Afghanistan: «Die Zensur wird täglich systematischer»
Seit drei Jahren herrschen die militant islamistischen Taliban wieder in Afghanistan. Seither haben sie ein umfassendes Kontrollsystem errichtet. Von der Bildung über die Künste bis hin zum Journalismus sind fast alle Lebensbereiche betroffen.
«Ich kann nicht frei sprechen, geschweige denn frei berichten. Mittlerweile zensiere ich mich selbst», sagt Mohammad Zaman via Sprachnachricht auf Whatsapp. Wenige Minuten später löscht er den Nachrichtenverlauf. Die Gefahr, dass sein Mobiltelefon plötzlich an einem Taliban-Checkpoint kontrolliert werde, sei zu gross.
Zaman ist Anfang vierzig und Journalist. Jahrelang berichtete er für zahlreiche lokale und internationale Medien aus dem Südosten Afghanistans. Auch für die WOZ war er bis zur Rückkehr der Taliban im August 2021 hin und wieder tätig. Heute ist die Arbeit für ihn deutlich erschwert. Afghanische Journalisten werden von den extremistischen Machthabern bedrängt, zensiert und bedroht. «Die Zensur ist stark. Man muss sich immer mit dem Informationsministerium der Taliban abstimmen. Wer das nicht tut, bekommt Probleme», erzählt Zaman. Unabhängige Recherchen und Interviews, die in einer freien Medienlandschaft zum Alltag gehören, seien nicht mehr möglich. Journalisten brauchen nicht nur eine Akkreditierung der Taliban, sondern müssen oft auch deren Narrative übernehmen.
Frisierte Todeszahlen
Doch Zaman und viele andere Journalisten, die weiterhin im Land leben und arbeiten, haben noch andere Probleme. «Ich habe erfahren, dass sie Listen führen. Auch mein Name steht dort drauf», sagt Zaman besorgt. Die Listen der Taliban sollen voll sein mit Namen von Journalisten, die einst für westliche Medien tätig waren. Viele davon sind den Taliban bis heute verhasst. Diese werfen den Medien «Propaganda» vor, die über die Jahre zu einem schlechten Image der Islamisten geführt habe. Auf Feinheiten und Nuancen wird dabei kaum geachtet. Zaman berichtete vor der Machtübernahme für ausländische Medien oft über die wirtschaftliche Situation im Land und über politische Entwicklungen. In den letzten Monaten widmete er sich zunehmend Naturkatastrophen wie Dürren oder Überschwemmungen, die zuletzt Mitte Juli Dutzende Todesopfer im Osten und im Zentrum des Landes forderten. Doch selbst bei diesem Thema schritt die Medienkontrolle der Taliban ein. «Wir durften nur die von ihnen kommunizierten, bewusst tief gehaltenen Todeszahlen benutzen. Wer davon abwich, bekam Schwierigkeiten», so Zaman.
Vor drei Jahren zog die Nato unter der Führung des US-Militärs aus Afghanistan ab und überliess das Land abermals den Taliban. Seither sind die militanten Islamisten mit dem Wiederaufbau ihres «Emirats» beschäftigt, das Ende 2001 vom Westen gestürzt wurde. Entrechtungen jeglicher Art gehören mittlerweile zum Alltag. Besonders gravierend ist das Bildungsverbot für Afghaninnen, denen weder der Besuch von Oberstufenschulen noch von Universitäten gestattet ist. Doch auch die Medienfreiheit leidet in dem Land, das zwanzig Jahre lang so viele Journalist:innen ausbildete wie noch nie zuvor, extrem. Seit der Rückkehr der Taliban mussten zahlreiche Sender schliessen. Tausende von Journalistinnen, Nachrichtensprechern oder Moderator:innen haben das Land verlassen. Jene, die weiterhin berichten, tun das unter strenger Beobachtung der Taliban, die teils mit vorgehaltener Kalaschnikow in die Senderäume einfallen, während Afghaninnen nahezu vollständig aus dem Medienbetrieb verbannt wurden. Die wenigen Nachrichtensprecherinnen, die weiter arbeiten können, müssen sich an die strengen Kleidungsvorschriften der Taliban halten und auch ihr Gesicht bedecken.
Feldzug gegen Bücher
«Es gibt keine Presse- und Meinungsfreiheit mehr in Afghanistan. Das ist die traurige Realität, und wir wissen nicht, wann sich das wieder ändern wird», sagt Dschawed Farhad, ein bekannter Publizist und Universitätsdozent. Einst war er Chef des TV-Senders Khurshid und bildete an der Kabuler Universität Journalist:innen aus. Seit August 2021 ist Farhad arbeitslos, sein Sender musste nach der Machtübernahme schliessen. Er lebt weiterhin in Kabul und hält sich bedeckt.
Vor zwei Jahren sorgte Farhad für Aufmerksamkeit, als er sich aufgrund seiner prekären Situation gezwungen sah, seine private Buchsammlung zum Verkauf anzubieten. «Damals ergab das noch Sinn, doch mittlerweile haben die Taliban ja auch Büchern den Krieg erklärt», kommentiert Farhad. Anfang des Jahres beschlagnahmten die Taliban rund 50 000 Bücher. Betroffen waren hauptsächlich Verlage und Buchhandlungen.
Hinzu kamen Verbote in Universitätsbibliotheken, die etwa Bücher von religiösen Minderheiten wie den Schiit:innen betrafen. Doch auch Werke mit salafistischem Einschlag wurden verbannt, sie werden mit den verfeindeten Terroristen des Islamischen Staates assoziiert. «Alles, was nicht mit der Taliban-Ideologie konform ist, wird verboten. Bücher über Liberalismus, Sozialismus, Marxismus, Säkularismus und Demokratie werden nicht geduldet. Der gesamte Buchhandel ist stark unter Druck», erklärt Farhad, dessen eigene Arbeit ebenfalls betroffen ist. Die verantwortlichen Taliban-Ministerien würden regelmässig intervenieren und Druck auf Autoren und Verleger ausüben. Berichten zufolge haben die Taliban-Zensoren in den meisten Fällen die Bücher kaum selbst gelesen. Schon der Titel kann reichen, um als «unislamisch» oder «unruhestiftend» zu gelten und auf dem Index zu landen.
Gesichtslose Kunstwerke
Eine klare Systematik ist nicht erkennbar. Noch nicht. «Ich habe hier noch viele Bücher, die eigentlich nicht ins Weltbild der Taliban passen», erklärt der Kabuler Strassenbuchhändler Schams ul-Hakk. In seinen Regalen finden sich die Biografien von Che Guevara, Stalin und Hitler. Präsent sind auch Werke über berühmte Taliban-Gegner wie den 2001 ermordeten Mudschaheddinkommandanten Ahmad Schah Massud. «Sie haben sich hier bei uns nur an Büchern gestört, die ihrer Meinung nach gegen die ‹afghanische Einheit› stehen», sagt Hakk.
Laut darüber sprechen möchten er und die anderen Buchhändler trotzdem nicht. Zu gross ist die stetige Angst vor dem berüchtigten Taliban-Geheimdienst. «Die Zensur wird tagtäglich systematischer. Das braucht alles noch Zeit. Je fester sie im Sattel sitzen, umso strenger und repressiver werden sie», sagt der Publizist Dschawed Farhad und erinnert an den Iran nach der Islamischen Revolution im Jahr 1979. Auch damals seien viele Repressalien nicht sofort erkennbar gewesen. Heute sei der iranische Buchmarkt alles andere als divers, obwohl jährlich Tausende Bücher verlegt würden. «Autoren, die die Kernideologie des Regimes hinterfragen, haben keine Chance», sagt Farhad.
Tatsächlich reicht schon ein einfacher Spaziergang durch Kabul, um Zeuge der grassierenden Taliban-Zensur zu werden. Zahlreiche Graffiti und Werke lokaler Künstler:innen wurden übermalt und mit steif klingenden Taliban-Sprüchen versehen. Porträts von Königen und anderen historischen Persönlichkeiten wurden gesichtslos gemacht. Der Grund: Wer Lebewesen zeichnet, malt oder in Stein meisselt, versucht laut der extrem orthodoxen Auslegung des Taliban-Islam, Gott zu imitieren. Dies war bereits in der Vergangenheit einer der Gründe, warum selbst antike und unwiederbringliche Kunstwerke wie etwa die Buddhastatuen im zentralafghanischen Bamiyan von den Extremisten zerstört wurden.
Ohne Gesicht sind mittlerweile auch alte Werbeplakate und Mannequins in Modegeschäften. «Selbst die sind nicht sicher vor ihnen», sagt Sarwar Akbari*, ein Student aus Kabul. Was Zensur, Zwang und Unterdrückung im Afghanistan der Taliban bedeuten, weiss er mittlerweile nur allzu gut. Einst glatt rasiert und in Jeans, trägt Akbari mittlerweile einen langen Vollbart und traditionelle Kleidung, in Kabul als «peran tomban» bekannt.
Weder er noch seine Kommilitonen halten sich aus freien Stücken an diesen Dresscode. Es waren die Sittenwächter und die neuen Dozenten des Regimes, die den Campus dominieren und den Studenten ihre Wertvorstellungen überstülpten. Dies sei auch am neuen Stundenplan erkennbar. «Der religiöse Unterricht hat erheblich zugenommen. Wir sind alle Muslime, aber vieles, was die Taliban unterrichten, hat meiner Meinung nach nichts mit dem Islam zu tun. Einer unserer neuen Dozenten stellte den Taliban-Führer Hibatullah Achundsada de facto mit Gott gleich. Das ist in meinen Augen Ketzerei», beklagt Akbari. Auch an der Universität gilt: Die neuen Machthaber sehen sich als grosse Sieger – das muss in Studienfächern wie Geschichte entsprechend so geschrieben und gelehrt werden.
Talibanisierte Stundenpläne
«Ja, der Alltag ist düster geworden. Und die Kontrolle ist stets da», sagt auch Samira Hamidi*, Lehrerin einer Unterstufe für Mädchen. Auch sie hält sich an die Kleidungsvorschriften der Taliban und trägt im Hochsommer dicke, schwarze Stoffe. Ihren Schülerinnen muss sie beibringen, was die Taliban ihr vorgeben. «Ich habe keine andere Wahl. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass unsere Schule von ihnen nicht geschlossen wurde», sagt sie. Ausserdem: Auch in den sozialen Medien müsse man seit der Rückkehr Vorsicht walten lassen. Simple Kommentare könnten zu einer Festnahme führen. «Ich habe mein Profil für Aussenstehende gesperrt und kommuniziere nur noch mit engen Freunden und Verwandten», sagt Hamidi. Die Gefängnisse seien mittlerweile voll mit Insassen, die aufgrund unliebsamer Meinungen verhaftet worden seien.
Dass es hier praktisch jede:n treffen kann, zeigt ein aktueller Fall. Anfang Mai wurde der deutsch-afghanische Aktivist Jama Maqsudi vom Taliban-Geheimdienst in Kabul verhaftet. Er kam erst Ende Juli und auf Druck von deutschen Behörden wieder frei. Maqsudi lebt seit über vierzig Jahren in Deutschland und ist Mitglied der Grünen. Seine Kritik am Taliban-Regime äusserte er auf Demonstrationen in Deutschland sowie in den sozialen Medien.
Während seiner Haft bemerkte Maqsudi, dass die Taliban über all diese Dinge Bescheid wussten. In einer ähnlichen Situation fand sich im vergangenen Jahr auch der französisch-afghanische Journalist Mortaza Behboudi wieder. Er blieb monatelang verschwunden, nachdem die Taliban ihn in der Provinz Bamiyan verhaftet hatten. «Die Situation einheimischer Journalisten und Dissidenten ist deutlich schlimmer. Sie haben keinen ausländischen Pass, um das Land zu verlassen», erklärt der Journalist Faruch Abdullah*. Er lebt und arbeitet bis heute in Kabul und ist für internationale Medien tätig. Seit der Rückkehr der Taliban wurden mehrere seiner engen Kollegen verhaftet und gefoltert. «Unsere ganze Whatsapp-Gruppe flog auf», erinnert sich Abdullah, der seitdem an Verfolgungswahn leidet. «Ich konnte monatelang nicht mehr arbeiten und schlief schlecht. Stets dachte ich, dass ich der Nächste sei, den sie abholen würden.»
* Name aus Sicherheitsgründen geändert