Feministisches Manifest: Hört nicht auf die Vorstandsvorsitzenden!

Nr. 44 –

Geprägt von der Erfahrung des Frauenstreiks: Ein neues Manifest will den Feminismus wieder auf einen klar linken, internationalen Kurs bringen. Liberale feministische Ansätze hätten versagt.

Wer näht die H&M-Billigleibchen mit dem Aufdruck «Feminist»? Wer staubt Angelina Jolies Oscar ab? Und wer wäscht die schmutzige Wäsche von Michelle Obama? Das Manifest «Feminismus für die 99%» fordert uns auf, konsequent die Heerscharen namenloser, oft schlecht bezahlter und auch sonst zigfach benachteiligter ArbeiterInnen hinter liberalen feministischen Ikonen und Vermarktungsstrategien in den Blick zu nehmen. Nur so sei ein politisch relevanter Feminismus für die Zukunft denkbar.

Vorauszuschicken ist, dass auch die Autorinnen von «Feminismus für die 99%» nicht gerade zum anonymen Fussvolk gehören: Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser arbeiten alle drei als Universitätsprofessorinnen in den USA. Sie forschen zu Islamophobie, feministischer Theorie und Marxismus – und waren Teil des Organisationskomitees, das 2017 den internationalen Frauenstreik auf den Weg brachte.

Streik wirkt doppelt

Nicht zuletzt aus der belebenden Erfahrung dieses Streiks heraus fordern sie, dass der Feminismus heute eine alternative Abzweigung finden müsse: jenseits des reaktionären rechten Antifeminismus, das versteht sich von selbst, aber eben auch jenseits des hierarchisch und kapitalistisch abgerichteten liberalen Feminismus, der so tue, als sei vieles vornehmlich die Frage einer besseren Frauenvertretung in den Teppichetagen. Oder wie es eine der reichsten Frauen der Welt, die Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg, 2013 in ihrem Bestseller «Lean In» postulierte – und wofür sie bis heute von rechten Feministinnen begeistert zitiert wird: Frauen, kniet euch rein, und klettert die Karriereleiter hoch. Männer, übernehmt die Hälfte der Hausarbeit.

Als Weckruf, um aus diesem feudalen Businessfeminismus aufzuwachen, dient den drei Manifestautorinnen der Knall der Nichtwahl von Hillary Clinton. Warum haben bestürzend viele (vor allem weisse) Frauen und Männer den notorischen Sexisten Trump der liberalen Feministin Clinton vorgezogen? Primitive Frauenverachtung hat zweifellos eine Rolle gespielt. Die interessantere Antwort, die man mit dem Manifest im Hinterkopf geben kann, aber lautet: Weil sein «Greift ihnen zwischen die Beine» für diese WählerInnen offenbar weniger schlimm war als Hillary Clintons «Körbchen voll Erbärmlicher», ihr Pauschaletikett für Trump-AnhängerInnen, mit dem ihre Klassenverachtung fatal aus ihr herausbrach. Oder noch grundsätzlicher: Eine echte politische Alternative bot der Showdown zwischen dem Milliardär Trump mit seiner verlogenen Anbiederung an die Unterschicht und der Multimillionärin Clinton mit ihrem schlecht kaschierten Standesdünkel sowieso nicht. Letztlich ist es also das Fehlen einer solchen Alternative, das uns 2016 mit der Wahl von Trump um die Ohren geflogen ist. Das System ist das Problem.

Indem Arruzza, Bhattacharya und Fraser gleich im Titel ihres Büchleins die Rede von den «99%» aufgreifen, docken sie bewusst am anderen Ende der Reichtumsskala an. Und sie zitieren den Slogan der Anti-Wall-Street-Bewegung «Occupy», die vor acht Jahren die Plätze der Finanzmetropolen besetzte. Auf die Strasse gehen sie auch mit ihrer ersten von insgesamt elf Thesen: Der Feminismus müsse den Streik neu entdecken. Damit sind wir mittendrin im zentralen Argument des Manifests: Die mehrheitlich von Frauen geleistete «gesellschaftliche Reproduktion» (zu der unbezahlte Care-Arbeit und das «Menschenmachen» gehören) ist der männlich dominierten, gewinnorientierten Profitproduktion untergeordnet. Ein strategischer Frauenstreik schadet somit sowohl dem Patriarchat als auch dem Kapitalismus: Beiden «Herrschaftsachsen» wird auf einen Schlag eine uneingestandene, aber überlebenswichtige Substanz entzogen.

Andere Thesen widmen sich der geschlechtsspezifischen Gewalt und der «langsamen Umweltgewalt» des Klimawandels: Beide setzen Frauen in ärmeren Ländern überdurchschnittlich stark zu. Aber auch rassistische und koloniale Verstrickungen werden nachgezeichnet – weder die Linke noch der Feminismus sind frei von solchen. Etwa wenn in marxistischen Analysen stillschweigend der weisse, männliche Arbeiter als Normgrösse gesetzt wird. Oder sich der westliche Feminismus lange an «vorstädtischen, weissen Hausfrauen» ausrichtete.

Kolonisierung des Sex

Auf die Befreiung der Sexualität zielt ein weiteres Kapitel. Hier betonen die AutorInnen, dass es heute nicht nur um eine reaktionäre Beschneidung der Sexualität, sondern auch um ihre liberale Kehrseite gehe: eine Verbürgerlichung und Kolonisierung des Sex durch eine Konsumlogik, die Toleranz, Diversität und Queerness vor allem als gewinnträchtige Lifestyles fördert.

Die Systemkritik dieses Manifests ist radikal links: Kapitalistische Ausblutungsstrategien wie die Austeritätspolitik müssten ebenso zurückgewiesen werden wie die Meritokratie, die für die überwältigende Mehrheit bloss eine «Gleichheit im Elend» bedeute. Stattdessen sollten die Teppichetagen am besten gleich ganz abgeschafft werden. Da der Kapitalismus sich kleine Rebellionen oft sehr geschickt einverleibe, nütze es wenig, an kleinen Schräubchen zu drehen, Veränderung erfordere den grossen Hebelarm.

Für einen solchen Umbau müssen die Kämpfe zusammengedacht werden. Die Autorinnen verwahren sich dagegen, Klassenkampf und Identitätspolitik gegeneinander auszuspielen: Es brauche eh beides. Auch eine Aufhebung des zweigeschlechtlichen Denkverhaltens wird explizit begrüsst. Insgesamt sind die präsentierten «Ziele» etwas wolkig – wie immer, wenn «eine völlig neue Gesellschaftsordnung» etabliert werden soll. Aufgrund des Manifestcharakters bleiben die Analysen an der Oberfläche. Die Rede von den «99%» etwa bildet die komplexen Klassenverhältnisse nur unzureichend ab, bedient wird ein kruder linker Populismus gegen die Elite der MilliardärInnen.

Wohlständige Schlagseite

Die Argumentation von unten her ist aber absolut schlüssig. Eine genuin politische Bewegung kann sich nur von den Entrechteten und Verdammten dieser Erde her schreiben, nicht von ihren Vorstandsvorsitzenden. Mit diesem Perspektivenwechsel provoziert das Manifest auch eine Korrektur gewisser jüngerer Feminismen, die eine westliche und wohlständige Schlagseite haben: Mit ihrer Fixierung auf Sprache, Bilder, Blicke und sexualisierte Körper laufen sie Gefahr, in Nebensächlichkeiten und Privatheit zu versinken: irgendwo zwischen gerechter Empörung über ungerechtes Mansplaining, einem wortreichen Unwohlsein im eigenen Körper und einer teils erstaunlichen Geschichtslosigkeit.

«Feminismus für die 99%» erinnert daran, dass Frauen weltweit nicht nur mit Schönheitsidealen auf Instagram und sexistischen Sprüchen ringen, sondern weiter auch sehr viel konkreter zerschunden und getötet werden: von unmenschlicher Arbeit, Armut und Gewalt. Oder umgekehrt: Feminismus ohne klassenkämpferische, internationale und antirassistische Richtung ist kaum progressiv zu nennen. Spiegeln sich in der kritischen Wahrnehmung nur noch die eigenen Lebensumstände und Krisen, verkümmert der politische Horizont. Individuelle Freiheit müsse stets an der Freiheit aller ausgerichtet werden, so das letzte Wort des Manifests. Eine Öffnung der eigenen Sorgen gegenüber der Mühsal anderer kann befreiend wirken.

Arruzza, Bhattacharya und Fraser plädieren deshalb für eine Radikalisierung und Kollektivierung des feministischen Kampfs. Auf dem Weg zur Gleichheit erfahre man nicht nur Tiefpunkte und Rückschläge, sondern auch den «Glücksrausch der Rebellion». Alle, die auch hierzulande im Juni am Frauenstreik teilgenommen haben, wissen, wovon die drei reden.

Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser: Feminismus für die 99%. Ein Manifest. Aus dem Englischen von Max Henninger. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2019. 108 Seiten. 20 Franken