«Terrestrial Verses»: Der Horror kommt aus dem Off
Als wärs ein Dokumentarfilm: In neun abgründigen Episoden aus dem bürokratischen Alltag zeigen Ali Asgari und Alireza Khatami die totalitäre Macht des iranischen Regimes – und subversive Formen des Widerstands.
Auf Tiktok hätte sie bestimmt eine Menge Follower:innen: Wie selbstsicher das rothaarige Mädchen mit den übergrossen rosa Kopfhörern zum Rhythmus der Musik vor dem Spiegel im Kleidergeschäft ihre rasch wechselnden Choreos tanzt, den Blick forsch in die Kamera gerichtet. Aus dem Off hört man Mutter und Verkäuferin diskutieren. Die Kleiderregeln für das Schulfest sind strikt, den Tschador gibts nur in Schwarzblau oder Grau, den Nikab neu auch in Beige. Und innert Minuten verschwindet das quirlige Mädchen mit dem Mickey-Mouse-Pullover unter unscheinbaren Hüllen. Nur die Augen verraten, wie verwirrt und verängstigt es darob ist.
Nicht immer ist die Zwangsjacke, in die das iranische Mullahregime seine Untertan:innen steckt, so direkt ins Bild gerückt wie im Fall der jungen Selena. Gefangen sind die neun Menschen, die in «Terrestrial Verses» von Ali Asgari und Alireza Khatami vor die Kamera treten, erst einmal in der Cadrage: Der Rahmen bleibt starr, das Kameraauge fixiert die Protagonist:innen – geschnitten wird nur, wenn Person und Szene wechseln. Ganz gleich, ob ein Vater den Namen seines neugeborenen Sohnes auf dem Amt registrieren, ein junger Mann seinen Führerschein abholen, eine Taxifahrerin ihr konfisziertes Auto oder eine alte Dame ihr von Polizisten entführtes Hündchen zurückhaben will. Jede Alltagsepisode entwickelt sich vor diesem niemals blinzelnden, alles sehenden Auge zum peinlichen Verhör.
Was auch damit zu tun hat, dass das Gegenüber – meist ist es ein Beamter – nie hinter der Kamera hervortritt. Allenfalls gerät kurz eine Hand ins Bild, dringt quasi in die Cadrage. Die Peiniger:innen bleiben nur akustisch fassbar, sprechen sanft und bleiben ansonsten unsichtbare, aber omnipräsente Repräsentation von Macht. Der Horror kommt aus dem Off.
Gefügig machen
Die Macht ist übergriffig, reicht bis in die Dunkelheit des Kinosaals, wo man als Zuschauende rasch vergisst, dass Asgari und Khatami hier keine real existierenden Personen vorführen, sondern Schauspieler:innen, sorgfältig ausgewählt, aber nur bruchstückhaft informiert. Gedreht wurde ohne Genehmigung, mit ein paar Freund:innen und in bloss sieben Tagen. «Es gibt eine Zeit, um eine Geschichte zu erzählen, und es gibt eine Zeit, um Zeugnis abzulegen», so Asgari in einem Interview zum Film. Die Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» habe auch das Kino ermutigt, den Zwang der Verschleierung nicht mehr zu befolgen: «Wir wollten sehen, wie scharf dieses Medium werden kann, wie direkt es sein kann», sagt Khatami.
Tatsächlich liest sich ihr Film wie eine Visualisierung von Michel Foucaults Theorie der Macht, die unsichtbar, aber omnipräsent ist und in die privatesten Räume bis hinein in die Körper der Menschen vordringt, um sie zu unterwerfen und zu kontrollieren. Farbod muss sich für seinen Führerschein vollständig nackt ausziehen, damit der Beamte auch das allerletzte Tattoo begutachten kann – und erhält den Ausweis am Schluss doch nur auf Probe. Sadaf soll laut Radaraufnahme ohne Kopftuch im Auto unterwegs gewesen sein – und nein, das Auto ist kein privater Raum, nicht einmal die eigene Wohnung sei es, wenn die Fenster Einblick gestatteten. Umgekehrt gilt, wohl nicht nur für Faezeh: Wenn bei Jobinterviews gefordert wird, den Hidschab abzulegen, geht die verlangte Verfügbarkeit weit über Sekretariatsarbeiten hinaus.
Seine Ausdruckskraft schöpft «Terrestrial Verses» aus einer mehrfachen Rahmung, gesetzt von der Kamera sowie von der strengen Struktur der iranischen Ghasel-Dichtung, deren Strophen oft in der Form humorvoll-philosophischer Debatten zwischen zwei Personen gebaut sind. Im Film entsprechen ihnen die neun Begegnungen im bürokratischen Alltag, ihrerseits gerahmt von einer minutenlangen Zeitrafferaufnahme des Tagesanbruchs über Teheran und einem Methusalem, der hinter dem Schreibtisch sitzt und langsam einnickt. Die Totalität der Macht hat auch eine zeitliche Dimension: Sie reicht von der Wiege bis ins Grab. Oder vergeht mit diesem Greis vielleicht auch die Macht der Mullahs?
Schlagfertige Frauen
Dass man das Kino nach knapp achtzig Minuten trotz allem beschwingt verlässt, ist weniger diesem uneindeutigen Ende geschuldet, als dem hintergründigen Witz zu verdanken, den die Figuren ihrer beklemmenden Situation abtrotzen. Manchmal sind es subversive Gesten, subtil genug, um in ihrer Provokation ambivalent zu bleiben: Farbod, der den Hemdsärmel über den Ellbogen hochkrempelt und dann unvermittelt die geballte Faust in die Höhe hält, um dem Beamten sein Tattoo am Oberarm zu präsentieren.
Besonders aufmüpfig, ressourcenreich und schlagfertig zeigen sich gerade die jüngeren Frauen. Die jugendliche Aram etwa, die sich vor der Schuldirektorin für ein Vergehen rechtfertigen soll, das der blinde Hauswart beobachtet haben will, und diese unversehens mit einem eigenen Vergehen konfrontiert. Oder Selena: «Wenn du es so hübsch findest», kontert sie das Kompliment der Verkäuferin, «warum trägst du es dann nicht?»
«Terrestrial Verses». Regie und Drehbuch: Ali Asgari und Alireza Khatami. Iran 2023. Jetzt im Kino.