Lesen in der Revolution: Die politische Kraft des geschriebenen Wortes

Nr. 19 –

Jede Protestbewegung wird von Schriften inspiriert und begleitet. Welche Bücher waren das bei Occupy, dem Arabischen Frühling und bei anderen Bewegungen? Ein Streifzug.

Im Jahr 2013 geht ein Bild um die Welt: eine junge Frau auf dem Taksimplatz in Istanbul, ein Buch in der Hand: «Der Mythos des Sisyphos». Sie steht in einer Gruppe von vielen, alle in die eigene Lektüre vertieft, wie gleichgültig gegenüber der gewalttätigen Kulisse. Und weil der Taksim Square Book Club nur durch stilles Lesen so äusserst subversiv ist, lässt er die oppositionellen Kräfte in Handlungsunfähigkeit erstarren.

Nicht die Bücher sind es, sondern die Menschen, die Subversion, Revolte und Revolution machen. Doch wird in der grossen Erzählung Geschichte die Wirkkraft des geschriebenen Wortes allzu oft untergraben. Denn Menschen erschaffen sich Benennungen und dekonstruieren schreibend und lesend. Nicht umsonst wird im Stillen reguliert, was wo wie gelesen werden darf.

«Der Mythos des Sisyphos» (1942) des Schriftstellers Albert Camus, der einst statt der grossen Revolution einen Zustand ständiger Revolte gefordert hat, verbleibt auf dem Taksimplatz nicht nur in einer ikonografischen Rolle. In der Lesenden wie im Buch liegen Potenziale und Anknüpfungspunkte, die sich beim Lesen und darüber hinaus punktuell verbinden. Roman, Manifest oder Essay können sich im Leser nicht revolutionär aus dem Nichts, aber sehr wohl an bestimmten Stellen revolutionierend entfalten.

«Ich möchte lieber nicht»

Das Geschriebene in seinen feinsten Facetten und Produkten entsteht im Lesenden wiederholt neu und anders, ist selbst produktiv. Da ist Herman Melvilles viel zitierte Figur Bartleby, der mit seinem «I would prefer not to» bereits seit den 1850er Jahren durch die Bejahung seiner selbst alles negiert, was er von aussen her begehren sollte. Und da ist eine andere Version von Bartleby, die der Philosoph Slavoj Zizek, diese wandelnde geballte Faust, in einem Text über Demokratie (wieder)entwirft und auf die Wall Street bringt, um diese nur durch die höfliche Formel zu okkupieren: «Ich möchte lieber nicht.»

Nahe ebendieser prominenten Strasse wurde 2011 im Zuccotti Park im Zuge von Occupy Wall Street – dieser Bewegung des bejahenden, fröhlichen «Wir möchten lieber nicht» – eine Bibliothek mit über 5000 Bänden, die People’s Library, aufgebaut. Gustavo Estevas Werke waren dort zu finden, seine Bücher über den radikalen Pluralismus der ZapatistInnen – jene Bewegung, die ab 1994 im mexikanischen Chiapas neue Wege des gemeinschaftlichen Lebens und der Selbstverwaltung und damit eine Alternative zur Unentrinnbarkeit der neoliberalen Globalisierung aufgezeigt hat. Auch Doris Lessings «Afrikanische Tragödie» (1950), dieses epische Stück über die Schwierigkeit, den hegemonialen Diskurs in eine andere Richtung zu lenken. Und auch Gayatri Spivaks Essay «Can the Subaltern Speak?» (1988). Mit ihrer Konzeption der Subalternen als jene, die zwar sprechen könnten, aber nicht gehört werden, kann in diesem Kontext auch von den 99 Prozent die Rede sein: von denjenigen, die in der staatlich-ökonomischen Struktur kein Gehör finden.

«We are the 99 percent» ist die Parole der Occupy-Bewegung, die sich Anfang 2011 weltweit auf vielfältige Weise formiert. Der Slogan geht zurück auf das Werk «Die Schatten der Globalisierung» (2002) des Wirtschaftswissenschaftlers und früheren Chefökonomen der Weltbank Joseph Stiglitz. Er stellte der gesellschaftlichen Mehrheit von 99 Prozent das eine Prozent gegenüber, das den Grossteil des gesamtgesellschaftlichen Reichtums besitze und verwalte.

Einer, der diese Aussage als Parole neu besetzte, ist der Anthropologe David Graeber, der, ganz der erklärt horizontalen Struktur der Bewegung zum Trotz, oft als eine Art Vordenker oder Initiator von Occupy gehandelt wird und 2011 das Buch «Schulden. Die ersten 5000 Jahre» veröffentlichte. Diejenigen, die tatsächlich zur ersten Occupy-Versammlung aufriefen, sassen dabei im Übrigen in der Redaktion der Zeitung «Adbusters» in Vancouver. Kalle Lasn, der Autor von «Culture Jam» (2000), einem Buch, in dem Methoden zur Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch die Destruktion von Werbung propagiert werden, war einer von jenen, die in Kanada darüber nachdachten, wie man den Aufstand von Kairo nach Manhattan bringen könnte.

Über Ägypten sagte einer der prominentesten regimekritischen Schriftsteller des Landes, Alaa al-Aswani, bereits 2008, es sei überall spürbar, dass das Land kurz vor einem «grossen Wandel» stehe. Ein solcher kündigte sich in verschiedenen Teilen Tunesiens Ende 2010 durch Unruhen an, nachdem sich ein verzweifelter junger Mensch in der Öffentlichkeit selbst angezündet hatte. Aus dem Volksaufstand wurde eine Revolution: der Startschuss des Arabischen Frühlings.

Eine der bekanntesten dieser heterogenen Bewegungen ist der Aufstand, der den Tahrirplatz in Kairo als «Platz der Befreiung» in die Geschichte eingehen liess. Während bei blutigen Kämpfen mehrere Hundert Menschen zu Tode kamen, heisst es, dass ein Buch über friedliche Revolutionen Einfluss auf Proteststrategien ausübte: Gene Sharps «Von der Diktatur zur Demokratie» (1993), ein Handbuch, das Methoden zur gewaltlosen Zerschlagung von Diktaturen versammelt. Der bekanntesten Schrift des Politikwissenschaftlers wurde bereits eine wesentliche Rolle in der serbischen StudentInnenbewegung Otpor zugesprochen. Zur Vorbereitung des Sturzes von Präsident Slobodan Milosevic im Jahr 2000 wurden mehrere Tausend Exemplare des Buchs unter den AktivistInnen verteilt. Ehemalige Otpor-Mitglieder sollen Ende 2010, Anfang 2011 eine beratende Rolle in Tunesien und vor allem in Ägypten eingenommen und das Buch unter den DissidentInnen verbreitet haben.

Keine leeren Blätter

Kein Text alleine ist dem widerständigen Potenzial vorgängig, denn das ist immer schon vorher da. Judith Butler hat mit ihrer Konzeption eines dekonstruktiven performativen Akts und mit ihrem «exercising freedom» die strategische Besetzung nicht neu erfunden, aber das Potenzial von Körperlichkeit anders denkbar und nutzbar gemacht. Antonio Negri und Michael Hardt, wegen ihrer messianischen Rhetorik zuweilen kritisiert, haben mit ihrer «Multitude» nicht die weltweiten Proteste vorweggenommen – Propheten hatte die Menschheit schon genug. Aber sie haben den Vorstoss gewagt, eine globale kritische Masse wieder vorstellbar zu machen, ohne dabei ihre Vielfalt zu untergraben. Die Indignados in Madrid, diese Bewegung der «Empörten» des 15. Mai, brauchten 2011 nicht das berühmt gewordene Stichwort des ehemaligen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel, um sich aufzulehnen. Und doch hatte Hessel 2010 mit seinem «Empört euch!» einen Nerv getroffen.

So, wie sich die Leserin beim Lesen den Text für sich konstituiert, so konstituierend und revoltierend wirkt auch das Geschriebene im spezifischen Erfahrungsspektrum des Lesers. Es sind keine leeren Blätter, die beschrieben werden, weder wortwörtlich beim Schreiben noch metaphorisch beim Lesen.

An welchen Stellen dieses Spektrums und wie sich ein Text entfaltet, hat weder seinen Ursprung in einem bestimmten Autorinnensubjekt noch ein absolutes Ende im einzelnen Rezipienten. Intertextualität und Intersubjektivität sind immer produktiv. Die Zeitlichkeit des Lesers und der Leserin ist eine nicht lineare. Sie wird bedingt durch deren Sein und Werden und nicht umgekehrt.