Schweiz–Kosovo: «Mich hat die Übersättigung in der Schweiz irritiert»

Nr. 19 –

Aulona Selmani und Ilir Hasanaj sind Filmschaffende zwischen der Schweiz und dem Kosovo. Um ihre Stimme zu finden, mussten beide erst auswandern – in entgegengesetzte Richtungen.

Ilir Hasanaj und Aulona Selmani
Vermischte Identitäten, neue Perspektiven: Ilir Hasanaj und Aulona Selmani schlagen mit ihren Filmen Brücken zwischen dem Kosovo und der Schweiz.

Ein Donnerstagabend im Februar, in der Bar des Kinos Riffraff in Zürich. Der schweizerisch-kosovarische Regisseur Ilir Hasanaj ist auf Durchreise. Vor wenigen Tagen wurde sein neuer Kurzfilm «Workers Wings», eine experimentelle Dokumentation über Bauarbeiter im Kosovo, am International Film Festival Rotterdam ausgezeichnet. Zeit, sich auszuruhen, hat der 38-Jährige nicht. Tags darauf fliegt er in den Kosovo, wo er die letzten Jahre gelebt hat. Nun organisiert er seinen Umzug zurück in die Schweiz.

In den vergangenen Jahren sei viel passiert, sagt Hasanaj. «Ich habe meine Stimme gefunden, meinen Platz in der Gesellschaft.» Doch der Weg dahin war lang. Auch für die kosovarische Regisseurin und Drehbuchautorin Aulona Selmani.

Was fehlt, wenn alles perfekt ist

Beide sind noch Kinder, als sich ihr Leben abrupt ändert. Ilir Hasanaj wird im Kosovo geboren. Er ist sieben Jahre alt, als seine Familie in die Schweiz flüchtet. Aulona Selmani kommt in der Schweiz zur Welt. Später zieht ihre Familie zurück in den Kosovo. Irgendwo zwischen diesen beiden Ländern entsteht für beide ein neues Stück Identität. Eines, nach dem sie später suchen werden, auch als Filmschaffende. Ihre Suche führte Selmani zurück nach Zürich. Hasanaj nimmt den umgekehrten Weg: Von Zürich aus geht er zurück in den Kosovo.

Das war vor sieben Jahren. Damals wollte er nur noch weg aus Zürich. Ausbrechen. Aus zugeschriebenen Identitäten, aus den geordneten Bahnen des Filmstudiums. «Du bist Albaner», «du bist Kosovare» hörte Hasanaj als Kind und Jugendlicher oft. Dabei habe er damals selbst nicht gewusst, was es heisst, Albaner oder Kosovare zu sein. Er, der die längste Zeit seines Lebens in der Schweiz verbracht hatte und wenig über den Kosovo wusste.

Hasanajs Vater war politischer Aktivist, die Familie musste 1993 vor dem serbischen Regime flüchten. In der Schweiz wuchs er mit drei Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen in Winterthur auf. Nach einer Lehre zum Informatiker studierte er Film an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). «Im Studium ging es oft um die beste Kamera, den perfekten Ton, die perfekte Beleuchtung», sagt er. Rundherum eine Stadt mit Dutzenden Kinos. «Diese Übersättigung irritierte mich.»

Am Ende seines Filmstudiums fasst er einen Entschluss: Er will zurück zu den Basics, zurück auch in den Kosovo. Dort will er die Essenz des Filmemachens suchen gehen. Und sich selbst.

Während sich Ilir Hasanaj bereit macht für sein zweites Leben im Kosovo, bereitet sich Aulona Selmani in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina auf ihr Filmstudium vor. Selmani kommt 1997 in Binningen in Baselland zur Welt. Ein Jahr später herrscht in der Heimat ihrer Eltern Krieg. «Als wir nach der Jahrtausendwende in den Kosovo zurückkehrten, musste ich das Land erst verstehen lernen», sagt sie im Onlinecall.

2015 beginnt sie an der Universität Prishtina Film zu studieren. Und fühlt sich oft blockiert. «Immer fehlte es an etwas», erinnert sie sich. Trotzdem schafft Selmani den Bachelor. 2020 kommt sie nach Zürich, für ein Masterstudium an der ZHdK. «Es war seltsam», sagt sie. «Ich habe fast keine Kindheitserinnerungen an die Schweiz. Doch ich fühlte mich hier sofort zu Hause. Als hätte ich dieses Land, diese Sprache vermisst, ohne es zu wissen.» Selmani ist motiviert, schreibt viel an Konzepten, Drehbüchern, Rollen. Weil nun erstmals alles da war: Zeit, Geld, Ausrüstung, ein Team. «Hier konnte ich endlich Filmemacherin sein», sagt sie.

Umgeben von Geschichten

Als Ilir Hasanaj 2014 auf Besuch in den Kosovo geht, zieht er nicht bei seinen Verwandten ein: «Ich wollte mir mein eigenes Leben aufbauen, den Kosovo ausserhalb meiner Komfortzone kennenlernen.» Er arbeitet an seinem Dokumentarfilmdebüt und filmt mit seiner ersten eigenen Kamera, einem älteren Modell, damals gekauft vom Ersparten als Informatiker. Sein Schnittplatz: ein Gemeinschaftshaus in Prishtina, wo Kreative ein und aus gehen. Baustandard: alt, mit viel Liebe improvisiert.

Bald organisiert Hasanaj Filmscreenings im neu aufgebauten alternativen Kulturzentrum Termokiss. 2018 gründet er in der Hauptstadt das Kino Armata mit. «Damals gab es in Prishtina auf fast eine halbe Million Einwohner nur ein Kino. Wie entsteht an so einem Ort mehr Kultur?» Diese Frage treibt ihn an.

Hasanaj findet, was er in der Schweiz vermisste: Raum, um Neues zu schaffen und sich auszuprobieren, abseits vorgespurter Bahnen. Romantisieren möchte er aber nichts. «Im Kosovo kannst du irgendwo beginnen und sicher sein: Es fehlt was.» Gleichzeitig erlebt er im Kosovo eine bisher nicht gekannte Energie oder «Not», wie er es nennt, zu erzählen. Die Geschichten, nach denen er gesucht hat, umgeben ihn nun.

So auch jene, aus der dann «Workers Wings» wurde. Während der Arbeiten an seinem ersten langen Dokumentarfilm fällt in Prishtina ein Bauarbeiter vom Gerüst, aufs Trottoir, auf dem Hasanaj unterwegs ist, um sich sein Mittagessen zu holen. «Der Mann hat fürchterlich geschrien.» Die Schreie verfolgten Hasanaj. Warum ist der Mann vom Gerüst gefallen?

Später taucht Hasanaj in die Machenschaften grosser Bauunternehmen ein und sucht nach Männern wie jenem, den er damals am Boden liegen sah. Dieser Film wäre wohl nicht entstanden, wenn er nicht dort gelebt hätte, ist Hasanaj überzeugt. Gleichzeitig habe ihm sein Leben in der Schweiz im Kosovo Türen geöffnet: «Es ist ein Eisbrecher, wenn du sagst, dass du aus der Schweiz kommst.» Die Leute wollen wissen, warum er zurückgekehrt sei. Seine Filmausbildung in der Schweiz – eine Art Gütesiegel. Das habe geholfen, das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, die in ihrem Leben viel Schlechtes erfahren hätten.

Es ist Hasanaj ein Anliegen, in seinen Filmen Menschen zu porträtieren, die oft unsichtbar bleiben. Er selbst erinnert sich an die neunziger Jahre im Kosovo, die von Repression gegen die albanische Bevölkerung geprägt waren. Später, in der Schweiz, lebte seine Familie zeitweise von Sozialhilfe. «Ich weiss, wie es ist, ausgegrenzt zu werden.»

Der Ansporn, weiterzumachen

Auch Aulona Selmani spricht davon, dass sie in ihren Geschichten jenen eine Stimme geben möchte, die nicht gehört würden. In ihrem Kurzspielfilm «And the Wind Weeps» erzählt sie von einem Mann, der im Kosovokrieg ein Massaker überlebt hat. Nun fürchtet er, nicht mehr rechtzeitig Zeugnis vor dem Kriegsverbrechertribunal ablegen zu können. «Als junge Person möchte ich nach vorne schauen», sagt sie. «Doch gibt es Menschen, die ihr Leben lang in der Vergangenheit gefangen bleiben.»

Von einer Verpflichtung, Geschichten aus ihrer Heimat erzählen zu müssen, möchte Selmani nicht sprechen. Sie möchte verstehen: Wie fühlen diese Menschen? Was kommt nach dem Krieg? Fragen, die sie seit ihrer Kindheit umtreiben. Schon damals hörte sie die Erwachsenen erzählen, was im Krieg geschah. Nie aber, wie es ihnen damit ging.

«And the Wind Weeps» feierte seine Weltpremiere am Filmfestival in San Sebastian; am Kurzfilmfestival Żubroffka in Polen gewann der Film den New Europe Talents Award. Wenn Überlebende anderer Kriege nach der Vorstellung sagen, dass sie sich mit der Figur in ihrem Film identifizieren können, ist das für Selmani das grösste Lob. Und ein Ansporn, weiterzumachen.

Der Protagonist ihres Films vereint viele wahre Schicksale, die Selmani über Monate recherchiert hat. Am Set hat sie mit kosovarischen Schauspieler:innen gearbeitet, die, anders als sie selbst, den Krieg erlebt haben. Ihr Schweizer Team reiste nach dem Dreh in den Kosovo, um die Geschichte des Films besser zu verstehen. Selmani schlägt mit ihren Filmen so Brücken zwischen dem Kosovo und der Schweiz und zwischen Teilen ihrer eigenen Identität. Mit jedem Film finde sie ein Stück von sich selbst, sagt sie. Früher habe sie sich im «Dazwischen» oft verloren gefühlt. Heute sei sie dankbar: «Ich kann aus verschiedenen Perspektiven auf Orte und Geschichten blicken.»

Ilir Hasanaj sagt, seine Zeit im Kosovo habe ihn selbstbewusster gemacht. «Ich fühle mich nicht mehr in einem Dilemma wegen meiner vermischten Identitäten. Sie gehen Hand in Hand, auch in meiner Arbeit. Ich schöpfe aus ihnen.» Von der Schweiz aus wird er bald auch sein bisher grösstes Projekt angehen: einen Spielfilm über einen kosovo-albanischen Aktivisten – mit Verbindungen in die Schweiz.

«The Land Within» im Kino : Rückkehr in eine Geisterwelt

Der Regisseur Fisnik Maxville kam mit der Flucht seiner Eltern 1993 in die Schweiz. Geboren in Prishtina, ist Maxville in Neuenburg aufgewachsen, nach einem ersten Studium absolvierte er die Filmschule in Genf und Lausanne. In seinem Dokumentarfilm «Zvicra» (2018) widmete er sich der kosovarischen Community in der Schweiz, fürs Westschweizer Fernsehen begleitete er danach Bernard Challandes als Trainer der kosovarischen Fussballnationalmannschaft («Fin de partie», 2020).

Sein erster Spielfilm führte Fisnik Maxville dann erneut zurück in den Kosovo: Im Zentrum von «The Land Within» (2022) steht Remo (Florist Bajgora), der als Teenager einst in die Schweiz geflüchtet ist. Jetzt wird er von seiner Cousine Una (Luàna Bajrami aus «Portrait de la jeune fille en feu») ins Land seiner Herkunft zurückgerufen, weil sein Pflegevater im Sterben liegt. In der alten Heimat, wo ihm vieles fremd geworden ist, bekommt Remo die stillen Vorwürfe derer zu spüren, die damals nicht geflohen sind. Aber auch wenn Remo den Krieg nicht am eigenen Leib durchlitten hat, ist er doch von diesem gezeichnet. Das hier sei eine Geisterwelt, warnt ihn Una vieldeutig. Nicht nur, weil Remo nach seiner Rückkehr auf Schritt und Tritt von den Schatten des Kriegs verfolgt wird, dem er sich entziehen konnte. Da ist auch noch ein Familiengeheimnis, dem er nicht entkommt.

«The Land Within» ist ein dunkles Drama über die manchmal unsichtbaren Narben des Kriegs und auch über die Tyrannei der Väter. Dabei funktioniert der Film wie ein Mysterythriller: In Rückblenden entfaltet sich hier ganz allmählich eine grosse Generationentragödie. Ein ambitioniertes Spielfilmdebüt, das jetzt mit einiger Verspätung doch noch in die Schweizer Kinos findet.

«The Land Within». Regie und Drehbuch: Fisnik Maxville. Schweiz 2022. Jetzt im Kino.