Kino: Grenzen des Zeigbaren
Ein Filmemacher, der keiner sein darf: Der iranische Regisseur Jafar Panahi verschachtelt in «No Bears» seine eigene Rolle in einem repressiven Regime.
Ein Liebespaar auf der Flucht vor dem Mullahregime: Er hat einen geklauten französischen Pass für sie – aber sie will nicht ohne ihn nach Paris. «Zu emotional», ruft eine Stimme aus dem Off, da sind die ersten Minuten von «No Bears» schon vorbei: Erst gerät der Regieassistent vor Ort in den Blick, dann, auf einem Laptopbildschirm, der iranische Filmemacher Jafar Panahi, Regisseur des Films wie des Films im Film. Panahi, dem das iranische Regime ein Dreh- und Ausreiseverbot auferlegt hat – im richtigen Leben wie im Film –, hat sich in einem Dorf nahe der Grenze zur Türkei verschanzt, seine Crew dreht in einer Stadt auf der türkischen Seite. Die Verbindung bricht ab, kein Empfang, doch Panahis Vermieter lässt ihn nicht aufs Dach steigen, er solle doch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Tut er natürlich trotzdem, wie er, abgeschnitten von seiner Crew, mit umgehängter Kamera durchs Dorf spaziert und drauflosknipst. Ein Foto, das er gemacht haben soll, löst eine Dorfposse aus, die immer weitere Kreise zieht, bald muss er sich vor den Dorfältesten rechtfertigen, es droht Gewalt.
Nächtliche Ausflüge
So komplex «No Bears» in der Struktur angelegt ist, so offen thematisiert Panahi hier seine Situation als Filmemacher, benennt politische Missstände. Wie kompliziert sich Dreharbeiten im Verborgenen gestalten, wie schwierig die Kommunikation im Team ist, weshalb er sich mitten in der Nacht auf Schmugglerpfaden an die Grenze vortasten muss, um das Rohmaterial in Empfang zu nehmen. Wie ihm die Regie entgleitet, als die beiden Schauspieler:innen die Kontrolle über die Geschichte, die ihre eigene ist, verlieren, weil die Frau eingeholt wird von ihrer Vergangenheit im Gefängnis, wo sie mehrmals gefoltert wurde.
Im Dorf bleiben Panahis nächtliche Ausflüge nicht unbemerkt, man warnt ihn vor dem langen Arm der Revolutionswächter. Die Männer winden und verkrümmen sich vor Furcht und halten umso stärker an ihren archaischen Ritualen fest, die darin gipfeln, dass Panahi vor dem Ältestenrat auf den Koran schwören muss, dass das ominöse Foto nicht existiere. Er insistiert, stattdessen vor die Videokamera zu treten, weil sie die Wahrheit besser einfange.
Notbremse gezogen
Mit «No Bears» zeichnet der Filmemacher, der keiner sein darf, ein Land in Geiselhaft von Überwachung und Aberglauben. Dabei erhebt er sich nie über die Dorfbevölkerung, im Gegenteil, er widmet sich ihr mit viel Sympathie und ethnografischem Blick. Härter ins Gericht geht er mit sich selbst: «No Bears» ist nicht zuletzt eine kritische Reflexion über die ethischen Grenzen des subversiv-politischen Filmemachens in einem totalitären Staat. Bringt Panahi doch mit seiner blossen Präsenz mit Kamera seine Umgebung in Gefahr, das dörfliche Gefüge ebenso wie die einzelnen Mitglieder seiner Filmcrew. Um die Dorfbevölkerung zu schützen und nicht aufzufallen, hat der Regisseur deshalb gewisse Szenen von «No Bears» mit dem Handy gefilmt.
Seinem Alter Ego im Film hingegen, zur Regie aus dem Off gezwungen, entgleiten die Dynamiken rund um das Filmset: Die Dreharbeiten münden in eine Tragödie. Panahi, in seinem dörflichen Refugium, ist zum Zuschauer in seiner eigenen Produktion geworden – doch entbindet ihn das auch von der Verantwortung? In der letzten Einstellung von «No Bears» sieht man ihn im Auto sitzen, Blick geradeaus ins nächtliche Nirgendwo. Fahrt und Film enden mit einer ruckartigen Bewegung, einem grellen Ratschen: Jafar Panahi hat die Notbremse gezogen. Die Geste hallt nach, als schreie er mit ihr ins Dunkel des Kinosaals: Wie kann man in einem brutalen Unrechtsstaat seine eigene Humanität bewahren?
«No Bears». Regie: Jafar Panahi. Iran 2022. Jetzt im Kino.