Immersion: Ein prächtiger Wahrnehmungs­käfig

Nr. 39 –

Überall eintauchen: Der Kunst- und Eventbetrieb lockt immer häufiger mit immersiven Erfahrungen. Doch die oft hochtrabend angekündigten Angebote entpuppen sich meist als fad und sinnbefreit. Ist das alles, was Immersion zu bieten hat?

Vielleicht haben unsere Vorfahr:innen ihre mit Jagdszenen ausgemalten Höhlen als «immersiv» empfunden. Auch buddhistische Tempelanlagen oder Fresken von Giotto über Michelangelo bis Giulio Romano und, etwas zeitgeistiger, Raves oder Popkonzerte bieten das, was neuerdings als «Immersion» beworben wird. Was so hochtrabend klingt, ist vom lateinischen «immersio» abgeleitet, für Eintauchen, Versenken. Das Aufgehen in einem grösseren, überwältigenden Ganzen der Kunst ist ein alter Menschheitstraum.

Zum «Eintauchen» werden daher inzwischen auch die Œuvres von Monet, Picasso, Klimt oder van Gogh aufbereitet. Populäre Shows wie «Picasso immersiv» entpuppen sich als Beamerfestival, bei dem ein thematisch und biografisch strukturierter, knapp halbstündiger, eher oberflächlicher Picasso-Remix grossflächig und zum Teil auf Einbauten projiziert wird. Immersiv ist die Show jedoch nur, insofern man in den Projektionen herumspazieren kann, interaktive Elemente sucht man vergeblich. Was daran immersiv sein soll und vor allem wozu es dient, erschliesst sich nicht.

Die ironische Pointe: Picassos Werk wird hier in drei Dimensionen übersetzt, während es gemeinhin als epochale Leistung des kubistischen Picasso gilt, räumliche Wahrnehmungen in die flächige Malerei übertragen zu haben.

Darüber hinaus scheinen sich immersive Zeitreisen als neues Genre zu etablieren. So offeriert eine einschlägige Firma die immersive «Escalade 1602», einen Tauchgang im historischen Genf. Das Metropolitan Museum wartet derzeit mit einer Ausstellung historischer Mode auf, in der man den Geruch ihrer Entstehungszeit riechen kann. Ganz im Hier und Jetzt setzen selbst Thermalbäder inzwischen auf immersives Beiwerk in Form von Licht- und Soundinstallationen als Ein- und Abtauchhilfe.

Eskapismus für Minuten

In der zeitgenössischen Kunst sind immersive Räume seit längerem ein Rezept, um das Publikum zu packen. Man denke an die sehr eigenwilligen Kunstlandschaften Pierre Huyghes oder Hans Op de Beecks. In Huyghes begehbarer Biosphäre «After Alife Ahead» – für die Skulpturprojekte Münster 2017 – interagierten Mikroorganismen, Tiere, Menschen (sprich: das Publikum) auf rätselhafte Weise und steuerten zusätzliche Augmented-Reality-Formen. Das Publikum wurde so Teil eines Systems mit unkalkulierbaren Rückkopplungseffekten und konnte sich fragen, wie stark solch mysteriöse Steuerungssysteme schon unseren Alltag bestimmen. Hans Op de Beeck präsentierte mit seiner immersiven Installation «We Were the Last to Stay», die an der Lyon-Biennale 2022 einen ganzen Hangar füllte, einen grau überpuderten, postapokalyptischen Campingplatz – einen Monumentalfriedhof der westlichen Freizeit- und Konsumideologie.

Ólafur Elíassons Lichtmagie in der Turbinenhalle der Tate Modern in London sorgte schon 2003 für Furore. Brian Enos Ambientsoundinstallation «Lux» verwandelte 2012 die Spiegelgalerie der Venaria Reale bei Turin in ein sphärisches Gesamtkunstwerk. Die aus der Clubkultur stammende Kombination von Sound und Lichteffekten erweist sich zuverlässig als Attraktion, wie auch ein Besuch in Pipilotti Rists «Pixelwald» im Kunsthaus Zürich zeigt: Das begehbare Dickicht aus schneeflockenartigen Lichterketten, die mit dem Sound die Farbe wechseln, wirkt unwiderstehlich. Und gerade hat das Kunsthaus bekannt gegeben, ab Januar Refik Anadols «Glacier Dreams» (2023) zu zeigen, einen auf Gletscherdaten basierenden «immersiven digitalen Raum».

Nicht alle Künstler:innen setzen bei immersiv angelegten Installationen auf Spitzentechnologie. Doch so unterschiedlich die Mittel, stets ist ihr Ziel, ästhetische Sonderzonen zu schaffen, in denen wir für einige Zeit den Rest der Welt vergessen – und uns vielleicht sogar fragen, warum wir sie manchmal so gerne vergessen möchten.

Damit lenken sie den Blick auf einen wesentlichen Grund für den aktuellen Erfolg immersiver Angebote: In einem Alltag, der uns ständig mit einer Überdosis akustischer und visueller Reize konfrontiert und in dem nicht zuletzt auch die allgemeine Weltlage unübersichtlich und überfordernd erscheint, binden und fokussieren sie die Aufmerksamkeit, indem sie ästhetisch aufgeräumte Rückzugsinseln bereitstellen. Eskapismus für Minuten. Künstler:innen verhelfen sie in der überfordernd vielstimmigen Kunstwelt zu punktuell verstärkter, auf sie allein gerichteter Präsenz.

Begehbarer Geburtskanal

Den Boom reflektieren auch Ausstellungen, die sich der Geschichte immersiver Kunstgenres widmen. So zeigte das Musée cantonal des beaux-arts Lausanne dieses Jahr Beispiele immersiver Kunst von 1949 bis 1969. Die US-amerikanische Künstlerin Judy Chicago etwa lässt in ihrem «Feather Room» (1966) das Publikum durch einen knietief mit Federn gefüllten Raum stapfen, und Gianni Colombo zielt im mit fluoreszierenden Fäden hergestellten «Spazio elastico» (1967) auf den Verlust der räumlichen Orientierung.

Fast zeitgleich rekonstruierte das Münchner Haus der Kunst historische Erfahrungsräume in der Ausstellung «Inside Other Spaces – Environments by Women Artists 1956–1976». Nicht umsonst lag der Fokus auch hier auf einer enorm produktiven Epoche des Umbruchs. Immersive Erfahrungsräume waren zunächst eine Strategie von Künstlerinnen, um sich in der noch stark männlich geprägten Kunstwelt mit einem eigenen Zugriff zu behaupten. Sie zielten auf die Vermittlung spezifischer körperlicher Erfahrungen. Das reichte von Aleksandra Kasubas fulminanter «Spektraler Passage» (1975) bis hin zu einer Art begehbarem Geburtskanal von Lea Lublin.

Solche Erfahrungsräume stellten, ähnlich wie die von Allan Kaprow propagierten «Happenings» – also Performances, deren fester Bestandteil eine Mitwirkung des Publikums nach vorher definierten Regeln war – einen überkommenen Kunstbegriff zur Diskussion. Im Gefolge von Marcel Duchamp wurde die «retinale», also optische Wahrnehmung als verkürzt und mangelhaft kritisiert, weil sie die anderen Sinne ausklammere.

Die frühen immersiven Erfahrungsräume und Experimente verstanden sich demnach zunächst als Reaktion auf vorherrschende Praktiken des (Kunst-)Konsums. Die Trendwende hin zur «Dematerialisierung der Kunst» (Lucy Lippard) stärkte partizipative Praktiken. Neu im Angebot waren sinnlich erfahrbare Gegenwelten. Eine Art Trip ohne Drogen. Der Einsatz von Technologien stand noch nicht im Vordergrund.

Dürftige Hightech

Diese künstlerischen Experimente mögen als Vorläufer der aktuellen technologisch hochgerüsteten Immersionsangebote erscheinen. Doch vom Anspruch her liegen Welten dazwischen.

Das zeigt etwa ein Besuch des jüngst in New York eröffneten «Interverse» – vom Newsportal «USA Today» sogleich als eines der fünf kulturellen Toperlebnisse 2024 begrüsst. Die Interverse-Website verspricht eine «Flucht» mit «Selbsterfahrungscharakter». Für 48 Dollar erhält man zunächst eine dieser billigen 3-D-Pappbrillen mit roter und blauer Folie. Ein Vorspann in 3-D stimmt raunend auf eine «Entgrenzungserfahrung» ein. Für diese soll ein Raum mit sensiblen LED-Monitoren sorgen. Das Publikum darf das visuelle Geschehen durch Bewegungen und die Berührung der Monitoroberflächen beeinflussen. Man sieht sich zeitverschoben doppelt und dreifach, garniert mit farbigen Kometenschweifen und Effekten aller Art. Eine Art Bildschirmschonerdelirium, dessen Fadheit auch die dargebotenen New-Age-Sprechblasen nicht verbergen können.

Wesentlich raffinierter sind die Erzeugnisse des bei Immersion als besonders avanciert geltenden japanischen Künstlerkollektivs «teamLab». Seine interaktive Revue in einem gigantischen leeren Tank in Schanghai war schon 2019 technologisch wie ästhetisch um einiges imposanter als das New Yorker «Interverse». Ein an Monet erinnerndes Blütenfeuerwerk kam beim überwiegend jungen Publikum als Selfiekulisse gut an. Doch selbst dieses ebenfalls als «grenzenlos» angepriesene visuelle Spektakel wurde rasch schal. Die aufgeschäumte ästhetische Pracht wirkte erst überwältigend, dann anstrengend und komplett sinnbefreit. Sie erzählte nichts, rieb sich an nichts, wies nicht über sich hinaus. Sie bewies vor allem, dass das Kollektiv mit Hightech einen prächtigen Wahrnehmungskäfig bauen kann.

Im Dienst des Marketing

Ästhetisch aufgeräumte Rückzugsinseln für einen überreizten Alltag und eine unübersichtliche Welt – ist das alles, was immersive Kunst heute leisten kann? Einer, der an das künstlerische und kritische Potenzial der Immersion glaubt und dieses auf verschiedene Weise auslotet, ist Chris Salter. Seit 2022 leitet er das hybride Labor für Forschung, Lehre und Produktion, den Immersive Arts Space, an der Zürcher Hochschule der Künste.

Salter, der Philosophie, Ökonomie, Theater und Computermusik studierte und zunächst als Theaterregisseur aktiv war, ist ein international bekannter Medienkünstler. Seine multisensorischen Environments, in denen das Publikum aktiv mitwirkt und dabei eine virtuelle Transformation des eigenen Körpers erleben kann, waren zuletzt in Paris, Mailand, Madrid, Linz und Zürich zu sehen. Mit «Sensing Machines» (MIT Press 2022) hat er eine Kulturanalyse zu den allgegenwärtigen Sensortechnologien vorgelegt; sie reichen von Überwachungskameras bis zu den «Smart Watches» und «Wearables», die den Puls messen und zugleich im grossen Stil wertvolle Daten sammeln.

Salter ordnet das Phänomen der Immersion in gesellschaftliche, vor allem aber ökonomische Zusammenhänge ein. Schon bei einer Vorläuferform, den Panoramen des 19. Jahrhunderts, ging es um ein Ausloten der Grenzen vorhandener Technologien, und das hat sich bis heute nicht geändert. Die menschliche Neugierde ist hierfür empfänglich.

Zugleich erklärt die Technologiefixierung manche Berührungsängste seitens der Kunst und ihre anfängliche Bevorzugung handgestrickter Lowtechimmersion. Technologisch basierte Kunstwerke, lange eher eine Sache spezialisierter Festivals, galten als eine nur dürftig verbrämte Form des Hightechmarketing. Salter hält diese Kritik für triftig. Sie stammte aus den künstlerischen Gegenkulturen der sechziger Jahre, die die Entwicklung des sogenannten militärisch-industriellen Komplexes nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA misstrauisch beäugten. Oft zu Recht, wie die gesellschaftlich folgenreiche Popularisierung und vor allem Kommerzialisierung der ursprünglich fürs Militär entwickelten Internet- und Gametechnologie im Rückblick zeigt.

Im Fall der Immersion weist Salter auf ein frühes, besonders erfolgreiches Technologiemarketingprojekt hin: den von Charles und Ray Eames zusammen mit dem Architekten Eero Saarinen für die Weltausstellung in New York 1964 entworfenen, immens erfolgreichen IBM-Pavillon und seinen Vorläufer «Mathematica» (1961) in Los Angeles.

Der Pavillon sollte dazu dienen, die Aufmerksamkeit der Besuchenden zu bündeln und auf die angepriesenen Waren zu lenken. Immersion wurde als effizientes Marketinginstrument in der «Erfahrungs- und Erlebnisökonomie» entdeckt, die die beiden Harvard-Ökonomen Joseph Pine II und James H. Gilmore schon 1991 beschrieben haben und die heute so zentral ist.

Autonomie auf dem Prüfstand

Was haben «Immersive Arts» der Indienstnahme durch den Technologiesektor entgegenzusetzen? Wie können sie den Vorwurf entkräften, mehr zu sein als eine ästhetisch aufgemotzte Hightech-Demoversion? Denn diesen Anspruch erhebt Salter zumindest für die von ihm mit seinem Team produzierten multisensorischen Installationen, wie etwa die auf den Bauhaus-Mitgründer Laszlo Moholy-Nagy und seine Forderung nach einem «Theater der Totalität» zurückweisende «Sensefactory» (2019). Die Besucher:innen werden einem instabilen Ambiente voller interaktiv-immersiven Sinnesreizen ausgesetzt, in dem der einzige verlässliche Faktor die eigene Wahrnehmung bleibt. Der Ansatz besteht darin, die Faszination der technologischen Möglichkeiten auszukosten, zugleich aber auch die Bandbreite ihrer Funktionen zu testen und gegen den Strich zu bürsten. Das Publikum wird in einen technisch gesteuerten, erzählerisch angelegten Mitwirkungsprozess einbezogen, in dessen Verlauf es immer wieder auch zur Reflexion über das Erlebte und Gesehene angeregt wird.

Auf theoretischer Ebene verfolgt Salter seinen kritischen Ansatz mit dem von ihm geleiteten neuen Nationalfonds-Forschungsprojekt «Probing XR’s Futures». An der Eröffnungsveranstaltung diskutierten die Teilnehmenden aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Game Design, Anthropologie, Soziologie oder Philosophie Funktionen und vor allem die noch viel aufschlussreicheren Dysfunktionen der Virtual Reality und ihrer Apparaturen in Bezug auf unseren Alltag.

Denn spätestens seit den sechziger Jahren wird unser Leben immer stärker von einer «mixed reality» geprägt: Virtuelle Räume überformen den realen Raum. Immersive Erfahrungen werden immer selbstverständlicher. Daher lohnt es sich, die Spielregeln und Requisiten dieser Realität genau zu prüfen. Im Forschungsprojekt sind etwa die Computerbrillen von Meta und Apple ein Thema. Schon an der Eröffnungsveranstaltung wird klar, dass diese von einem idealtypischen Körper ausgehen. Auch geben sie auf manipulative Weise Kommunikationsformen vor. Denn sie dienen vor allem den von den Technologiefirmen verfolgten kommerziellen Interessen.

Kunst und Forschung können Freiräume bieten, um alternative Anwendungsweisen von Hightech auszuloten und kritisch zu reflektieren. Sie können zu Hilfsgeräten für Menschen mit Einschränkungen werden – wie das beispielsweise der an der Eröffnung von «Probing XR’s Futures» anwesende, durch seine Muskelatrophie stark beeinträchtigte Künstler Christian Bayerlein demonstrierte. Oder umgekehrt der Simulation körperlicher Erfahrungen dienen, die einem sonst unzugänglich sind. So könnte auch Immersion zu einem wirklichen Erkenntnisgewinn für die Gesellschaft beitragen und mehr sein als nur eine illusionistische Käseglocke mit Timer.