Literatur: Das Zündhölzli auf der Zunge

Die an Leib und Leben Versehrten sind ihr Thema: Im Roman «Herzklappen von Johnson & Johnson» (2020) verstummt der aus Kriegsgefangenschaft heimkehrende Grossvater ob begangener und erfahrener Gräuel; seinem Enkel fehlt aufgrund eines Gendefekts das Schmerzempfinden – weshalb also sollte er die Hand von der heissen Herdplatte nehmen?
In Valerie Fritschs neuem Werk «Zitronen» leidet der Protagonist August Drach umso mehr. Bereits im Kindesalter wird er an Leib und Seele misshandelt, zuerst vom gewalttätigen Vater und nach dessen abruptem Verschwinden von der Mutter, die nur zuneigungsfähig scheint, wenn der Sohn dahinsiecht. Ihre kleinen Tabletten helfen nicht, ebenso wenig die roten Streichholzköpfe, an denen sie den Buben zu lutschen zwingt. Wie auch, wenn sie die Ursache von Augusts konstanter Übelkeit sind: Die Mutter ist ihrerseits krank, sie hat das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.
Bloss, wie soll das auffallen in einem Provinznest, von dem es heisst: «Überall gab es Geschichten, hinter denen man rasch die Tür zuzog»? Erst ein Schicksalsschlag im Wortsinn – er wird vom Blitz getroffen – befreit August aus den Fängen seiner Mutter. Doch auch das Leben in der Stadt lässt seine verletzte Seele nicht genesen. Er sucht Halt unter Randexistenzen und verliebt sich so abgrundtief in Ava, dass diese schliesslich flüchten muss. «August Drach liebte wie ein Hund.»
Fritschs Sprache ist berauschend, manche Rezensent:innen schwärmen von einer Prosa, die in ihrer Künstlichkeit «transzendental entrückt» sei. Oft schweben die Sätze so erhaben über dem Geschehen, dass einem schwindlig werden könnte. Mitunter kippt das Vieldeutige aber auch ins Schwurblige, etwa wenn August Jahre später zur Mutter ins Dorf zurückkehrt und diese nur noch als einen Schatten ihrer selbst antrifft: «In ihrem dünnen Leib und unter einer ruhigen Miene verbarg sie Tumoren klein wie Knöpfe und gross wie Zitronen.» Dabei war der Sommer zwischen Zitronen doch eine der schönsten Kindheitserinnerungen von August Drach.