Schlaflosigkeit: «In mir ist etwas angeknipst»

Nr. 20 –

Die deutsche Autorin Theresia Enzensberger leidet unter Schlafproblemen. In einem Buch untersucht sie, warum wir alle so erschöpft sind. Und warum der Schlaf uns lehren sollte, die eigene Schwäche als Regenerationsquelle zu sehen.

Illustration von Constanza Giuliani

WOZ: Frau Enzensberger, wie haben Sie heute Nacht geschlafen?

Theresia Enzensberger: Danke der Nachfrage, ich habe gerade eine gute Phase, ich fühle mich beinahe wie ein normaler Mensch. Oft schlafe ich wochenlang ohne Probleme, dann ist plötzlich die Schlaflosigkeit wieder da. Sie führt eine Willkürherrschaft.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Sie seien eine «Schlaflosigkeitsveteranin». Wann begann dieser Zustand?

Schon als Kind hatte ich Probleme, einzuschlafen, aber richtig schlaflos bin ich erst seit ein paar Jahren. Bei mir kreisen die Gedanken nicht, wenn ich nicht schlafen kann, ich habe kein Kopfkino. In meinem Kopf herrscht absolute Leere. Aber in mir ist etwas angeknipst. Es ist, als ob jemand sich weigern würde, das Licht auszumachen. Meist schlafe ich dann nur ein, zwei Stunden pro Nacht.

Wie lange hält dieser Zustand an?

Drei, vier Tage. Ich fühle mich wie ein Zombie, als wäre ich nicht mehr bei Sinnen. Da googelt man aus Verzweiflung schon mal: «Kann man an Schlaflosigkeit sterben?» So kam ich auf Fatal Familial Insomnia, eine sehr seltene tödliche Krankheit, die zum ersten Mal im 18. Jahrhundert beobachtet wurde. Sie ist genetisch vererbbar und betrifft rund vierzig Familien auf der ganzen Welt. Bei den meisten Betroffenen bricht die Krankheit erst im mittleren Alter aus. Es beginnt mit Schweissausbrüchen und winzigen Pupillen und langer, ununterbrochener Schlaflosigkeit. Später kommen demenzähnliche Zustände, Paranoia und Halluzinationen hinzu. Nach ein paar Monaten ist man tot. Heilungschancen gibt es keine.
 

Theresia Enzensberger
Foto: Christian Werner

Autorin und Journalistin

Theresia Enzensberger (38) ist eine deutsche Schriftstellerin und freie Journalistin, die in Berlin lebt. 2007 erschien ihr Roman «Blaupause» über eine Studentin am Weimarer Bauhaus.

Enzensbergers zweiter Roman, «Auf See» (2022), war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Die Autorin untersucht in diesem Sci-Fi-Roman, der in einem fiktionalen Deutschland der 2030er Jahre spielt, gescheiterte gesellschaftliche Utopien.

Haben Sie Ihre eigene Schlaflosigkeit untersuchen lassen?

Ich war für eine Reportage 2016 in einem Schlaflabor. Aber da habe ich absurderweise sehr tief geschlafen.

Immerhin sind Sie in guter Gesellschaft. Franz Kafka schreibt in seinen Tagebüchern: «Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe.»

Fjodor Dostojewski, Jorge Luis Borges, André Gide, Sylvia Plath: Es gibt eine lange Liste von Autor:innen, die über ihre Schlaflosigkeit geschrieben haben. Ich habe mal gelesen, dass die Schriftstellerei der einzige Beruf ist, der statistisch signifikant mit Depressionen korreliert. Vielleicht liegt es daran, dass man beim Schreiben so viel mit sich selbst beschäftigt ist, dass man sich zurückzieht. Aber ganz grundsätzlich ist Schlaflosigkeit sehr weit verbreitet: Sogar Papst Benedikt litt seit seinem Amtsantritt unter ihr. Sein Arzt hatte keinerlei Bedenken, ihm starke Medikamente zu verschreiben. Es ging aber nie um sein Wohlbefinden. Er selbst sagte, seine «Verfügbarkeit» müsse gewährleistet werden.

Illustration von Constanza Giuliani

Sie wollten mit Ihrem Buch ein breites Panorama zu dem Thema aufmachen?

Ich hoffe, meine Leser:innen sind nicht enttäuscht; der Schlaf ist ein weites Feld, bei dem es unmöglich ist, alles abzudecken. Ich bin von einer Banalität ausgegangen: Das Kapital möchte nicht, dass wir schlafen. Ich wollte wissen, wohin mich dieser Ansatz führt. Die Schlafphasen strukturieren meinen Text: leichter Schlaf, Tiefschlaf, REM-Schlaf. Beim leichten Schlaf kann es zu Zähneknirschen kommen. Deswegen ist der erste Teil des Buches ein politisches Essay. Unser Schlaf ist sehr normiert. Er soll genau zur richtigen Zeit stattfinden, nicht zu viel, nicht zu wenig. Tut er das nicht, wird er als Faulheit oder Dekadenz bezeichnet. Überfluss wird immer bestraft, auch beim Sex und beim Essen. Aber bei diesen Grundbedürfnissen erlaubt die Gesellschaft durchaus individuelle Variationen. Niemand wird schief angeschaut, wenn er oder sie keinen Salat mag.

Schlaf ist ambivalent: Wer schläft, entzieht sich jeder Kontrolle, zugleich brauchen wir ihn, um zu funktionieren.

Das Dilemma des Kapitalismus ist, dass der Schlaf einerseits überflüssig ist, eine störende Verschwendung von Zeit, in der ein Mensch weder arbeiten noch konsumieren kann. Andererseits ist die Produktivität eines wachen, arbeitenden Menschen direkt von der Qualität seines Schlafes abhängig. Das hat schon Karl Marx gewusst. Gleichzeitig zeigen die Statistiken alarmierende Zahlen. Laut einem Bericht der deutschen Krankenkasse DAK sind Schlafstörungen bei Berufstätigen im Alter von 35 bis 65 Jahren zwischen 2010 und 2017 um 66 Prozent gestiegen. Jede:r zehnte Arbeitnehmer:in leidet unter Insomnie. Nur eine Minderheit meldet sich krank. Der Gebrauch von Schlaftabletten hat sich seit 2010 verdoppelt.

Wird der Druck grösser, ständig funktionieren zu müssen?

Schlaf ist auch eine soziale Frage. Wir wissen aus der Forschung, dass Frauen häufiger unter einer minderen Schlafqualität leiden als Männer. Menschen mit weniger Einkommen, geringerem Bildungsstand und Menschen ohne Arbeit schlafen schlechter. In der Medizin spricht man auch von den «sozialen Determinanten der Gesundheit».

Was ist Ihre Diagnose, warum wir so schlecht schlafen?

Natürlich gibt es reale Ängste wie die Klimakatastrophe, die Inflation, aktuelle Kriege. Aber ganz grundsätzlich ist Kontrollverlust schwierig für Menschen. In der vorherrschenden, sozialdarwinistisch gefärbten Weltanschauung ist die Welt ein Kampf aller gegen alle, in der man immer aufpassen muss. Aber Schlaf ist das Gegenteil davon. Er ist ein universeller Kontrollverlust. Jeder Mensch muss schlafen. Wir müssen uns notwendigerweise in einen Zustand begeben, in dem wir verletzlich und schwach sind, um uns regenerieren zu können. Deshalb hat mich in dem Zusammenhang auch die Pandemie interessiert.

Inwiefern?

Zu Beginn der Pandemie hätte man fast das Gefühl bekommen können, es entstehe eine neue Solidargemeinschaft, die sich der Rücksichtnahme auf die «Schwachen» der Gesellschaft verpflichtet hat. Das hat sich schnell ins Gegenteil gewendet. Eine kürzlich erschienene Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass sozialdarwinistische Ansichten während der Pandemie gestiegen sind. Die Idee vom Recht der Stärkeren hat neuen Auftrieb bekommen. Der Impuls, sich von den Schwachen abgrenzen zu wollen, hat sich verstärkt.

Warum ist das so?

Ohne Fürsorge können wir nicht überleben – das ist eine Tatsache, die gern geleugnet wird. Wir alle werden zum Beispiel alt und damit verletzlich. So oder so werden wir früher oder später zu denjenigen, auf die andere Rücksicht nehmen müssen. Auch Kinder brauchen Fürsorge. Aber Care-Arbeit, also Altenpflege oder Kindererziehung, ist nach wie vor eine schlecht bezahlte Frauendomäne – obwohl sie unsere Gesellschaft am Laufen hält.

Wer behauptet, stark zu sein und keine Rücksicht zu brauchen, verleugnet das, was ich in meinem Buch «Relationen der Fürsorge» nenne. Gerade in der politischen Rhetorik beobachte ich verstärkt den neoliberalen Drang, sich von Hilfsbedürftigen abgrenzen zu wollen – in der Rede von der «Eigenverantwortung» zum Beispiel. Als ob «Schwäche», oder eben Fürsorgebedürftigkeit, eine ansteckende Krankheit sei. Eine politische Konsequenz davon ist, dass unser unterfinanziertes Gesundheits- und Bildungssystem am Bröckeln ist.

Illustration von Constanza Giuliani

Burn-out scheint eine Volkskrankheit zu sein. Nimmt die gesellschaftliche Erschöpfung zu?

Die Erschöpfung hat sich ausgeweitet, aber sie wurde nicht entstigmatisiert. Weltweit leiden ungefähr siebzehn Millionen Menschen am sogenannten chronischen Erschöpfungssyndrom. Medien gaben der Krankheit schon in den achtziger Jahren den abschätzigen Spitznamen «Yuppie Flu». Dass Frauen deutlich häufiger betroffen sind als Männer, hat sicherlich dazu beigetragen, dass diese Krankheit so sehr trivialisiert und nicht ernst genommen wurde. Ich denke in meinem Buch darüber nach, ob der Schlaf möglicherweise ein positives Bild der Schwäche sein könnte. Man entkommt dem Kontrollverlust ja nicht. Erholung findet nicht durch Leistung statt, sondern durch Ruhe. Im Schlaf überlassen wir uns der Fürsorge anderer, wir sind hilflos. Schlaf ist eine universelle Verletzlichkeit, die zu Regeneration und Heilung führt.

Der letzte Teil Ihres Buches ist eine Kurzgeschichte. Warum dieses literarische Finale?

Dieser Teil stellt die letzte Schlafphase dar, den REM-Schlaf, in der wir träumen. Ich habe mich bewusst nicht theoretisch mit Träumen beschäftigt, das schien mir ein zu weites Feld. Ich dachte, fernab vom Surrealismus funktioniert die literarische Darstellung des Albtraums am besten als existenzieller Horror: Meine Protagonistin, die in Berlin Kreuzberg wohnt, nimmt Gerüche wahr, die sonst niemand riecht. Sie besucht ihre Eltern am Wannsee, aber schon bald stellt sie fest, dass sie dort keiner mehr erkennt. Sie wird ihrer eigenen Familie fremd. Die Erzählung trägt den Titel ­«Stallgeruch».

Sie wollten eine Schauergeschichte schreiben?

Literarisch beschäftigt mich die Gothic Novel schon länger: Mein letzter Roman, «Auf See», war der Versuch, einen Schauerroman zu schreiben, auch da schlafwandelt meine Protagonistin. Ich mag das Spiel mit Genres, die strenge Regeln haben, die man brechen kann. Die Romantik des 19. Jahrhunderts war ausserdem ständig mit dem Weltuntergang beschäftigt, was für das Thema des Romans – der in einer nahen Zukunft spielt – gut gepasst hat. Inspiriert hat mich auch die englische Autorin Ann Radcliffe, in deren Büchern übernatürliche Dinge passieren, die aber am Ende immer durch ganz diesseitige Erklärungen aufgelöst werden. Das Monströse, so stellt sich heraus, ist am Ende die Realität des Patriarchats.

Stallgeruch und Kontrollverlust

Der Hanser-Verlag hat eine neue Reihe gestartet, in der Autor:innen wichtige Themen des Lebens abhandeln. So schreibt Literaturkritikerin Elke Heidenreich über das Altern, Autorin Daniela Dröscher über das Sprechen, Filmemacherin Doris Dörrie übers Wohnen – und Theresia Enzensberger über das Schlafen. Ihr Buch ist eine anregende Mischung aus formal drei sehr unterschiedlichen Teilen, einem politischen Essay, einer persönlichen Erkundung ihrer eigenen Schlaflosigkeit und einer literarischen Erzählung.

Im theoretischen Teil versucht Enzensberger, Schlafen in seinem politischen Widerstandspotenzial zu erfassen, und fragt, warum unsere Gesellschaft so grosse Angst vor Kontrollverlust hat. Gerade die Pandemie scheint uns den Mut genommen zu haben, unsere menschlichen Schwächen nicht als extreme Bedrohung wahrzunehmen. In der abschliessenden Erzählung «Stallgeruch» verliert eine junge Frau nicht nur ihren Geruchssinn, sondern auch ihre Familie, die sie nicht wiedererkennt.

Theresia Enzensberger: «Schlafen». Hanser Verlag. München 2024. 112 Seiten. 25 Franken.