Pflegeinitiative: Fahrlässig zurückhaltend
Zweieinhalb Jahre nach der denkwürdigen Annahme der Pflegeinitiative: Der Bundesrat ignoriert den Ernst der Lage.
Am 26. November 2021 hat die Schweizer Stimmbevölkerung mit 61 Prozent Ja-Stimmen die Pflegeinitiative des Berufsverbands der Pflegefachkräfte (SBK) angenommen. Schon damals war die Situation prekär: Rund 12 000 Stellen in der Pflege waren unbesetzt.
Inzwischen sind zweieinhalb Jahre vergangen – und die Lage hat sich weiter verdüstert. In kaum einem anderen Bereich des Arbeitsmarkts verlassen so viele Fachleute ihren Beruf nach so kurzer Zeit, jede:r Dritte schon vor dem 35. Lebensjahr. Laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium ist die Zahl der offenen Stellen bereits Ende 2022 auf 15 000 angestiegen.
Und der Bedarf an neuen Pfleger:innen nimmt laufend zu. Bis 2029 braucht es laut SBK in der Schweiz über 70 000 zusätzliche Pflegende, um die Qualität der Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Der Grund für den eklatanten Fachkräftemangel in diesem systemrelevanten Sektor ist eindeutig: In den wenigsten Kantonen haben sich die Arbeitsbedingungen spürbar verbessert.
Dabei ist der Auftrag der Initiative klar: Bund und Kantone müssen nicht nur grosszügig in die Ausbildung von Pflegefachleuten investieren, sondern vor allem: bessere Arbeitsbedingungen garantieren, wozu neben genügend Personal in den jeweiligen Arbeitsschichten, verlässlichen Dienstplänen und familiengerechten Strukturen auch angemessene Löhne gehören.
Vier Jahre hat das Parlament ab dem Abstimmungstermin Zeit für die Umsetzung der Initiative. Die erste Etappe, die Umsetzung einer Ausbildungsoffensive, ist im Gang. Für die Umsetzung der zweiten Etappe, in der es um die Arbeitsbedingungen geht, bleiben noch eineinhalb Jahre. Dazu hat der Bundesrat letzte Woche die Vernehmlassung eröffnet. Artikel 1 im Vorentwurf hält den Zweck des neuen Gesetzes fest: Es «soll dazu beitragen, dass die Verweildauer im Beruf zunimmt».
Nun lässt die Verfassung keine verbindlichen Bestimmungen zu Arbeitsbedingungen auf eidgenössischer Ebene zu. Dafür sind die Kantone zuständig. Das aber sollte den Bundesrat nicht daran hindern, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, die dem Ziel der Initiative wirklich dienen. Ein Blick in den Entwurf jedoch zeigt: Die Vorschläge sind ungenügend. So fehlen klare Empfehlungen für eine Anhebung der Löhne; auch finden sich keine Vorgaben für bessere Personalschlüssel, Verbesserungsvorschläge für ältere Angestellte oder Mindestforderungen für eine angemessene Finanzierung der Pflegeleistungen.
Wie mutlos der Entwurf ist, zeigt sich allein darin, dass schon heute in den meisten Kantonen bessere öffentlich-rechtliche Bedingungen oder Gesamtarbeitsverträge (GAVs) gelten, als es der Bundesrat im Minimum vorsieht. Das betrifft auch die vom Bundesrat vorgeschlagene Definition der neuen Normalarbeitszeit («zwischen 38 und 42 Stunden»). Doch selbst seinen eigenen vagen Anregungen scheint der Bundesrat zu misstrauen: Eine zweite Version des Gesetzes, die er vorlegt, würde es sogar erlauben, von bereits bestehenden GAVs abzuweichen.
Schon jetzt zeichnet sich ab: Die Umsetzung der Pflegeinitiative wird nicht genügen, um den dramatischen Fachkräftemangel zu entschärfen. Zumal es dazu grundsätzliche Änderungen der Finanzierungsweise bräuchte. Denn um die Bedingungen in der Pflege tatsächlich attraktiver zu machen, müsste das Gesundheitswesen so weit wie möglich eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit sein. Doch das Parlament tendiert in die Gegenrichtung – wie zuletzt bei der Annahme der «Einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Behandlungen» (Efas), die es den Kantonen erlauben würde, sich im Gesundheitswesen der Verantwortung zu entziehen.
Weil Bundesrat und Parlament ihrem Auftrag nicht nachkommen, sind andere Kräfte gefragt, um den Notstand in der Pflege zu beheben. Damit die einst als historisch bezeichnete Annahme der Pflegeinitiative nicht als leeres Versprechen in die Geschichte eingehen wird, braucht es weiterhin den unermüdlichen Kampf von Gewerkschaften und Berufsverbänden wie dem Verband der Angestellten im öffentlichen Dienst (VPOD) und dem SBK.