Sexualisierte Gewalt: Adieu, Happyland

Nr. 21 –

Agota Lavoyer hat ein Buch darüber geschrieben, wie sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft verharmlost wird. Im Interview erklärt die Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, wie gefährlich das ist – und wie man einen Weg hinaus findet.

Agota Lavoyer
«Frauen haben ex­trem viel zu verlieren, wenn sie Täter anklagen»: Agota Lavoyer. 
 
Foto: Raphaela Graf

WOZ: Frau Lavoyer, Sie beginnen Ihr Buch «Jede_ Frau» mit den Worten: «Sexualisierte Gewalt ist alltäglich und sie betrifft uns alle. Trotzdem will das Reden darüber noch nicht so recht gelingen. Wobei, das Reden vielleicht schon, aber das Zuhören nicht.» Wie werden wir zu besseren Zuhörer:innen?

Agota Lavoyer: Indem wir das machen, was in der Fachwelt als «empathisches Zuhören» beschrieben wird: Betroffenen zugewandt und ohne Vorverurteilung Raum geben. Mit dem Bewusstsein, dass es um die andere Person geht, nicht um einen selbst, eigene Gefühle oder Bewertungen. Die betroffene Person hat das Recht, das Erlebte so einzuordnen, wie sie das macht.

Klingt erst mal gar nicht so kompliziert.

Gerade im Bereich der sexualisierten Gewalt fällt vielen aber genau das schwer.

Wieso?

Weil sich viele Menschen nach wie vor nicht mit sexualisierter Gewalt beschäftigen und deshalb auch nicht wissen, wie sie mit Betroffenen umgehen sollen. Viele handeln aus der Einstellung heraus, dass sie sexualisierte Gewalt nichts angeht, weil sie noch nie davon betroffen waren. Dieses Selbstbild bröckelt, sobald man mit Betroffenen ins Gespräch kommt und merkt, dass man selbst vielleicht doch schon betroffen war, Formen sexualisierter Gewalt mitbekommen oder, gerade als cis Mann, sogar ausgeübt hat. So was löst im ersten Moment natürlich grosse Abwehr aus.

Sie schreiben: «Sexualisierte Gewalt ist normalisiert. Aber sie ist alles andere als normal.» Hat man das einmal begriffen, gerät ein ganzes System ins Wanken.

Mir gefällt das Bild vom «Happyland» sehr gut, das die deutsche Autorin Tupoka Ogette in Zusammenhang mit Rassismus benutzt: ein Zustand, in dem weisse Menschen leben, bevor sie sich mit Rassismus auseinandersetzen. Sie denken, es gebe gar kein Problem oder dass sie nicht Teil davon seien. Dieses Happyland zu verlassen, ist der erste Schritt zu einer inklusiveren Gesellschaft. Das gilt für Rassismus genauso wie für Klassismus oder Ableismus. Oder eben für Sexismus und Misogynie, das Fundament sexualisierter Gewalt.

Wenn Menschen über sexualisierte Gewalt sprechen, sind es meistens Frauen. Wieso ist hier nach wie vor so viel Bringschuld bei uns?

Dass Aufklärung über ein Thema meist von den Betroffenen selber angefangen wird, ist nachvollziehbar. Aber wir Frauen und non-binären Personen machen seit Jahrzehnten die ganze Aufklärungsarbeit. Männer, die sich in der Schweiz öffentlich engagieren, gibt es nur wenige. Wenn ich das Männern aber vorwerfe, höre ich gerade aus linken Kreisen oft, so was sei doch paternalistisch.

Eine gute Methode, sich aus der Debatte zu schleichen.

Absolut! Es geht nicht darum, dass du Frauen retten sollst. Sondern dass du dich gegen sexualisierte Gewalt aussprichst. Nicht zuletzt, weil die auch cis Männer betrifft. Insbesondere im Kindes- und Jugendalter, aber auch als Erwachsene. Das ist nach wie vor tabuisiert. Ausserdem kommen Männer in all diesen Narrativen rund um sexualisierte Gewalt richtig schlecht weg: der allzeit horny Mann, der seinen Trieben ausgeliefert ist und Frauen erobern muss. Was für ein furchtbares Bild! Wo sind all die Männer, die sagen, wir sind doch nicht so?

Im Buch zitieren Sie dazu die feministische Philosophin Kate Manne: «Mindestens so ein grosses Problem wie die Misogynie ist die Liebe der Männer zueinander.»

Ich mag dieses Zitat sehr. Es zeigt, wie hoch die Hürden bei Männern tatsächlich sind. Sich gegen ein System aufzulehnen, das ihnen lange Zeit viele Vorteile gebracht hat, fällt vielen Männern schwer. Aber sie müssen anfangen, einander zur Rechenschaft zu ziehen. Eine gleichberechtigte Gesellschaft gibt es nicht zum Nulltarif. Dann wirst du halt kein Bundesrat. Du hast dein Leben lang profitiert, jetzt sind andere dran. Im Individuellen ist das vielleicht unbequem, aber im grossen Kontext ist es unerlässlich.

Ein «blöder» Spruch ist weniger gravierend als eine Vergewaltigung. Sie plädieren dennoch dafür, das Ganze nicht vertikal, sondern horizontal zu sehen: Alle Formen sexualisierter Gewalt seien Teil des gleichen Kontinuums. Was bringt das?

Interessant, dass Sie das Kontinuum als Horizontale sehen. Es könnte ja auch ein Kreis sein. Aber ja: Klar gibt es weitaus brutalere sexualisierte Übergriffe als sexistische Sprüche. Doch eine objektive Einordnung sagt nichts darüber aus, wie schlimm die Tat für die betroffene Person war. Eine Hierarchisierung der Taten wertet die Erfahrung der meisten Betroffenen ab, denn meistens war es in den Augen der Gesellschaft nicht «schlimm genug», was wiederum dazu führt, dass so viele schweigen. Es ist wichtig zu verstehen, dass alle Formen sexualisierter Gewalt Teil desselben Problems sind.

Im Buch gehen Sie noch einen Schritt weiter: Rape Culture meine nicht nur die sichtbaren Übergriffe, die marginalisierte Menschen täglich erlebten, sondern reiche bis tief in das hinein, was gemeinhin als normal gilt.

Ich erkläre es anhand einer Pyramide: Im oberen Drittel sind Vergewaltigungen, sexualisierte Übergriffe, sexuelle Belästigung. Die sind mehr oder weniger Teil des öffentlichen Diskurses, wenn es um sexualisierte Gewalt geht. Aber dieser obere Teil baut auf einer Kultur auf: Männer werden so sozialisiert, dass sie Raum einnehmen. Frauen so, dass sie Raum geben. Männer haben mehr Redezeit an Podien, nehmen in den öffentlichen Verkehrsmitteln mehr Platz ein, gehen eher nicht zur Seite, wenn ihnen jemand auf der Strasse entgegenkommt. Das sind alles Formen der Machtausübung. Im Kleinen werden sie vielleicht als nicht so schlimm wahrgenommen, im Grossen sind sie aber gewaltfördernd. Denn sobald Frauen den Männern diesen Raum nicht mehr zugestehen, verteidigen Männer ihren Raum, auch mit Gewalt.

Juristisch gilt stets die Unschuldsvermutung. Oft wird sie aber auch ausserhalb der Gerichte aufgeführt.

Bei der Strafverfolgung braucht es die Unschuldsvermutung, das ist unbestritten. Dieses juristische Prinzip rechtfertigt aber in keiner Art und Weise, dass wir betroffenen Frauen reflexartig die Glaubwürdigkeit absprechen. Dies zu tun, ist zutiefst sexistisch und misogyn. Die Zahl der Falschanschuldigungen ist minim. Trotzdem hält sich das Bild der lügenden, rachsüchtigen Frau. Dabei haben Frauen extrem viel zu verlieren, wenn sie Täter anklagen.

Soll man Täter also benennen?

Ja, wir müssen Täter und Taten benennen. Der Umgang kann nicht sein: Wir schauen weg, bis der Mann allenfalls mal verurteilt wird. Angezeigt und verurteilt werden nur sehr wenige Prozent. Zudem löst eine Verurteilung die strukturellen Ursachen der Gewalt nicht. Wer schweigt, stützt die gegenwärtigen Machtverhältnisse.

Ein sogenanntes Outcalling kann im Freundeskreis, aber auch öffentlicher in den sozialen Medien passieren. Gibt es irgendwo eine Grenze, gerade für Menschen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen?

An erster Stelle stehen das Bedürfnis und der Schutz des Opfers. Grundsätzlich gibt es keinen Grund, Täter und Taten nicht zu benennen. Und es ist typisch für eine Rape Culture, dass man das Benennen und die Benenner:innen zum Problem macht statt die Gewaltausübenden und diejenigen, die zugeschaut oder weggeschaut haben.

Was raten Sie Menschen, die sexualisierte Gewalt beobachten?

Wenn möglich immer eingreifen. Sagen: Das war jetzt gerade sexistisch oder übergriffig, weisst du das? Oft höre ich, dass Menschen sich nicht trauen, weil sie denken, sie könnten der Diskussion nicht standhalten. Das kann ich verstehen, mir geht es bei anderen Themen genauso. Aber wenn die andere Person diskutieren will, darf man auch sagen: «Google it», informier dich.

Verhärten sich die Fronten dann nicht umso mehr? Ich höre schon das alte Klagelied: «Jetzt darf ich ja gar nichts mehr!»

Man darf alles sagen. Aber wenn es was Übergriffiges oder Diskriminierendes ist, muss man damit rechnen, dass das eigene Verhalten Konsequenzen hat.

Vergangenes Jahr wurde die Anthologie «Oh Boy» aus dem Handel genommen. Einer der Autor:innen verhandelte darin einen sexuellen Übergriff, den er selbst begangen hatte. Kurz darauf wurde durch einen Instagram-Post publik, dass das Opfer ihn mehrmals gebeten hatte, den Text nicht zu veröffentlichen. Nachdem das Buch vom Verlag zurückgezogen worden war, gingen der Autor und eine:r der Herausgeber:innen an die Medien: Sie seien gecancelt worden. Wie sollten Täter mit sich umgehen, gerade in der Öffentlichkeit?

Sicher nicht, indem sie das Opfer in seinen Wünschen übergehen. Auch das ist eine Form von Übergriff. Bekannte Täter sollten sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, Konsequenzen tragen. Verantwortung übernehmen. Und nicht nach ein paar Monaten wieder auftauchen und die Öffentlichkeit dafür benutzen, ihr Image wieder aufzupolieren. Erst recht nicht mit der Aussage, sie seien gecancelt worden.

In Ihrem Buch berichten Sie erstmals von eigenen Erfahrungen mit Übergriffen. Wie ist das für Sie?

Ich habe sehr damit gerungen. Seit zehn Jahren arbeite ich nun in diesem Bereich und habe mich nie dazu exponiert. Heute bereue ich, es nicht schon früher öffentlich thematisiert zu haben. Mich hat die Angst geprägt, dass man als Expert:in nicht mehr ernst genommen wird, wenn man über die eigene Betroffenheit spricht.

Mal abgesehen davon, dass es als Frau fast nicht möglich ist, nicht in der einen oder anderen Art und Weise betroffen zu sein: Man hat als Betroffene doch einen Vorteil, gerade weil man weiss, wie sich sexualisierte Gewalt äussern und anfühlen kann?

Ja, dieses «expert by experience» ist enorm wichtig. Aber ich wollte nie, dass man meine eigene Erfahrung als Erklärung dafür nimmt, wieso ich diesen Job mache. Dass mir meine Glaubwürdigkeit abgesprochen wird mit «Die hasst halt Männer» oder «Die ist halt traumatisiert». Aber in meinem Buch geht es darum, dass wir alle ein Teil dieser schrecklichen Rape Culture sind. Und dass wir alle in der Verantwortung stehen, sie zu überwinden. Ich will zur Entstigmatisierung von Betroffenen beitragen und aufzeigen, wie wichtig es ist, Betroffenen zuzuhören. Da schien es mir nur konsequent, meine Geschichte zu teilen.

Buchcover von «Jede_ Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert»
Agota Lavoyer: «Jede_ Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert». Yes Publishing. München 2024. 288 Seiten. 35 Franken.

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von Papajoe6

Do., 23.05.2024 - 19:23

Danke für dieses sehr gehaltvolle Interview. Werde den Artikel als pdf runterladen und möglichst vielen Männern verteilen!