Energiepolitik: «Die Grimsel?» – «Das ist ein Neben­schauplatz»

Nr. 17 –

Bringt das Stromgesetz, das im Juni zur Abstimmung kommt, die ökologische Wende? Oder bedroht es die Ökosysteme der Alpen? Patrick Hofstetter vom WWF und Katharina von Steiger vom Grimselverein sind sich nicht einig.

der Triftsee im Berner Oberland
Am Triftsee im Berner Oberland ist ein Stausee geplant … Foto: David Birri

Am 9. Juni stellt die Schweiz die Weichen für die Energiepolitik der nächsten Jahre: Sie stimmt über das sogenannte Stromgesetz ab. Der Name täuscht: Es geht nicht um ein neues Gesetz, sondern um Änderungen in mehreren Gesetzen, die es schon gibt – um eine äusserst komplexe Vorlage. Offiziell heisst sie «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien», oft auch «Mantelerlass» genannt. Das Parlament hat die Vorlage im Herbst 2023 mit grosser Mehrheit angenommen. Doch ein Referendum von Windkraftgegnern und Landschaftsschützerinnen kam zustande. Die SVP wirbt für ein Nein zum Stromgesetz, alle anderen grossen Parteien für ein Ja, ebenso fast alle Umweltverbände.

Zu den Ausnahmen gehört der Grimselverein. Er lehnt das Stromgesetz ab. Denn das Parlament hat sechzehn Wasserkraftprojekte hineingeschrieben, für die gilt, dass «das Interesse an ihrer Realisierung anderen nationalen Interessen grundsätzlich vorgeht». Die Liste geht auf den «Runden Tisch Wasserkraft» zurück, auf den sich die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Stromwirtschaft, Kantone, Fischereiverband, WWF und Pro Natura 2021 geeinigt haben. Zu den Projekten gehören der geplante Triftstausee im Gadmental und eine Erhöhung der Grimselstaumauer. Beide bekämpft der Grimselverein seit Jahren. Die Meiringer Psychotherapeutin und Alpinistin Katharina von Steiger (66) vertritt im WOZ-Streitgespräch die Position des Vereins. Für ein Ja zum Stromgesetz plädiert Patrick Hofstetter (58), Klimaschutz- und Energieexperte des WWF. Er hat als Mitglied der Schweizer Delegation an allen wichtigen internationalen Klimakonferenzen der letzten Jahre teilgenommen.

mehrteilige Fotomontage (1/4): ein Kernkraftwerk überlagert den Triftsee, wo eine Stausee geplant ist
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mehrteilige Fotomontage (4/4): ein Kernkraftwerk überlagert den Triftsee, wo eine Stausee geplant ist
… manche sehen als Alternative bloss den Bau neuer Atomkraftwerke. Fotos: David Birri, Patrick Federi, Unsplash. Montage: WOZ

WOZ: Katharina von Steiger, Patrick Hofstetter: Wenn Ihre Nachbarin fragt, wie Sie am 9. Juni abstimmen, was sagen Sie?

Katharina von Steiger: Ich sage ihr, ich stimme Nein – weil mit dem Stromgesetz eine empfindliche Schwächung von Natur-, Gewässer- und Landschaftsschutz verbunden ist. Das Stromgesetz bleibt einer Wachstumslogik verhaftet, die man möglichst schnell überwinden sollte. Ausserdem werden beim Ausbau der Solarenergie Grossanlagen zu stark gefördert.

Patrick Hofstetter: Ich stimme Ja, weil wir mit dem Stromgesetz einen ausgewogenen Mix aus erneuerbaren Energien fördern. Es bringt endlich auch Massnahmen gegen die Stromverschwendung und erlaubt uns, aus den Klimakillern Öl, Gas, Benzin und Diesel und auch aus der Atomkraft auszusteigen. Und Solaranlagen auf Gebäuden werden zur sicheren Investition.

Portraitfoto von Katharina von Steiger
Katharina von Steiger: «Je mehr Entgegenkommen man zeigt, desto mehr zieht die Natur den Kürzeren.»

Katharina von Steiger, zur Vorlage gehören sechzehn neue Wasserkraftprojekte. Fünfzehn davon waren Teil der Vereinbarung des «Runden Tisches Wasserkraft» von 2021. Ist die Wasserkraft der Grund, warum Sie Nein stimmen?

Von Steiger: Die Wasserkraftprojekte sind das Hauptproblem. An der Delegiertenversammlung der SVP hat Bundesrat Albert Rösti gesagt, bei einem Ja zum Stromgesetz müsse man diese sechzehn Projekte vor Gericht einfach durchwinken. Dieser Vorrang ohne Interessenabwägung ist verfassungswidrig. Der runde Tisch hat garantiert, dass für jedes einzelne Projekt eine Interessenabwägung möglich bleibt. Aber das Parlament hat die Abwägung drastisch erschwert. Seit Jahrzehnten versuchen wir vom Grimselverein, wertvolle Landschaften wie das Grimselgebiet und die Trift zu retten. Für uns ist es unvorstellbar, jetzt einfach zu sagen: Gut, macht halt. Ich sehe das Stromgesetz auch sonst kritisch. Es bevorzugt in der Solarenergie Grossanlagen und speist kleine Produzenten laut Verordnung mit einem garantierten Minimalpreis von nur 4,6 Rappen für eine Kilowattstunde Solarstrom ab. Das ist schlechter als heute. Ausserdem ist das Stromgesetz ein kaum durchschaubares Konglomerat von Partikularinteressen, die Vorlage verletzt das Prinzip der Einheit der Materie.

Hofstetter: Wir gehen von dem aus, was im Gesetz, in der Verordnung und in den Materialien steht. Das ist auch vor Gericht relevant. Wenn Rösti salopp von «Durchwinken» spricht, geht das so natürlich nicht. Es gibt nach dem Stromgesetz keinen absoluten Vorrang für die sechzehn Wasserkraftprojekte, nur einen grundsätzlichen.

Portraitfoto von Patrick Hofstetter
Patrick Hofstetter: «Wir wollen, dass die leidige Diskussion um neue AKW unnötig wird.»
  

Ist dieser Unterschied relevant?

Hofstetter: Ja, das ist juristisch eine wichtige Unterscheidung. Es bedeutet, dass der Vorrang im Einzelfall geprüft werden muss. Die Verfassungsmässigkeit ist gewährleistet. Für den runden Tisch wurden aus einer langen Liste von zum Teil sehr schlechten Projekten die besten ausgewählt: jene, bei denen die Menge an steuerbarem Winterstrom besonders hoch ist, die aber möglichst geringe Auswirkungen auf Biodiversität und Landschaft haben. Und es gibt zusätzliche Ausgleichsmassnahmen: So müssen zum Beispiel wertvolle Lebensräume geschützt oder Gewässerlebensräume revitalisiert werden. So sollen die Projekte insgesamt einen deutlichen Mehrwert für die Natur schaffen. Auch wir finden, dass die Wasserkraft in der Schweiz nicht mehr viel weiter ausgebaut werden soll. Aber zum Kompromiss des runden Tisches stehen wir.

Von Steiger: Der runde Tisch ist ein folgenreicher Sündenfall. Die Wahl der fünfzehn Projekte ist intransparent. Es gab künstlichen Zeitdruck, kein Protokoll. Die Methodik der Bewertung war dubios und blieb unter Verschluss. Man muss sich auch fragen, ob ein Gremium, das einseitig zusammengesetzt und nicht demokratisch legitimiert ist, einen so gewaltigen Einfluss haben soll. Der neue Richtplan des Kantons Bern etwa ist total auf dem runden Tisch abgestützt. Und was heisst «Mehrwert für die Natur»? Wenn ich an die Schwemmebene auf der Grimsel denke, die immer grösser und schöner wird: Wie soll man eine Ausgleichsmassnahme finden, die das kompensiert? So etwas kann man einfach nicht ersetzen, schon gar nicht durch Auengebiete in viel tieferen Lagen. Das sind so wertvolle Gegenden, die müsste man einfach sein lassen. Finger weg.

Hofstetter: Ich glaube, ihr Gegner:innen schätzt den Status quo falsch ein. Der Status quo ohne Stromgesetz bedeutet nicht, dass diese sechzehn Projekte nicht gebaut werden, sondern dass noch viel mehr Wasserkraftprojekte vorangetrieben werden. Das will die Wasserkraftlobby; viele Gemeinden und einige Kantone wollen es auch.

Ein Nein am 9. Juni schützt nicht vor dem Wasserkraftausbau?

Hofstetter: Im Gegenteil! Der Druck auf die Gewässer würde viel grösser, all die schlechten Projekte kämen wieder aus der Schublade.

Aber das Stromgesetz ist auch keine Garantie gegen einen weiteren Wasserkraftausbau.

Von Steiger: Ich denke, der Druck ist so oder so hoch, das Stromgesetz ändert nicht viel. Klarer Einsatz für diese Naturwerte ist aussichtsreicher als voreilige Zustimmung oder die Suche nach sogenannten Kompromissen. Wir haben auch ein paar Jahre mit den Kraftwerken Oberhasli (KWO) dialogisiert, aber wenn so unterschiedlich starke Partner verhandeln, werden die Interessen des Stärkeren durchgesetzt. Unsere Erfahrung ist: Je mehr Entgegenkommen man zeigt, desto mehr ziehen Natur und Gewässer den Kürzeren.

Im Herbst 2022 schlugen die Umweltverbände Alarm: Mitte-Rechts wollte Kraftwerke auch in Biotopen von nationaler Bedeutung ermöglichen. Das wurde verhindert. Wo hätte der WWF die rote Linie gezogen?

Hofstetter: Wenn Biodiversitäts- und Klimakrise gegeneinander ausgespielt würden. Das ist nicht mehr der Fall. Für uns ist es eine grosse Errungenschaft, dass man mit dem Stromgesetz Eignungsgebiete auf kantonaler Ebene bezeichnen muss, die höhere Anforderungen als heute erfüllen müssen. Damit gibt es eine Schutz-Nutzen-Planung: Man nimmt Druck von den Naturgütern ausserhalb der Eignungsgebiete weg. Das ist sogar ein Fortschritt gegenüber heute.

Von Steiger: Ich habe das anders verstanden. Das Stromgesetz schützt Biotope, wenn sie vor dem 1. Januar 2023 ins Inventar aufgenommen wurden. Und seither prüft man gar nicht mehr, ob ein Gletschervorfeld die Kriterien fürs Biotopinventar erfüllen würde. Ausserdem können Auenbiotope nun in Restwasserstrecken liegen – so werden sie zerstört, denn sie sind auf Wasser angewiesen. Und der Bundesrat darf quasi im Alleingang bestimmen, ob ein Kraftwerk von nationalem Interesse ist. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass das Gesetz in unserem Sinn interpretiert wird.

Hofstetter: Ja, in Ausnahmefällen darf jetzt eine Interessenabwägung stattfinden, wenn nur die Restwasserstrecken durch die Auen führen würden. Aber die Schutzziele der Auen, ihre Lebensräume und Arten müssen nach wie vor erhalten bleiben.

Von Steiger: Aber die Grimsel?

Hofstetter: Klar, die Erhöhung der Grimselstaumauer ist drin.

Von Steiger: Aber da ist eine fantastische Schwemmebene bedroht, die die Kriterien für das Biotopinventar längst erfüllen würde. Ich verstehe schon, wieso man aus juristischen Gründen diese Grenze auf den 1. Januar 2023 gesetzt hat. Aber fachlich, von der Natur her gedacht, ist es falsch. Ausserdem ist auch ein Moor bedroht, das heute schon unter Schutz steht. Die KWO planen seit 1986 in einem geschützten Gebiet. Und niemand sagt, es sei eine Zwängerei, sie sollten endlich aufhören.

Hofstetter: Ich möchte der Diskussion nicht ausweichen, Katharina, aber die Grimsel ist ein Nebenschauplatz. Innerhalb dieser Vorlage sind die ganzen sechzehn Wasserkraftprojekte ein Nebenschauplatz. Die Frage ist nicht: Wie sähe das Stromgesetz in einer idealen Welt aus? Sondern: Wird etwas ohne Stromgesetz auch gebaut oder nicht? Und bei der Grimsel ist die Antwort sternenklar: Es wird. Darum müssen wir doch die Frage stellen: Was ändert das Gesetz? Ist es insgesamt ein Fortschritt? Aus unserer Sicht fällt die Abwägung eindeutig positiv aus.

Gut, kommen wir zu den positiven Elementen.

Hofstetter: Es gibt viele. Beispielsweise werden die Stromlieferanten endlich dafür verantwortlich sein, etwas gegen die Stromverschwendung zu tun – vierzig Jahre nachdem Kalifornien ein solches Instrument eingeführt hat. Inzwischen haben es auch mehr als die Hälfte der EU-Länder, und es bewährt sich.

Die Lieferanten verantwortlich zu machen, dass der Strom nicht verschwendet wird – ist das nicht ein Widerspruch? Die wollen ja Strom verkaufen.

Hofstetter: In der Verordnung steht, dass zwei Prozent des Vorjahresverbrauchs in Form von Einspar- und Effizienzmassnahmen reduziert werden müssen. Damit eröffnet sich ein neuer Markt, der Effizienzdienstleistungsmarkt. Der Stromlieferant kann entscheiden, selber in den Markt einzusteigen, oder Einsparungen kaufen, die andere anbieten. So wird Einsparen endlich auch ein Faktor in der Businesswelt. Ein weiterer wichtiger Vorteil sind die Bedingungen für Fotovoltaik auf Gebäuden. Denn der Ausbau der Erzeugung von erneuerbarem Strom soll gemäss Albert Rösti zu neunzig Prozent auf bestehender Infrastruktur stattfinden. Auswirkungen auf die Biodiversität können so minimiert werden.

Aber klappt das auch?

Hofstetter: Dafür werden mit dem Stromgesetz möglichst viele Hindernisse ab- und Anreize aufgebaut. Damit ein Investor auch sicher sein kann, dass er kein Geld verliert, gibt es die gleitende Marktprämie: Wenn der Strommarktpreis tief ist, bekommt man eine Förderung, wenn er hoch ist, gibt man Geld zurück. Ausserdem sind Elektrizitätsgemeinschaften vorgesehen, um den Eigenverbrauch zu optimieren, neu auch in ganzen Quartieren oder sogar in einer ganzen Gemeinde.

Ist das nicht unfair gegenüber all den Leuten, die keine Häuser haben und darum auch keine Dächer, in die sie investieren können?

Hofstetter: Es wäre unfair, wenn man damit reich werden könnte. Aber in der Strombranche ist man mit wenig Gewinn zufrieden. Man will eine Rendite von fünf Prozent – nicht über zehn Prozent, wie es in den meisten anderen Sektoren als Benchmark gilt. Das gibt es in der Strombranche kaum – nur wenn man ins Trading geht. Aber nicht für einen Kraftwerksbetreiber. Mit einer kleinen Fotovoltaikanlage wird niemand reich.

Von Steiger: Ich habe kein Vertrauen, dass sich das so prächtig entwickeln wird. Ich finde die Umweltorganisationen sträflich gutgläubig. Vieles im Stromgesetz ist vage formuliert, als hehre Absichten, gute Ziele – Ausgestaltung und Umsetzung überlässt man anderen Kräften.

Hofstetter: Das ist so. Bei den sechzehn Wasserkraftprojekten haben wir Planwirtschaft, beim Rest haben wir Markt. Aber letztes Jahr wurden über 45 000 Solardächer gebaut, ohne dass der Staat gesagt hat, wo man was bauen soll. Wenn wir den Solarzubau wollen, ist es entscheidend, dass die Marktbedingungen stimmen.

Von Steiger: Aber der Zubau ist sowieso im Gang, etwa doppelt so schnell, wie das Bundesamt für Energie prognostiziert hat. Allein mit dem letztjährigen Zubau wird in den nächsten Jahren gleich viel Winterstrom produziert, wie ein Kraftwerk in der Trift und der Ausbau des Grimselkraftwerks liefern würden.

Hofstetter: Aber der Solarzubau ist nur knapp halb so schnell, wie wir ihn brauchen, um die Dekarbonisierung zu erreichen. Die 1,5 Gigawatt Zubau vom letzten Jahr wollen wir auf 2,5 Gigawatt jährlich steigern. Der «game changer» sind wirklich die Förder- und Einspeisebedingungen. Für die Gebäude sind ja die Kantone zuständig, und die kantonale Energiedirektorenkonferenz wird diesen Sommer eine neue Empfehlung beschliessen, die den Solarausbau auf Dächern ebenfalls vorantreibt.

Brauchen wir dann überhaupt noch Solaranlagen auf Freiflächen?

Von Steiger: Nein. Das Potenzial auf Dächern und an Fassaden von Ein- und Mehrfamilienhäusern ist erst zu fünf Prozent genutzt – da kommt doch eine Verbauung von freiem Gelände nicht infrage!

Hofstetter: Vereinzelt können Freiflächenanlagen an geeigneten Standorten einen ergänzenden Beitrag leisten, um die Energiewende zu beschleunigen. Die Anlagen in den Alpen sind aber Teil eines anderen Gesetzes, des sogenannten Solarexpress. Und wie gesagt: Rösti geht von neunzig Prozent Zubau auf bestehender Infrastruktur aus. Das ist nah an der Zielgrösse der Umweltverbände.

Von Steiger: Ich fände es wichtig, nicht zu früh nur auf die politische Durchsetzbarkeit zu schielen. Nicht schon von vornherein einzulenken bei Projekten, mit denen wir nicht einverstanden sind. Das ist auch meine Haltung gegenüber Freiflächenanlagen. Man könnte auch mal sagen: «Es längt jetzt!» Es kann nicht sein, dass der Energieverbrauch immer weiter steigt.

Hofstetter: In Bern geht es halt vor allem darum, Mehrheiten zu finden. Wir sind unter Zeitdruck, wir wollen ein neues klimaverträgliches Energiesystem. Bis 2035 wollen wir Umweltverbände aussteigen aus Öl, Gas, Benzin und Diesel. Wir wollen auch, dass die leidige Diskussion um neue AKW unnötig wird, weil wir bereits ein neues Energiesystem haben. Darum ist es sinnvoll, mehrheitsfähige Lösungen zu suchen. Auch als grosser Umweltverband sind wir zu schwach, unsere Vision allein durchzudrücken.

Aber es geht hier um eine Grundsatzfrage. Der WWF versucht, die Wachstumswirtschaft im Zaum zu halten, aber hinterfragt sie nicht grundsätzlich.

Hofstetter: Dass die Stromlieferanten Einsparungsmassnahmen anbieten müssen, ritzt schon am Credo des ständigen Wachstums. Der Gesamtenergieverbrauch wird mit der Dekarbonisierung abnehmen.

Viele stellen sich die Energiewende allerdings simpel vor: weiter wie bisher, einfach mit Strom statt Öl.

Von Steiger: Ja, das ist offensichtlich, wenn man sieht, welche Karossen herumfahren, jetzt einfach elektrisch betrieben statt mit Benzin. Man sprach immer davon, dass sauberer Strom dreckigen ersetzen soll. Aber in Wirklichkeit wuchs einfach beides. Global wächst der Kohlestromkonsum immer noch. Es braucht verbindliche Massnahmen, damit eine sauberere Energiequelle eine dreckige wirklich ersetzt.

Hofstetter: Da gebe ich dir recht. Dass es genug erneuerbaren Strom hat, bedeutet nicht, dass man weniger fossile Energie verbraucht. Man muss die Dekarbonisierung aktiv vorantreiben. Dafür braucht es gesetzliche Spielregeln, denn wenn es von selbst passieren würde, wäre es schon passiert. Aber nicht das Stromgesetz, sondern das CO₂-Gesetz wäre dafür da, die Dekarbonisierung sicherzustellen. Leider bringt uns die letzte Revision nicht die nötigen Schritte vorwärts.

Welche Rolle soll die Windkraft bei der Energiewende spielen?

Hofstetter: Die grossen Umweltverbände, also Birdlife, Pro Natura, Greenpeace, die Schweizerische Energie-Stiftung und WWF, haben eine gemeinsame Position zum Wind erarbeitet. Wir fänden dreissig Windparks mit je zehn Turbinen, also total 300, eine sinnvolle Zielgrösse für die Schweiz. Österreich hat heute schon über 1400 Turbinen. Für 300 lassen sich Orte finden ausserhalb von Schutzgebieten, Zugvogelrouten und Fledermauslebensräumen, wo man bauen kann, ohne die Biodiversität zu gefährden. Windkraftwerke haben den Vorteil, dass sie zwei Drittel des Stroms im Winter liefern, und wir müssen ja primär die Winterstromversorgung stärken. Darum fänden wir 300 Turbinen eine sinnvolle Ergänzung – mit einer guten Planung, einer besseren als bisher.

Bei der Windkraft sind die Positionen stark polarisiert. Die einen verteufeln jede Windturbine, andere verharmlosen ihre Auswirkungen, etwa auf Vögel.

Hofstetter: Genau. Es ist schade, dass der Verein Freie Landschaft Schweiz mit seiner kategorischen Ablehnung zur Polarisierung beiträgt. Als Gegenreaktion haben sich ein paar grundsätzliche Befürworter zu vehementen Befürwortern gemausert, was einer sachlichen Diskussion nicht dienlich ist. Das Stromgesetz geht mit den erwähnten Eignungsgebieten in die richtige Richtung.

Die SVP ist die einzige grosse Partei, die für ein Nein zum Stromgesetz plädiert. Was löst das bei Ihnen aus, Katharina von Steiger?

Von Steiger: Wir wollen nichts mit der SVP zu tun haben. Es ist verlogen, dass sie von Landschaftsschutz spricht, ihre Absichten versteckt.

Aber ein Nein wäre ein wichtiger Sieg für die Partei.

Von Steiger: Das weiss ich nicht – die SVP hat einen Bundesrat, der dermassen für ein Ja weibelt, da ist es vielleicht doch nicht so ein grosser Erfolg, wenn man ihn abschiesst? Wir sind sicher in einem Dilemma. Die meisten vom Grimselverein finden die Anliegen des Stromgesetzes im Prinzip gut. Aber wir können nach fast vierzig Jahren Einsatz für eine Landschaft nicht plötzlich sagen: Jetzt hören wir auf. Diese Landschaften sind eben kein Nebenschauplatz. Darum kann ich nicht Ja stimmen.

Hofstetter: Ich bin gespannt, welche Rezepte die SVP präsentieren wird. Vermutlich will sie die Wasserkraft noch stärker ausbauen und gleichzeitig das Restwasser zum Versiegen bringen. Das wird Katharina nicht freuen – und uns auch nicht. Und sie wird die bestehenden AKW so lange wie möglich betreiben wollen, dazu neue planen. Ich bin gespannt, ob die Basis da mitmacht.

Sie hoffen, dass wie bei der AHV ein Teil der SVP-Basis der Parteileitung nicht folgt?

Hofstetter: Davon bin ich überzeugt. Die SVP kann nicht erklären, warum mit einem Nein die Energieversorgung der Schweiz sicherer werden soll.

Katharina von Steiger, erwarten Sie, dass mit einem Nein die Energiepolitik besser wird?

Von Steiger: Nein. Wie gesagt, ich bedaure sehr, dass die Umweltorganisationen nicht viel entschlossener für eine Veränderung der Politik kämpfen. Und ich wäre für ein gutes Elektrizitätsabkommen mit der EU, das würde das Interesse an Wasserkraft, die vor allem dem Stromhandel dient, auch mindern.

Also mehr importieren? Wie gewährleisten Sie, dass das ökologischer Strom ist?

Von Steiger: Zuerst ginge es darum, selber zu speichern und weniger zu verbrauchen. Und ich möchte noch etwas Grundsätzliches sagen. Wir sind ein kleiner, bescheidener Umweltverein. In den letzten Jahren wurden wir langsam, aber sehr effizient in die Extremistenecke gedrängt. Medien und Parteien werfen uns vor, wir seien Fundamentalisten, radikal und nicht kompromissbereit. Sogar frühere linke Mitstreiter diffamieren uns. Ich sehe diese Entwicklung mit Sorge, denn mir scheint: Wir haben nichts geändert an unserer Argumentation. Es ist die Gesellschaft, die nach rechts rückt. Auf der Basis der Grenzen des Wachstums versuchen wir einzustehen für die letzten Reste von unversehrten Naturräumen. In der Erklärung des runden Tisches steht, dass im Einzelfall geprüft werden solle, welches Kraftwerk man baut und welches nicht. Aber ihr solltet einmal erleben, was passiert, wenn man darauf besteht, dass es geprüft wird! Das hat mit einer sachlichen Diskussion nichts mehr zu tun.