Paul Auster (1947–2024): Mit der Schwerkraft der Gefühle

Nr. 19 –

Wer nur seine letzten Bücher kennt – im deutschen Feuilleton verhalten freundlich besprochen –, begreift kaum, was für ein Ereignis die Literatur von Paul Auster in den 1980er und 1990er Jahren war. Seine Romane erfüllten und prägten den Zeitgeist. Dazu gehörte auch, dass Auster den populären Geschmack genauso wie den akademischen traf und auch die Kritiker:innen begeisterte, vor allem die europäischen. Kurz nach dem Krieg in Newark, New Jersey, geboren, hatte Auster jahrelang in Paris gelebt, als brotloser Bohemien und Übersetzer von Sartre, Mallarmé und Simenon. 1980 zog er in den verschlafenen New Yorker Stadtteil Brooklyn. Dieser wurde auch wegen Auster und seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Siri Hustvedt, zum Hotspot für Künstler:innen.

«Ich realisiere, dass es unmöglich ist, die Einsamkeit eines anderen zu betreten», heisst es in Austers Debüt. «Die Erfindung der Einsamkeit» (1982) handelt von seinem Vater – und von ihm selbst als Vater. Das Buch sprengt die Kategorien von Biografie, Essay oder Roman, es kreist um Austers Lebensthemen: Erinnerungen, Identitäten, die Macht des Zufalls. Eine eigenartige neue Empfindung taucht auf, die er «Nostalgie für die Gegenwart» nennt.

In seinen über die einzelnen Bücher lose verwobenen Metasphären darf man einen sturen Realitätssinn hinter sich lassen – bis man von Austers melancholischer Erdenschwere wieder eingeholt wird. Sein bekanntestes Werk, dessen Erfolg er irgendwann satthatte, ist die «New-York-Trilogie» (1985/86). Darin erscheint ein Schriftsteller programmatisch als Detektiv, der sich bei seiner Spurensuche im Dickicht der Grossstadt abhandenkommt. Am Ende ist sein Notizbuch realer als sein Ich.

In jungen Jahren hatte Auster Drehbücher für Stummfilme geschrieben, die keinen Abnehmer fanden. Nach der Jahrtausendwende entstand aus diesen Texten der Roman «Das Buch der Illusionen» über einen verschollen geglaubten Regisseur. «Die Welt ist voller Löcher, winzige Öffnungen der Bedeutungslosigkeit», heisst es darin. Und: «Nachts stolperte ich in meinem Wohnzimmer über eines dieser Löcher. Es erschien mir in Gestalt eines Gewehrs.» Metaphysisches manifestiert sich bei Auster oft als Thriller. Oder als einen jener wahnwitzigen Zufälle, in denen sich Leben und Tod verklammern. Am 30. April ist Paul Auster an den Folgen einer Lungenkrebserkrankung gestorben. In einem bewegten Nachruf auf Instagram schreibt seine Frau, er sei in seinem Lieblingszimmer, der Bibliothek, von Krankheit und Behandlung erschöpft, eingeschlafen. 

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