Feministische Ökonomie: «Wie wir Kinder grossziehen, ist doch ineffizient!»

Nr. 17 –

Die Politologin Friederike Beier denkt in ihrem Buch zusammen, was oft als unvereinbar dargestellt wird: Queerfeminismus und Materialismus, Identität und Klasse. Ein Gespräch über den Wert der Utopie.

Portraitfoto von Friederike Beier
«Wir brauchen Alternativen zum Kapitalismus»: Friederike Beier in Berlin. Foto: Alex Debert

WOZ: Friederike Beier, polemisch gefragt: Was ist wichtiger, Feminismus oder die Klassenfrage?

Friederike Beier: Beide sind natürlich gleich wichtig, ich sehe da keinen Widerspruch. Am meisten von Armut betroffen sind alleinerziehende Mütter; am meisten von Altersarmut betroffen sind Frauen, die während ihres Lebens viel Care-Arbeit geleistet haben. Klassenpolitik ist ein feministisches Thema, und Feminismus sollte auch ein klassenpolitisches Thema sein.

Trotzdem: Patriarchat und Rassismus werden von Marxist:innen teils nach wie vor als Nebenwiderspruch abgetan. Warum?

Ich habe den Eindruck, dass es immer weniger gibt, die das tatsächlich behaupten. Wenn aber gefordert wird, dass wir uns von sogenannten identitätspolitischen Fragen abwenden und Klassenpolitik machen sollen, ist das derselbe alte Diskurs.

Feministische Theoretikerin

Friederike Beier (39) forscht und lehrt an der Freien Universität Berlin zu feministischer Staatstheorie, Zeitpolitik sowie dekolonialen Theorien. Zudem ist sie Mitherausgeberin von «Femina Politica», einer Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft.

Friederike Beier (Hrsg.): «Materialistischer Queerfeminismus. Theorien zu Geschlecht und Sexualität im Kapitalismus». Unrast Verlag. Münster 2023. 240 Seiten. 26 Franken.

 

Buchcover von «Materialistischer Queerfeminismus. Theorien zu Geschlecht und Sexualität im Kapitalismus»

Das ist oft der Vorwurf gegenüber Queerfeminismus: Er betreibe Identitätspolitik.

Der Begriff «Identitätspolitik» wurde vom Combahee River Collective geprägt, einem Kollektiv von lesbischen Schwarzen Feministinnen. Sie sahen sich weder im Feminismus der weissen Frauen noch in der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen Männer repräsentiert. Ihre Kritik war von Anfang an strukturell und queer – auf der Grundlage ihrer Identität. Der Vorwurf, beim Queerfeminismus gehe es nur um Anerkennungsfragen, folgt falschen Prämissen.

Die Debatte um Klasse versus Identität ist demnach die alte Haupt- und Nebenwiderspruchsdiskussion in neuem Gewand?

Ja. Nebenwiderspruch traut man sich nicht mehr zu sagen, weil das zu sehr nach Siebziger-Jahre-Dogmatismus klingt. Aber der Vorwurf der Identitätspolitik zielt auf das Gleiche ab: Wieder werden marginalisierte Kämpfe und Gruppen abgewertet.

Hat nicht auch die queerfeministische Bewegung inhaltliche Lücken?

Doch. Wir sollten schauen, wo es Anschlusspunkte gibt, wo Leerstellen, und entsprechend solidarische Kritik äussern. Interessant ist: Queertheoretische Diskurse haben nach der Finanzkrise eine materialistische Wende genommen. Im deutschsprachigen Raum wird das allerdings kaum berücksichtigt. Hier ist die Kritik am Queerfeminismus in den neunziger Jahren stehen geblieben. Im aktivistischen Kontext sind die feministischen Streiks der letzten Jahre ein gutes Beispiel dafür, wie queerfeministische Bewegungen an den grossen Machtfragen interessiert sind.

Wie kamen Sie auf die Idee, materialistischen Feminismus und Queertheorie analytisch zusammenzubringen?

Einerseits durch den Aktivismus: Ich war lange in kapitalismuskritischen Zusammenhängen aktiv, wo ich versucht habe, feministische Themen einzubringen. Von Queertheorie haben sich damals alle abgegrenzt. Ich hörte daher immer wieder, als materialistische Feministin sei ich ja eine von den «Guten». Damit hatte ich ein Unbehagen.

Und andererseits?

Eines meiner Seminare an der Freien Universität Berlin handelte von Theorien der sozialen Reproduktion. Wir haben viele marxistische Feministinnen gelesen. Einige queere, nichtbinäre Studierende kritisierten, dass es in den Texten immer nur um die heteronormative Kleinfamilie gehe.

Was haben Sie getan?

Wir haben die Kritik zum Anlass genommen, nach queeren Theorien sozialer Reproduktion zu suchen. Dabei sind wir auf Texte gestossen, die unbezahlte Haus- und Care-Arbeit im Kapitalismus aus queerer Perspektive theoretisieren – und zeigen, wie sehr queere und materialistische Ansätze verwoben sind. Genau wie bei den materialistischen Feministinnen aus Frankreich, Monique Wittig und Christine Delphy. Schon in deren Texten aus den siebziger Jahren ist Geschlecht nichts Biologisches, sondern ein Verhältnis, analog zum Begriff der Klasse bei Karl Marx. Den konstruierten Widerspruch zwischen materialistischem und queertheoretischem Feminismus gibt es so gar nicht.

Zeit für eine Begriffsklärung: Materialistischer und marxistischer Feminismus werden oft durcheinandergebracht. Können Sie weiterhelfen?

Ich hoffe es! Der materialistische Feminismus zeichnet sich durch den Bezug auf den historischen Materialismus von Marx und Engels aus, der besagt, dass die Produktionsverhältnisse die Geschichte und die Gesellschaft bestimmen. Seine Vertreter:innen, darunter Delphy und Wittig, grenzten sich in den Siebzigern ganz explizit von den marxistischen Feminist:innen ab. Diese hielten den Kapitalismus für den Hauptwiderspruch und forderten, man solle sich auf dessen Abschaffung konzentrieren – dann erledige sich der Rest quasi von selbst. Es gibt aber auch Überschneidungen: Silvia Federici schreibt auch als marxistische Feministin über (Hetero-)Sexualität als Arbeit.

Im kürzlich erschienenen Sammelband «Materialistischer Queerfeminismus» publizieren Sie auch Texte von Delphy und Wittig auf Deutsch. Was können wir von ihnen lernen?

Sie zeigen: Was Geschlecht ist, was die Rolle von Frauen ist, unterscheidet sich je nach Kontext. Es ist etwas total anderes, ob man als Arbeiterin zu Zeiten der Industrialisierung oder im heutigen Neoliberalismus, ob man im Globalen Süden oder im Globalen Norden geboren wurde. Wenn wir die Geschlechterverhältnisse verstehen wollen, müssen wir uns anschauen: Was sind die jeweiligen Produktionsbedingungen? Was sind die Reproduktionsbedingungen? Auf welche Art und Weise werden die Mittel zum Leben hergestellt? Wie ist unsere Ökonomie aufgebaut? Wer arbeitet für wen, wie ist die Arbeitsteilung?

Die argentinische Philosophin María Lugones untersucht in einem weiteren Kapitel das kolonial-moderne Geschlechtersystem.

Geschlechtlichkeit kennt nicht nur historische, sondern auch geografische Unterschiede. Geschlecht hat immer auch eine koloniale Dimension, das zeigt Lugones auf. Frauen, die rassifiziert werden, sind noch mal anders unterdrückt. Indem sie etwa als Arbeiterinnen angesehen werden und nicht als schwach oder passiv wie etwa weisse Frauen. Zudem verweist Lugones darauf, wie Zweigeschlechtlichkeit ein Produkt des Kolonialismus ist – weil dieser andere, auch fluidere Geschlechtermodelle gewaltvoll verdrängt und Zweigeschlechtlichkeit durchgesetzt hat.

Sie bringen verschiedene theoretische Ansätze zusammen, nehmen aber eine deutliche Abgrenzung vor: gegenüber sogenannten Terfs, «trans-exclusionary radical feminists».

Erst mal finde ich den Begriff «Terf» problematisch. Den Radikalfeministinnen aus den siebziger Jahren ging es doch genau darum, die ganze Reproduktion anders zu denken. Sie hielten nicht an der Biologie fest, sondern wollten Menschen davon emanzipieren. Und radikal heisst doch, das Problem an der Wurzel zu packen. Also: die Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit zu versuchen. Denn diese legitimiert die Geschlechterhierarchie. Daran festzuhalten, schadet dem Feminismus.

Christine Delphy schreibt über die Kategorie der Frau als Klasse. Steht das dem Versuch, die Zweigeschlechtlichkeit zu überwinden, nicht im Weg?

Letztlich ist es ähnlich, wie wenn Marxist:innen es wichtig finden, weiter von Klassen zu sprechen, solange es soziale Ungleichheit gibt. Wir befinden uns noch nicht in einer geschlechtslosen, sondern in einer höchst patriarchalen, queerfeindlichen und transfeindlichen Gesellschaft – da brauchen wir diese Kategorien. Daher spreche ich weiterhin von Frauen oder, je nach Kontext, von feminisierten Menschen oder Menschen, die schwanger werden können.

Innerhalb der feministischen Bewegung werden Begriffsfragen aber heftig diskutiert – zum Beispiel die Frage, ob wir von Frauen oder von Flintas* sprechen. Wie stehen Sie zu diesen Debatten?

Sie nerven mich ehrlich gesagt ein wenig. Der Begriff «Flinta» wird oft analog zu Frau verwendet und macht damit mehr unsichtbar, als er ermöglicht. Ich habe meine Sprache schon sehr oft umgestellt und finde es wichtig, Begriffe der Betroffenen selbst zu verwenden. Bei der Kategorie Frau ist es komplizierter, denn «die Frauen» gibt es so nicht. Oder wie Judith Butler sagt: Wir wissen nicht, wer die Frauen sind, aber wir brauchen sie. Bestimmte Kategorien muss man benennen, damit man Ungleichheit beschreiben und damit Politik machen kann. Meiner Einschätzung nach – das gilt auch für die Gegenüberstellung von Materialismus und Queerfeminismus – ist das ein innerlinker Spaltungsdiskurs, der am Ende nur den politischen Gegner:innen und dem Kapital nützt, wenn sich linke Bewegungen in diesen Debatten verhaken.

Und wenn wir dem Kapital schaden wollen?

Wer mit einem Streik bei Amazon solidarisch ist, muss im Einzelnen ja nicht unbedingt mit den Meinungen der Menschen übereinstimmen, die da arbeiten. Es ist möglich, Bündnisse zu schliessen, ohne alle Meinungen zu teilen, über die eigenen Scheuklappen hinweg, und so möglichst viele Menschen mitzunehmen. Das bedingt auch, fehlerfreundlich zu sein.

Wie können solche Kämpfe aussehen?

Wir müssen für eine Migrationsgesellschaft auf die Strasse gehen – und gegen die Ausbeutung aller Menschen, aber besonders von Migrant:innen und feminisierten Menschen. Es ist zentral, dass wir für eine Aufwertung der Sorgearbeit kämpfen, die allen zugutekommt. Und dass wir uns überlegen, was nach dem Kapitalismus kommt. Denn wenn wir diese Welt retten wollen, führt kein Weg an der Abschaffung des Kapitalismus vorbei. Die Welt brennt ab. Die Verteilungskämpfe werden sich zuspitzen. Wenn wir in den nächsten 500 Jahren ein lebenswertes Leben für alle wollen, brauchen wir Alternativen.

Sie schreiben auch von einer geschlechtslosen Gesellschaft.

Ich bin vorsichtig damit, Utopien von meinem Schreibtisch aus zu entwickeln, weil ich glaube, wir müssen das gemeinsam tun. Aber mir ist aufgefallen: Über die klassenlose Gesellschaft wurde schon wahnsinnig viel geschrieben und nachgedacht; darüber, wie eine geschlechtslose Gesellschaft aussieht, viel weniger.

Versuchen Sie es?

Wenn man morgens vor die Tür ginge, sähe man Menschen und würde sie nicht nach Geschlecht kategorisieren, weil das erst mal egal wäre. Es gäbe Sorgegemeinschaften, neue und andere Beziehungsweisen. Die Gesellschaft hätte sich sowohl vom Konzept der heteronormativen Kleinfamilie als auch von der romantischen Zweierbeziehung verabschiedet. Wie heute Kinder grossgezogen werden, ist doch die ineffizienteste Art, die man sich vorstellen kann! Man könnte sich auch fragen: Wer hat Lust, mit Kindern Zeit zu verbringen und Verantwortung zu übernehmen? Und wie können wir das organisieren?

Wo zeigt sich diese Utopie?

Ich durfte mein Buch bereits in verschiedenen Städten vorstellen und lasse jeweils die Zuhörer:innen darüber nachdenken, was für eine Utopie sie sich vorstellen. Das gibt mir Hoffnung. Wir haben in unseren Köpfen sehr viel Fantasie, um uns ein besseres Leben auszumalen. Und wir brauchen diese Bilder, damit wir uns vorstellen können, was wir alles zu gewinnen haben.

* Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Menschen.