Grimselstaudamm: Wo das Wetter immer schön ist oder gut

Nr. 36 –

Die Staumauer am Grimselsee soll erhöht werden. Dies hat das Berner Kantonsparlament am Mittwochnachmittag entschieden. Doch was eine Erhöhung energiepolitisch bringt, ist ungewiss. Klar ist: Eine schweizweit einmalige Moorlandschaft ist buchstäblich dem Untergang geweiht.

Milchig-matt liegt er da, der Grimselsee, von Südwesten her dräut eine schwarze Wolkenwand. «Es gibt in diesem Fall keine Interessenabwägung», diktiert Peter Anderegg, mitten auf der 114 Meter hohen Staumauer stehend, ins Telefon. Die JournalistInnen rufen heute wieder einmal an, beim Präsidenten des Grimselvereins, denn in einer Woche wird sich entscheiden, ob der Berner Grosse Rat der Erhöhung der Staumauer um 23 Meter zustimmt – und damit der Vergrösserung des Grimselsees. Auf dem Spiel steht die schweizweit einzigartige Moorlandschaft Sunnig Aar, wo farbenfroher Türkenbund und knorrige Arven zu Hause sind und die 2004 definitiv ins Moorlandschaftsinventar des Bundes aufgenommen wurde.

Am letzten Mittwoch hat nun das Berner Parlament die Erhöhung der Staumauer deutlich mit 139 zu 14 Stimmen gutgeheissen. Der Entscheid ist die jüngste, keinesfalls aber die letzte Etappe im langen Ringen von Kraftwerksbetreibern, Politik, Behörden und Umweltverbänden rund um die Stromproduktion an der Grimsel. Ende der achtziger Jahre präsentierten die Kraftwerke Oberhasli (KWO) das Projekt «Grimsel-West»: Im Stausee sollte eine zweite Staumauer von rund 200 Metern Höhe errichtet werden, was das Gesamtvolumen des Sees vervierfacht hätte. Der Grimselverein wurde gegründet, rund 1100 Einsprachen gingen ein. Zur Jahrtausendwende wurde das Projekt aufgrund von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen redimensioniert.

Das neue Projekt «KWO plus» zielt auf einen Ausbau der bestehenden Anlagen zur Stromerzeugung sowie auf den Bau eines zusätzlichen Pumpspeichers im Kraftwerkpark der Grimselregion, in der es insgesamt vier Stauseen gibt, die für die Energieerzeugung genutzt werden. Beide Vorhaben wurden vom Grimselverein und den Umweltverbänden bekämpft, nach Vermittlungsanstrengungen der Berner Regierungsrätin Barbara Egger-Jenzer verzichteten die UmweltschützerInnen jedoch auf Einsprachen. Einzig an der Einsprache gegen die 260 Millionen Franken teure Vergrösserung des Grimselsees hielten die Umweltverbände fest.

Es beginnt zu regnen auf der Grimsel, und von den Hängen rinnt das Wasser hinab in den milchigen Speichersee. «Die Mauererhöhung ist komplett unnütz», sagt Peter Anderegg. «Keine zusätzliche Kilowattstunde Strom wird damit produziert.» Die geplante Vergrösserung des Sees bringt zwar ein Mehrvolumen von 75 Prozent. Doch die Anlagen, die zu einer höheren Energieerzeugung nötig wären, fehlen. Der See soll lediglich mehr von jenem Wasser, das auf natürlichem Weg von den Bergen kommt, fassen können. In den wasserarmen Monaten im Winter, wenn Stromverbrauch und -preise hoch sind, soll so Wasser übrig bleiben, um die Turbinen anzutreiben oder um bestehende Pumpspeicher zu füllen. Es geht an der Grimsel also nicht um eine Mehrproduktion, sondern lediglich um die Verlagerung von Energie.

Speicherung statt Produktion

«An der Grimsel ist das Wetter entweder schön, oder es ist gut», sagt KWO-Chef Gianni Biasiutti – schön, wenn die Sonne scheint, und gut für die KWO, wenn der Regen den See füllt oder, besser gesagt, nach der Vergrösserung füllen wird. «Es wurde von unserer Seite nie behauptet, mit einer Speichervergrösserung könne mehr Energie gewonnen werden», so Biasiutti, «aber der grössere Speicher eröffnet uns mehr Möglichkeiten, genau zum richtigen Zeitpunkt zu produzieren – zum Beispiel dann, wenn nicht genügend Strom aus Sonnen- oder Windenergie erzeugt und der Bedarf nicht gedeckt werden kann. Insofern kommt den Wasserspeichern eine wichtige Funktion als Puffer zu.»

Seit geraumer Zeit werden Stimmen laut, die nicht nur die Effizienz, sondern vor allem die längerfristige Wirtschaftlichkeit von Wasser als Stromspeicher anzweifeln. Die vagen wirtschaftlichen Perspektiven bestreitet auch Biasiutti nicht: «Der Strompreis ist aufgrund der nach wie vor grossen Anzahl an CO2-Zertifikaten und der massiven Subventionierung der Solarenergie derzeit unanständig tief. Darum sind die Perspektiven für die Wirtschaftlichkeit der Wasserkraft im Moment tatsächlich nicht rosig.» Die stete Verbilligung des Stroms, so Biasiutti, könne nicht das Ziel sein. Einerseits, weil billige Strompreise kaum zum Energiesparen anregen, andererseits, weil die Pumpspeicherung für Betriebe wie die KWO nur dann rentabel ist, wenn sie ihren Strom über dem täglichen Durchschnittspreis verkaufen können.

Die tiefen Strompreise, die die Geschäfte der KWO ruinieren, sind gemäss Gianni Biasiutti auch der Energiewende nicht zuträglich. «Die Speicherung von Energie ist ein Schlüsselelement im Bezug auf die Energiezukunft, und es muss möglich sein, sie künftig auf irgendeine Art und Weise anständig zu entschädigen», sagt er. Auch darüber, wie das geschehen soll, wird derzeit debattiert. So schlug etwa Kurt Rohrbach, Chef des Berner Energiekonzerns BKW, dem die KWO zur Hälfte gehört, unlängst vor, dass die ProduzentInnen von Sonnen- und Windenergie die Speicherung mitfinanzieren sollten – sprich: Es wird viel Geld in letztendlich wenig effiziente Anlagen investiert, die auf dem Markt nur dank Subventionen bestehen können.

«Ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Energieingenieur Heini Glauser über die Möglichkeiten, die sich durch eine Vergrösserung des Sees in Sachen Versorgung ergeben könnten. Und er gibt ausserdem zu bedenken: «Die KWO verkaufen ihren Strom dann, wenn der Preis am höchsten ist. Mit dem Ausgleich von Versorgungslücken bei den erneuerbaren Energien hat das wenig zu tun.» Dennoch, so Glauser, sei höchst zweifelhaft, dass sich das Unterfangen für die KWO in Zukunft finanziell lohnen werde: «Es ist nicht sicher, ob zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Staudamms beim Strompreis überhaupt noch grosse Differenzen zwischen unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten bestehen.» Wenn die europäischen Nachbarländer ihre Solarfarmen und Windparks weiter im derzeitigen Masse ausbauen und regional Ergänzungskraftwerke gebaut werden, rentiert der Strom aus dem vergrösserten Stausee nicht.

Streit ums Moor

Bleibt die Frage, wozu die Vergrösserung des Grimselsees tatsächlich gut ist. «Ein Prestigeprojekt», sagen etliche GegnerInnen. «Boni», mutmasst Peter Anderegg, von Beruf Wirtschaftsprüfer, und erklärt: «Anstatt die notwendige Sanierung der Staumauer mit den dafür vorgesehenen Rückstellungen zu bewerkstelligen, kreiert man lieber ein neues Projekt – für das von den InvestorInnen Geld zur Finanzierung lockergemacht wird – und verteilt die verbleibenden Rückstellungen unter den Eignern.» Eine kühne These, gewiss. Gewiss ist jedoch auch: Der Bund sieht eine Erhöhung der Grimselstaumauer in seinem Atomausstiegsszenario nicht vor. «Demnach», so Peter Anderegg, «ist sie für die Energiewende auch nicht nötig.»

Die vom Grossen Rat beschlossene Erhöhung der Staumauer wird von den Umweltverbänden angefochten werden. Denn die Moorlandschaft ist – auf der Basis der Rothenthurminitiative zum Schutz der schweizerischen Moorlandschaften – eigentlich verfassungsrechtlich geschützt. Dies, obwohl der Bund bei Aufnahme des Moors ins Bundesinventar 2004 den Perimeter so weit verkleinert hat, dass die höhere Mauer gebaut werden könnte. Denn ein bereits existierendes Bundesgerichtsurteil stellt das Vorgehen des Bundes infrage. Im Zürcher Oberland, wo die Moorlandschaft Wetzikon/Hinwil für den Bau eines Autobahnabschnitts hätte verkleinert werden sollen, entschied das Bundesgericht zugunsten der Umweltverbände.

Der Entscheid des Berner Kantonsparlaments war absehbar: Eine knappe Mehrheit der Grünen sowie die SP äusserten im Vorfeld der Debatte nach Jahren des Widerstands plötzlich Zustimmung zur Mauererhöhung – dies auch, um den Ruf als ewige Verhinderer der Energiewende loszuwerden. Die allfälligen Vorteile der Erhöhung von Staumauern seien den Nachteilen beim Landschaftsschutz gegenüberzustellen, sagte unlängst Bastien Girod, Vizepräsident der Grünen Schweiz. Und traf damit den wunden Punkt, um den es den Umweltverbänden und dem Grimselverein ging: Das Moor auf der Grimsel solle bleiben und nicht zur Manövriermasse im Politpoker um die Energiewende werden – genau dies ist nun aber eingetroffen.

«Es gibt keine Interessenabwägung», sagt Peter Anderegg noch einmal. Die Sunnig Aar sei ein Schutzgebiet von nationaler Bedeutung. Da helfe es auch nicht, wenn die KWO für die 46 Arven, die im See versinken würden, 2500 neue zu pflanzen gedenken. Oder sich für die Ausscheidung neuer Naturschutzgebiete einsetzen würden, die dann jedoch auf Kosten von Kulturland entstünden, woran die betroffenen LandwirtInnen keine Freude haben dürften. Es regnet noch immer. «Doch mindestens einmal an jedem Tag des Jahres, so lautet die Legende, scheint die Sonne auf die Sunnig Aar», sagt Peter Anderegg.