Literatur: Zärtlicher Flirt mit dem Drucker
Mehr als eine Satire auf die Start-up-Welt: Fien Veldmans Roman «Xerox» erzählt schnörkellos von der Unmöglichkeit eines sozialen Aufstiegs in der Klassengesellschaft.

Er nannte sie «Bullshit-Jobs»: Der 2020 verstorbene US-amerikanische Sozialanthropologe David Graeber stellte im gleichnamigen Buch von 2018 die These auf, dass immer mehr Jobs einen kaum definierbaren Nutzen haben, «als würde sich irgendjemand sinnlose Tätigkeiten ausdenken, nur damit wir alle ständig arbeiten». Jene, die den Job verrichten, wissen zwar, dass er sinnlos ist – und behaupten doch das Gegenteil.
Aus einer Hochburg solcher Bullshit-Jobs erzählt die niederländische Autorin Fien Veldman in «Xerox»: Ohne zu moralisieren, führt sie in ihrem grossartigen Romandebüt die Sinn- und Skrupellosigkeit vor, die in einem vermeintlich egalitären Start-up-Unternehmen herrschen – und lässt neben der namenlosen Ich-Erzählerin auch einen Bürodrucker namens Xerox zu Wort kommen.
Zuunterst in der Hierarchie
Es beginnt mit der Suche nach einem Paket: Gestresst irrt die Erzählerin durch Amsterdam, weil eine Sendung für ihr Unternehmen an eine falsche und obendrein uneindeutige Adresse geschickt wurde. Dabei wäre es wichtig, dass sie sich nicht aufregt, wurde ihr doch vor kurzem eine durch Anstrengung ausgelöste Autoimmunreaktion diagnostiziert. Ihr Stressfaktor ist umso höher, weil ihr geliebter Bürodrucker seit eineinhalb Wochen technische Probleme hat. Ihre Beziehung zu diesem Arbeitsgerät ist innig; als sie nach erfolgloser Paketsuche zurück ins Büro kommt, schmiegt sie ihre Wange an seine rechte Seite: «Meine Energie wird von dem Gerät absorbiert, die elektrischen Signale meines Nervensystems werden von ihm verstanden.» Zärtlich hegt und pflegt sie ihre Maschine und erzählt ihr in ausführlichen Monologen aus ihrer Jugend. Wegen dieser «Gespräche» argwöhnt der Chef, sie sei bei der Arbeit zu wenig gefordert und telefoniere deshalb dauernd. Dabei ist sie mit ihrer Arbeitssituation zufrieden – obwohl sie weiss, dass sie als Zuständige für Postangelegenheiten zuunterst in der Hierarchie des Start-ups steht, dass sie trotz abgeschlossenem Studium weniger Lohn erhält als andere mit der gleichen Ausbildung und dass sie von ihren Kolleg:innen belächelt wird, weil diese die eigene Arbeit für wichtiger halten als die ihrige.
In schnörkelloser Sprache zeichnet Veldman ein präzises Bild dieser Start-up-Welt und ihrer Bewohner:innen, die von der Ich-Erzählerin nur nach ihrer Zuständigkeit benannt werden: «Produkt» ist der ehrgeizigste von allen. «Partnership» ist mit einer Gewinnermentalität in die Welt gestartet, und «Marketing» trägt «einen Bart wie alle Männer seines Alters in dieser Stadt». Sie halten sich für links und subversiv, sind im Grunde jedoch vor allem fleischgewordenes Konkurrenzdenken.
Eine aktualisierte Bartleby
Inmitten dieser von täglichem Schwimmtraining und Hafermilch glücklich gestählten Menschen, die voller Elan ihre Arbeit verrichten (bis zum Ende erfährt die Leserin nicht, was in diesem Start-up eigentlich gemacht wird), wirkt die Protagonistin wie eine aktualisierte Bartleby. Der Kanzleischreiber, den Herman Melville in der gleichnamigen Novelle 1853 erschuf, gilt mit seinem berühmten Satz «I would prefer not to» (Ich möchte lieber nicht) als Sinnbild für den Widerstand gegen die Zumutungen der Arbeitswelt. Passiv und doch effektiv widersetzt er sich Autorität und Herrschaft. Dies tut auch die Erzählerin in «Xerox». Doch anders als Bartleby verweigert sie nicht die Arbeit an sich, sondern die konstante Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung sowie das damit verbundene Karriereversprechen. Allein das macht sie zu einem Fremdkörper in einem System, in dem Leistung, Produktivität und Wachstum über allem stehen.
Die Protagonistin will keine Betriebsausflüge mit Kolleg:innen, kein arbeitgeberfinanziertes Fitnessabonnement und kein Krokettensandwich, wenn das Unternehmen etwas zu feiern hat. Alles, was sie will, als sie wegen «Überreizung» von der Arbeit freigestellt wird, ist, zu ihrem geliebten Drucker zurückzukehren: «Ich möchte an meinem Papier fühlen können, ob es für den jeweiligen Tag geeignet ist, wie ich es immer tue. (…) Ich möchte morgens meinen Drucker anmachen und seinen Aufwärmgeräuschen lauschen, während ich den ersten Schluck Kaffee trinke aus der Tasse, die ich immer benutze und die ich selber abwasche, wenn nötig. Ich möchte den Tag mit meinem geliebten Gerät verbringen, die Stapel gedruckter Briefe wachsen sehen, ich möchte die Umschläge zählen, sie kategorisieren und in kleinere Stapel aufteilen, Adressetiketten ausdrucken und aufkleben.» So zärtlich wird Bullshit-Arbeit von dieser Erzählerin beschrieben, die in ihrer skurrilen Einzigartigkeit an die Protagonistinnen aus Miranda Julys Kurzgeschichten erinnert: Mit ihren sonderbaren Obsessionen und ihrer passiven Aggressivität irritieren diese ihr Umfeld, gehören nie wirklich dazu.
Dass die Protagonistin angesichts ihrer totalen Vereinsamung im Büro eine Beziehung mit dem Drucker beginnt, könnte aus dem July-Universum stammen. Xerox – übrigens der Einzige mit Namen im Buch – ist nicht nur ein grossartiger Zuhörer, er erweist sich auch als kompetenter Erzähler. Und mag dieser literarische Kniff auf den ersten Blick etwas plump wirken, funktioniert er erstaunlich gut. Als geduldiger Zuhörer und Beobachter verrät der Drucker Ereignisse aus dem Büroalltag, die der Erzählerin verborgen blieben, und gibt dem Roman einen überraschenden Plot-Twist.
Vom «Rand der Gesellschaft»
Veldman tritt mit ihrer Feldforschung im Büro in die Fussstapfen eines Landsmanns, von dem sie ein Zitat vor das vierte und letzte Kapitel stellt: J. J. Voskuil erzählt in seinen «Das Büro»-Romanen, die in den Niederlanden ab 1996 erschienen und Kultstatus erlangten, aus dem Büroalltag eines ambitionslosen Angestellten in einem Amsterdamer Volkskundeinstitut in den Jahren 1957 bis 1987. Während er für sein Epos sieben Bände und 5200 Seiten brauchte, reichen Veldman für ihre packende Gesellschaftsstudie etwas mehr als 200 Seiten. Und während Voskuils Protagonist aus gutbürgerlichem Haus stammt, kommt Veldmans Erzählerin von dort, wo andere den «Rand der Gesellschaft» sehen. Diesen von Gewalt und Armut geprägten Ort zu verlassen, war denn auch die einzige Ambition, die sie, wie sie sagt, je hatte. Das hat sie geschafft. Doch sie merkt schnell: «Jetzt, nach meiner Integration in die Bürogesellschaft, werde ich von der Zentrifugalkraft der Existenz erst so richtig an den äussersten Rand der Gesellschaft gedrückt.»
Sie sei ähnlich wie ihre Protagonistin aufgewachsen, erzählte Fien Veldman kürzlich in einem Interview. «Mich hat interessiert, welches Echo es auf das spätere Leben hinterlässt, wenn man das Milieu verlassen hat und es doch mit sich rumträgt.» In ihrem aufsehenerregenden Essay «Not Really Making It» (2021) hatte sich die 1990 in einem Arbeiter:innenquartier der Kleinstadt Leeuwarden geborene Autorin bereits mit ihrer sozialen Herkunft auseinandergesetzt – Stellen daraus finden sich nun im Roman wieder. Und diese machen «Xerox» denn auch zu mehr als einer bösen Satire über die Start-up-Branche oder einer Ode auf die Leistungsverweigerung mitten im Kapitalismus, als die man das Buch auch lesen könnte: «Xerox» ist eine literarische Anklage gegen eine Klassengesellschaft, in der sozialer Aufstieg fast unmöglich ist. So bleibt die Erzählerin auch mit Uniabschluss ein irritierender und irritierter Fremdkörper inmitten der aus bildungsbürgerlichem Haus stammenden Mitarbeiter:innen, deren Codes sie nicht lesen kann. Karriere macht man meist nicht wegen harter Arbeit, auch wenn das immer noch gerne behauptet wird; sie wird begünstigt durch die eigene Herkunft. Was das für jene bedeutet, die auf der Strecke bleiben, davon erzählt «Xerox» entwaffnend ehrlich.
