«Portrait de la jeune fille en feu»: Das entflammte Herz

Nr. 43 –

Und die Leinwand fängt Feuer: Der neue Spielfilm von Céline Sciamma ist ein Melodrama über eine zu kurze Liebe und ein Manifest für eine weibliche Kunst.

Spröde Sinnlichkeit in satiniertem Schimmer: Die Malerin Marianne (Noémie Merlant) und die adelige Heloïse (Adèle Haenel). Still: Lilies Films

Müssen wir uns Orpheus als einen glücklichen Menschen vorstellen? Wenn er sich zu seiner geliebten Eurydike umdreht und diese dadurch für immer ans Totenreich verliert, tut er das ja vielleicht gar nicht gedankenlos, sondern im vollen Bewusstsein.

So sieht das die junge Malerin im Film «Portrait de la jeune fille en feu», als sie den Mythos in einer Szene bei Kerzenschein gegen den Strich deutet: Indem er sich umdrehe, entscheide sich Orpheus doch gegen Eurydike und für seine eigene Erinnerung an sie, die durch nichts zu trüben sei.

Es ist das Kalkül des Dichters: Erst wenn er die Liebe für immer verliert, wird sie unsterblich. Erst wenn ihm Eurydike entrissen wird, kann er von ihr singen, ohne dass die Frau seiner Kunst in die Quere kommt.

Gelebte oder bloss erinnerte Liebe? Das Liebespaar in Céline Sciammas «Portrait de la jeune fille en feu» kann sich das nicht aussuchen wie Orpheus, die beiden werden einander unweigerlich verlieren. Weil wir hier im ausgehenden 18. Jahrhundert sind und die Liebenden zwei Frauen sind, noch dazu von unterschiedlichem Stand. Ihre Liebe ist verboten, also dazu verdammt, gleich wieder der Vergangenheit anheimzufallen.

Werbung für die Braut

Wenn die Literatur oder das Kino eine grosse Liebe behaupten will, werden in der Regel alle denkbaren Konflikte beschworen, damit die Empfindungen umso stärker dagegen aufbegehren können. Da wird jeweils ein ganzes Arsenal von gesellschaftlichen Hindernissen aufgebaut, gegen die diese Liebe dann ihre Unsterblichkeit dramatisch beweisen kann. Und das ist schon mal ziemlich radikal an diesem Liebesfilm im historischen Gewand: Céline Sciamma, bekannt geworden als Regisseurin von «Tomboy» und als Drehbuchautorin von «Ma Vie de Courgette», denkt diese ganzen Hemmnisse zwar mit, spart sie dabei aber konsequent aus. Wir wissen ja, was die Gesellschaft von dieser Liebe hält, der Film muss das nicht nochmals ausbuchstabieren.

Zwei Frauen also, fast allein auf einer Insel der Bretagne. Die eine, Marianne (Noémie Merlant), ist als Malerin auf den Landsitz bestellt worden, um von der anderen, der adligen Heloïse (grandios: Adèle Haenel), ein Porträt anzufertigen. Heloïse wurde aus dem Kloster geholt, wo sie Gleichheit schätzen gelernt hat, aber die irdische Liebe kennt sie nur vom Hörensagen. Ihr Bildnis ist nun als Brautwerbung gedacht, denn der Adlige in Mailand, den sie ungesehen heiraten soll, würde Heloïse ja nicht ungesehen heiraten wollen. (Hier ist es, das Patriarchat in diesem Film: ohne Namen, unsichtbar, aber unausweichlich.)

Zur Ehe verurteilt

Bloss, das Sujet sträubt sich gegen ein Bildnis. Vor Marianne hat schon ein anderer Maler seinen Dienst quittiert, sein Porträt von Heloïse hat er unvollendet zurückgelassen, ein gespenstisches Zeugnis des Scheiterns: Da sitzt eine Frau in smaragdgrünem Kleid, alles sorgfältig wiedergegeben – aber dort, wo ihr Kopf sein sollte, breitet sich auf der Leinwand nur ein unförmiger Fleck aus brauner Farbe aus. Eigentlich wäre sowieso die Schwester zur Heirat bestimmt gewesen, aber diese hat sich ihrem Schicksal angeblich entzogen, indem sie sich von einer Klippe stürzte. Marianne soll nun also als Gesellschafterin dafür sorgen, dass Heloïse es ihrer Schwester nicht gleichtut. Und sie soll ihr Sujet dabei so genau studieren, dass sie Heloïse im Geheimen malen kann, ohne dass diese etwas davon merkt.

Das Porträt, das Marianne aus diesen gestohlenen Blicken erschafft, verletzt dann aber beide in ihrem Stolz. Heloïse, weil sie sich nicht nur hintergangen, sondern in dem Bildnis vor allem schlecht getroffen sieht: «C’est moi? So sehen Sie mich?» Was Marianne wiederum in ihrem Stolz als Künstlerin kränkt. Aber da sind die beiden einander schon so vertraut geworden, dass sich auch die Malerin wünscht, ihr Werk wäre nie vollendet. Ein bisschen wie Scheherazade, die erzählt, um dem Tod zu entgehen: Sobald Marianne nämlich ihren Auftrag erfüllt hätte, würde sie Heloïse mit ihrem Bildnis zur Ehe verurteilen – und damit auch das Ende ihrer Zeit mit ihr besiegeln.

Die wirklich grossen Filme erkennt man mitunter daran, dass selbst die abgegriffensten Metaphern darin neu aufgeladen werden. In «Portrait de la jeune fille en feu» geschieht das etwa dort, wo Marianne bei Kerzenschein nochmals das unfertige Gemälde ihres Vorgängers betrachtet. Sachte leuchtet sie die Details im Bildnis aus, doch dann, eine kurze Unachtsamkeit, sie kommt der Leinwand zu nah, die Flamme springt auf die Farbe über. Marianne schaut wie gebannt: Das Porträt fängt Feuer, just an der Brust der gemalten Heloïse. Entflammte Herzen!

Ihr eigenes Werk verunstaltet Marianne dann mutwillig aus einem Impuls, damit sie noch länger bleiben und nochmals neu anfangen kann – diesmal gemeinsam mit Heloïse, die jetzt doch bereit ist, Modell zu stehen. Aber nicht aus plötzlicher Fügsamkeit, sondern weil sie den Blick der Künstlerin herausfordern will. «Porträt de la jeune fille en feu» ist deshalb immer auch ein Film über die Macht der Blicke, von allem Anfang an, ein Reigen von erhaschten, getauschten, erwiderten Blicken – und über das Begehren, das sich in ihnen aufstaut.

Künstlerische Komplizin

Wer schaut, beherrscht auch die Szene? So einfach ist das ja nicht: Die Künstlerin Marianne mustert beim Malen ihr Sujet, aber sie wird dabei ihrerseits zur Gemusterten, weil Heloïse ihren Blick so forsch entgegnet. So zeigt Sciamma in ihrem Film wie beiläufig, weshalb es so unsinnig ist, «weiblichen» und «männlichen» Blick gegeneinander auszuspielen. Es geht nicht darum, den einen zugunsten des anderen zu eliminieren. Ermächtigung fängt dort an, wo der Blick zurückgeworfen wird: So siehst du mich?!

Heloïse wird so nicht zu einer Muse, sondern zur künstlerischen Komplizin, die den Blick der Malerin dirigiert, erweitert, befreit. Diese bemerkt einmal, dass ihr die grossen, heroischen Themen der Kunst verwehrt blieben, weil sie als Frau keine Männerakte malen dürfe. Und Heloïse macht ihr dann klar, wieso sie sich damit nicht abfinden muss. Es ist eine Szene, in der auch die Frauensolidarität gefeiert wird, die der Film beschwört, quer durch die sozialen Klassen. Da begleiten die beiden Liebenden die junge Haushälterin (Luàna Bajrami), die ungewollt schwanger ist, zu einer Landfrau, die das Kind wegmachen soll. Bei der Abtreibung wendet Marianne bestürzt ihren Blick ab, doch Heloïse zwingt sie hinzuschauen – und stellt die Szene später mit der Haushälterin nach, damit Marianne sie malen kann. Wer sagt denn, was grosse Themen für die Kunst sind und was nicht?

Denken statt träumen

Man merkt schon: «Portrait de la jeune fille en feu» ist ein Melodrama über eine zu kurze Liebe, aber mindestens so sehr ein Manifest für eine weibliche Kunst. Schwelgerisches Kino ist das nicht, dieser Film ist ziemlich streng in seiner Inszenierung des Begehrens, fast schon spröde in seiner Sinnlichkeit (den Sex dürfen wir uns denken, etwas freizügig wird es einzig, als die beiden sich eine pflanzliche Droge in die Achselhöhlen streichen). Kamerafrau Claire Mathon findet magistrale Bilder in der rauen Landschaft draussen, im Küstengras, zwischen den felsigen Klippen. Drinnen im kahlen Schloss dagegen taucht sie die Frauen in einen intimen, satinierten Schimmer, sodass deren Gesichter oft wirklich aussehen wie gemalt.

Auch gibt es in diesem Film praktisch keine Musik, aber wenn doch einmal welche erklingt, dann schleicht sie sich an wie ein nächtlicher Geistergesang aus dem All, der zu einem Kanon unter Landfrauen anschwillt. Oder dann in der atemberaubenden, fast drei Minuten langen Schlusseinstellung zu Vivaldis Sommergewitter: Heloïse im Profil, derart ergriffen von der Musik und ihren Erinnerungen, dass es sie nur so schüttelt. Und nicht nur sie.

«Hast du von mir geträumt?», fragt Marianne einmal, als sie einander endlich ganz nah sind, aber Heloïse, ganz prosaisch: «Nein. Ich habe an dich gedacht.» Keine Träumereien hier, die Lust fängt in den Gedanken an.

«Portrait de la jeune fille en feu». Regie und Drehbuch: Céline Sciamma. Jetzt im Kino.