Banlieue-Filme: Mehr als die fiebrigen Cités der verlorenen Kinder
Zornige junge Männer, die unter Strom stehen? Davon hat sich der «film de banlieue» in den bald dreissig Jahren seit «La haine» längst emanzipiert.

Wenn irgendwo von «Banlieue» die Rede ist, dann meist als Synonym von «Problemvorstadt». Dabei lassen sich mit Pierre Merlins Studie «Les banlieues des villes françaises» nicht weniger als sieben Typen von Banlieues unterscheiden, darunter die sogenannten Cités. Um diese vorstädtischen Hochhaussiedlungen, die oft als Brennpunkte sozialer Probleme gelten, geht es meist, wenn von «Banlieues» gesprochen wird.
Auch die Genrebezeichnung «film de banlieue», die sich in den neunziger Jahren herauskristallisiert hat, meint eigentlich einen «film de cité». Geprägt hat den Begriff die französische Fachzeitschrift «Positif» in dem Jahr, als der Film in den Kinos lief, der mit seinem Fokus auf junge, marginalisierte Vertreter aus den multiethnischen Gemeinschaften der Cités emblematisch den Grundtyp des Genres verkörpert: «La haine» (1995) von Mathieu Kassovitz. In hartem Schwarzweiss treibt der Film die Reibung zwischen drei Citébewohnern und der Aussenwelt in die finale Explosion. Beginnend mit Archivbildern von Unruhen und endend mit Schüssen aus Polizeipistolen, inszeniert Kassovitz zum Ticken einer Zeitbombe einen Countdown, der seinerzeit als elektrisierend empfunden wurde.
Starke Schwestern
Der Zusammenhang von Polizeigewalt und oft dadurch ausgelösten Aufständen bildet seither das thematische Ausgangsmaterial fast aller Werke, die dem Grundtyp des Genres zugehören. Durchdrungen von einer elementaren Rage, stellt der «film de banlieue» meist demonstrativ die Lebenswelt der Cité in den Fokus, in einer Mischung aus Manifest (des Hasses gegen «die Gesellschaft») und Dokument (eines für ein bürgerliches Publikum zugleich faszinierenden und abstossenden Milieus). Von «Ma 6-T va crack-er» (1997) bis «Athena» (2022) setzen viele dieser Filme auf eine Hyperästhetisierung der Gewalt. Wobei es immer wieder auch solche gibt, die den soziopolitischen Kontext von Unruhen zu vermitteln suchen, wie etwa Ladj Ly mit seinen Filmen «Les misérables» (2019) oder jetzt «Bâtiment 5» (vgl. «Aufwertung um jeden Preis» im Anschluss an diesen Text).
Doch in den bald dreissig Jahren seit «La haine» hat sich der «film de banlieue» auch auffallend verfeinert und verästelt. Die zweite Generation des Genres nahm das Universum der Cité mit seiner spielerisch verkehrten Sprache und seinen unorthodoxen moralischen Codes als gegeben hin. War der Banlieuefilm bis dahin fast durchgehend männlich geprägt, rückten ab der Jahrtausendwende vermehrt auch weibliche Figuren ins Zentrum. Protagonist:innen waren nun nicht mehr ausschliesslich junge Männer im Kampf untereinander und – vor allem – gegen brutale Bullen.
Bereits in «Petits frères» (1999) stellt Jacques Doillon dem Quartett der titelgebenden kleinen Brüder eine willensstarke kleine Schwester gegenüber. Um ihre entführte Kampfhündin wiederzufinden, bricht diese etliche Verhaltenscodes: Sie stellt Nachforschungen in fremden Cités an, erwirbt eine Feuerwaffe, raubt gar zwei Erwachsene aus. Oder dann «Bande de filles» (2014) von Céline Sciamma: Geschmeidig, leuchtend und sinnlich fasst dieses Juwel von einem Banlieuefilm die Verwandlung eines gefügigen Schwarzen Teenies in eine selbstbestimmte Frau in lebenspralle Szenen von hypnotischer Schönheit.
Ein gar schlichtes Fazit
Um einiges moralischer verläuft die weibliche Ermächtigung in «Divines» (2016) von Houda Benyamina. Darin rebelliert eine dickköpfige Halbwüchsige gegen die ihr zugewiesene Laufbahn als Empfangsdame, indem sie bei einer charismatischen Bandenführerin anheuert. Mit einem Eifer und einer Disziplin, die sie in der Schule hat missen lassen, lernt sie Scooter fahren, Schläge einstecken, Gangsterbosse verführen. Das Unternehmen endet, wie zu erwarten, böse – wohingegen ihr Schwarm, der als Amateurtänzer bei einem Choreografen ähnlich hart in die Lehre geht wie sie bei der Bandenchefin, am Schluss die Hauptrolle in einer professionellen Produktion erringt. Verbrechen zahlt sich nicht aus, ehrliche Arbeit schon, so das gar schlichte Fazit.
In den letzten Jahren hat sich das Genre nochmals weiterentwickelt und stösst nun beherzt in Richtung Horror, Fantasy und Science-Fiction vor. Für diese dritte Generation ist die Cité endlich so vertraut, so «normal» geworden, dass sie den Einbruch des Paranormalen, ja Ausserirdischen gestattet. So erzählt «La gravité» (2023) von Cédric Ido vom Überlebenskampf dreier junger Männer in einer Hochhaussiedlung, die vor dem Hintergrund einer unheilvollen Planetenkonstellation durch jugendliche Dealersamurais beherrscht wird. Und in «Grand Paris» (2023) von Martin Jauvat stossen zwei Citébewohner bei einer dubiosen Kurierfahrt auf ein mysteriöses Artefakt unbekannter Herkunft: Stammt es aus Ägypten, Atlantis oder aus dem Weltall? Ihre Odyssee von Banlieue zu Banlieue führt sie unter anderem zu Fastfooddealern, Verschwörungstheoretikern – und zu den Erbauern fliegender Untertassen.
Paranoia und Hautkrankheiten
Übertroffen werden diese beiden Filme noch durch «La tour» (2022) von Guillaume Nicloux. In dieser düsteren Dystopie sperrt todbringende Finsternis 150 Banlieuebewohner:innen in ihrem Wohnturm ein. Mangels Verbindung zur (ausgelöschten?) Aussenwelt müssen sie autark überleben. Nach zwei Jahren florieren Paranoia und Hautkrankheiten, Aberglaube und Kannibalismus. Elliptisch und herb, flackernd beleuchtet wie ein Albtraum von Caravaggio in einem Kerker von Piranesi, bildet «La tour» eine soziale Extremfallstudie von gnadenloser Grausamkeit.
Überraschender war, wie Olivier Babinet in «Swagger» (2016) das Dokumentarische mit Elementen von Musikfilm und Science-Fiction kreuzte. Elf Kinder und Jugendliche antworten in ihrem leeren Schulgebäude auf Fragen zu ihren Träumen und Ängsten, zu Kriminalität, Erziehung und Liebe, zu ihrem Verhältnis zur Religion oder zu «Stammfranzosen» («français-français»). Das klingt eher betulich, doch überrascht und überwältigt «Swagger» mit Starauftritten im Hollywoodstil und Revuenummern in Markthallen. Vor allem frappieren die elf mit ihrer je ausgeprägten Persönlichkeit, ihren ureigenen Schrullen, Ideen und Leidenschaften.
Der eine paradiert mit Pelzmantel und Fliege durch den Betondschungel, die andere bekommt vor lauter Schüchternheit nicht einmal den eigenen Namen heraus, eine Dritte fürchtet, Barbie und Mickey Mouse könnten kommen, um sie und andere Kinder umzubringen. Das enigmatische Lächeln des Jugendlichen Abou Fofana, sein schelmisches Mienenspiel, seine raue Stimme, wenn er, befangen und bedacht, über Kolonialismus und Sklaverei sinniert, vergisst man nicht so schnell.

«Bâtiment 5»: Aufwertung um jeden Preis
Schön tendenziös, diese Einstellung: «Police Nation», so steht es unübersehbar über dem Eingang. Frankreich ein Polizeistaat und sogar als solcher angeschrieben? Ach so, beim Blick von aussen durchs Tor hat die Kamera einfach nicht das ganze Wort erwischt: «Police Nationale» steht da eigentlich. Es ist ein Bildwitz, der schon einiges über den neuen Film von Ladj Ly erzählt: «Bâtiment 5» ist bitterböse und überdeutlich.
In «Les misérables», dem gefeierten ersten Spielfilm des 46-jährigen Franzosen, trug eine Drohnenkamera noch entscheidend zur Eskalation in einer Banlieue bei. Diesmal fliegt die Kamera gleich zu Beginn ein paar Wohnblocks an und nimmt langsam das titelgebende Gebäude in den Blick, um das sich dann das ganze Drama kristallisiert. Und ähnlich, wie das die epochale Serie «The Wire» einst vorgemacht hat, erweitert Ladj Ly den gesellschaftlichen Rahmen gegenüber seinem letzten Film um eine zusätzliche Ebene: Nach der Polizei in «Les misérables» kommt diesmal auch die Politik ins Spiel.
Bei der feierlichen Sprengung eines altersschwachen Wohnblocks kollabiert leider auch das altersschwache Herz des Bürgermeisters. Von seinen potenziellen Nachfolgern macht dann nicht etwa der Schwarze Patron (Steve Tientcheu) aus der Banlieue das Rennen, sondern sein weisser Vize, ein braver Kinderarzt (Alexis Manenti). Dieser jedoch erweist sich bald als zynischer Karrierist auf dem Pfad der gnadenlosen Verdrängung: Vor den Medien posiert er barmherzig mit einer (christlichen) Familie aus Syrien; derweil verhängt er im Quartier knallhart Ausgangssperren für die Jugend und treibt ohne Rücksicht auf menschliche Verluste seine Aufwertungspolitik voran – bis ihm in der Person der jungen Haby (Anta Diaw) politische Konkurrenz von der Strasse droht.
Klingt reichlich schablonenhaft? Ist es leider auch. Wenn zu Beginn ein Sarg durchs Treppenhaus nach unten getragen werden muss, weil der Lift seit immer kaputt ist, oder wenn ein ganzer Wohnblock zwangsgeräumt wird, sind das grosse, intensive Szenen. Doch während Ladj Ly beim Drama gern übersteuert, bleiben die Konflikte im Film schematisch. Wie bei Haby und ihrem Freund: Sie glaubt an den Sinn politischer Arbeit, er höchstens an Brandsätze.
Und dass der Bürgermeister, dieser feige Bürokrat, jedes Mal persönlich vor Ort ist, wenn die Polizei seine Anordnungen durchsetzt? Das ist einfach schludrige Figurenzeichnung.
«Bâtiment 5». Regie: Ladj Ly. Frankreich 2023. Als Stream bei Filmingo, cinu.ch und Apple TV.