch das Gebäude, an dem die Bauarbeiten 1975 – nach dem Putschversuch gegen die diktatorische Regierung durch das Militär – eingestellt worden waren. Für die Betrachterin, den Betrachter erlaubt diese körpernahe Kameraführung eine Unmittelbarkeit, als würde er oder sie selbst durch den Gebäudekomplex spazieren. Erst 2001 wurde die Renovierung des zur Architekturikone gewordenen Gebäudekomplexes wieder aufgenommen; inzwischen werden die ehemaligen Sozialwohnungen von Architektinnen und Designern bewohnt und sind so ein Beispiel der Gentrifizierung der nördlichen Innenstadt Portos geworden.
Der koloniale Blick
In «Embassy» (2011) schliesslich steht ein Fotoalbum aus der Kolonialzeit im Mittelpunkt, das sich im Staatsarchiv von Guinea-Bissau befindet. Konzentriert blättert der lokale Archivar und Journalist Armando Lona durch das Album mit Aufnahmen aus den vierziger Jahren. Dörfer, Schulen, Spitäler, aber auch Industriegebäude und Alltagsszenen sind in diesem ethnografischen Inventar der damaligen Kolonie festgehalten. In seinen Kommentaren ergänzt der Archivar den kolonialen Blick auf sein Land, wobei er immer wieder Brücken zur Gegenwart schlägt. Mit einfachsten Mitteln gelingt es César hier, Vergangenes und Gegenwärtiges kurzzuschliessen und damit das Gedächtnis an eine unrühmliche Epoche wachzuhalten, die – nicht nur in Portugal – gerne unter den Teppich gekehrt wird.
Die Ausstellung «Single Shot Films» von Filipa César im Kunstmuseum St. Gallen dauert noch bis zum 23. Juni 2013. Am 25. Mai findet ein Gespräch mit der Künstlerin statt. www.kunstmuseumsg.ch
Parallel werden im Kinok St. Gallen einzelne Filmausschnitte aus dem Archiv von Guinea-Bissau gezeigt. www.kinok.ch
Antikolonialer Kampf
Amílcar Cabral wurde am 12. September 1924 als Sohn kapverdischer Eltern in Bafatá, Guinea-Bissau, geboren. Im Alter von acht Jahren kehrte er mit seiner Familie auf die Kapverden zurück. 1945 erhielt er ein Stipendium zum Studium der tropischen Landwirtschaft in Lissabon, der Hauptstadt der damaligen Kolonialmacht Portugal. 1952 liess sich Cabral als Landwirtschaftsingenieur in Guinea-Bissau nieder, wo er vier Jahre später die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde (Partido Africano para a Independência da Guiné e do Cabo Verde, PAIGC) mitbegründete. 1963 rief die PAIGC zum bewaffneten Aufstand auf, der sich in der Folge zum Kolonialkrieg ausweitete. Am 20. Januar 1973 wurde Cabral in Conakry, Guinea, durch einen Armeeangehörigen der PAIGC erschossen. Einige Monate später erklärte Guinea-Bissau einseitig seine Unabhängigkeit, die nach der «Nelkenrevolution» von 1974 von Portugal anerkannt wurde.