Überschwemmungen in Afghanistan: «Es war wie die Sintflut»
Gewaltige Fluten haben in den letzten Wochen vielerorts Menschen in den Tod gerissen. Unterwegs in der afghanischen Provinz Baghlan, wo die Bevölkerung gegenseitige Hilfe organisiert.
«Der Fluss war voll mit allem, was man sich vorstellen kann: Lehm, Holz, Metall, Stein, Menschen und Tiere. Es war ein Anblick des Grauens», erzählt Ahmad Zia. Der Arzt stammt aus der «Fabrik», einer Gegend nahe Pol-e Chomri, der Hauptstadt der Provinz Baghlan im Norden Afghanistans.
«Fabrik» heisst die Region nach der dortigen Zuckerfabrik, die in den 1940er Jahren mithilfe deutscher Ingenieure errichtet wurde; sie ist bekannt für ihre prächtigen Gärten und grünen Hügel. Hier wird Fisch zum Frühstück gegessen, weshalb sich täglich junge Männer zum Angeln am Fluss verabreden. Doch diesmal brachte der Fluss Tod und Zerstörung. «Nach dem heftigen Regen riss er alles und jeden mit sich. Es war wie die Sintflut», sagt Zia, der private Spendengelder aus dem Ausland sammelt. Viele seiner Freund:innen und Verwandten leben in Deutschland, Frankreich oder in den USA und vertrauen ihm ihr Geld an, damit er Hilfsgüter kauft und betroffene Familien unterstützt. «Ohne diese Hilfe wären die Auswirkungen deutlich schlimmer», so Zia.
Auf die Flut wird der Hunger folgen
Den offiziellen Zahlen der Taliban zufolge wurden in der letzten Woche in Afghanistan über 420 Menschen durch die Überschwemmungen getötet. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Betroffen sind auch andere Provinzen wie Ghor oder Faryab. Allein in Baghlan spricht man mittlerweile von mehr als 200 Todesopfern, Tendenz steigend. Viele Menschen gelten weiterhin als vermisst. «Viele Regionen sind schwer erreichbar, und man muss sich durch eine zwei Meter dicke Schlammschicht kämpfen», sagt Ahmadyar Ulfat.
Dem ehemaligen Regierungsbeamten aus Baghlan fällt es schwer, für das Grauen die passenden Worte zu finden. Er berichtet von 10 000 ertrunkenen Rindern und Schafen, 6000 zerstörten Häusern und zahlreichen unbrauchbaren Ackerfeldern. «Das sind mehrere Tausend Hektaren Land. Die Menschen werden sich kaum von dieser Katastrophe erholen können, doch die nächste steht schon an», so seine Prognose. Denn: Auf die Flut wird der Hunger folgen – und dieser wird wahrscheinlich abermals viele Afghan:innen zur Flucht zwingen.
Tagtäglich versuchen Tausende, das Land zu verlassen. Sie fliehen vor der Rezession und den stets zunehmenden Repressionen der Taliban. Der Schwarzmarkt für Reisedokumente blüht wie kein anderer. Und bald dürfte die grosse Flucht vor dem Klima dazukommen. 2021 haben sich die CO₂-Emissionen in Afghanistan auf rund 11,9 Millionen Tonnen belaufen, was etwa einem Anteil von 0,03 Prozent an den weltweiten CO₂-Emissionen entspricht. Im Vergleich zu anderen Staaten ist Afghanistan praktisch kaum für den globalen Klimawandel mitverantwortlich. Und doch trifft dieser das Land mitsamt seiner Bevölkerung heftiger denn je. In den letzten Jahren kam es regelmässig zu neuen Temperaturrekordwerten und Dürren. Gletscher schmelzen, und Hochwasser wie die jüngsten führen zu Tod, Zerstörung und Vertreibung. Die internationale Staatengemeinschaft fokussierte sich in Afghanistan in den letzten zwanzig Jahren vor allem auf Krieg und ein kurzsichtiges Wirtschaftssystem, das auf ausländische Hilfsgelder angewiesen und mit der militärischen Besatzung verwoben war. Für den Klimawandel und dessen Folgen für das Land interessierte sich kaum jemand.
Folge des Klimawandels
Sie zeigten erneut die verheerenden Folgen des Klimawandels, konstatierte Uno-Generalsekretär António Guterres mit Blick auf die Fluten in den letzten Wochen. So kamen in der Demokratischen Republik Kongo über 400 Menschen ums Leben, und Südbrasilien erlebte die schlimmste Hochwasserkatastrophe seiner Geschichte.
Auch weitere Länder, darunter Ruanda und Uganda, sowie Regionen Europas – etwa das Saarland – sind betroffen.
Helfen mit dem alten Toyota
Doch ebendiese Folgen werden in diesen Tagen in Baghlan sichtbar. Das Krankenhaus der Provinzhauptstadt ist überfüllt mit Leichen, mit Opfern aller Altersgruppen. Übermüdete Ärzte und gestresste Talibanoffizielle hetzen auf den Gängen auf und ab, sie kommen mit dem Zählen der Toten kaum hinterher. Die meisten Afghan:innen können nicht schwimmen; doch vor den schweren Wassermassen, die Schlamm und zerstörtes Hab und Gut mittrugen, konnten sich selbst gute Schwimmer:innen nicht retten.
«Ganze Dörfer wurden mitgerissen. Wir haben Täler aufgesucht, in denen wir uns anfangs nicht sicher waren, ob dort wirklich jemand gelebt hat», erzählt Tamim Mohammad, ein Student. Er hilft mit seinem alten Toyota, Verletzte – bisher weit über tausend – zu Ärzten und Krankenhäusern zu transportieren. «Der Tod ist hier, und er will nicht mehr weg», resümiert er nüchtern. In einer lokalen Whatsapp-Gruppe listet er auf, was an Hilfsgütern benötigt wird.
Die gegenseitige Hilfe: Sie kommt in diesen Tagen vor allem aus der Bevölkerung. Ein wohlhabender Geschäftsmann aus dem westlichen Herat schickte mehrere Lastwagen mit Nahrungsmitteln, während junge Männer wie Mohammad auf eigene Faust in abgelegene Täler ziehen, um Menschen zu bergen. «Wer Gutes tut, tut dies nicht nur für die anderen, sondern auch für sich», sagt er. «So wurde es mir beigebracht. So denken wir alle.»