EU-Kommission vor der Wahl: Licht und Schatten

Nr. 22 –

Nach fünf Jahren im fast permanenten Ausnahmezustand legt Ursula von der Leyens Kommission eine gemischte Bilanz vor.

«Mutig und ambitioniert»: Diesen Anspruch formulierte Präsidentin Ursula von der Leyen an die 13. EU-Kommission, als ihr 27-köpfiges Team am 1. Dezember 2019 in Brüssel sein Amt antrat. Nun findet zwischen dem 6. und dem 9. Juni die EU-Wahl statt, die Kommission tritt ab und zieht Bilanz: «Wir haben Wort gehalten», heisst es auf ihrer Website, «und gleichzeitig einige der grössten Krisen gemeistert, denen sich Europa jemals stellen musste.» Letzteres ist für die Europäische Union zweifellos wahr. Wie aber steht es um das Vermächtnis der Kommission von der Leyen?

Selten zuvor dürfte den Menschen in Europa so klar geworden sein, dass die EU keine abstrakte Politikebene ist, sondern in essenziellen Bereichen Entscheidungen fällt, die den Alltag der Bevölkerung betreffen. Das zeigte sich während der Covid-Pandemie bei der zentralen Koordinierung von Impfstoffen und Impfprogrammen sowie beim Sure-Programm zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen in den Mitgliedstaaten. Es wurde auch deutlich bei der pandemiebedingten Öffnung und Schliessung der Grenzen sowie bei den Sanktionen gegen Russland ab 2022 und beim kriegsbedingt schnellen Abschied vom russischen Gas.

Das «Pfizergate»

Präsidentin von der Leyen, bei deren Ernennung vor fünf Jahren sich das EU-Parlament vom Europäischen Rat nicht zu Unrecht übergangen fühlte, verkörpert diesen Prozess. Europa müsse «die Sprache der Macht lernen», betonte sie schon 2019. Tatsächlich ist die EU unter ihrer Ägide zu einer weltpolitischen Akteurin geworden, die in entscheidenden Fragen wie Klima, Pandemie oder dem Krieg gegen die Ukraine zunehmend geeint auftritt.

Zur Kehrseite der Bilanz zählt, dass von der Leyen, die 65-jährige ehemalige deutsche Verteidigungsministerin, selbst wegen ihrer Rolle im «Pfizergate»-Fall schwer unter Druck steht: Weil sie 2021 den 35 Milliarden Euro schweren Deal mit dem Pharmakonzern über die Lieferung von 1,8 Milliarden Impfdosen mit dem Pfizer-Boss per SMS ausgehandelt haben soll, läuft vor einem Gericht im belgischen Liège ein Verfahren gegen sie. Die Anklage lautet auf «Anmassung von Ämtern und Titeln», «Vernichtung öffentlicher Dokumente» und «unrechtmässige Bereicherung und Korruption». Bislang erklärt die EU-Kommission die besagten SMS für unauffindbar. Die EU-Bürger:innenbeauftragte Emily O’Reilly warf ihr deswegen mangelnde Transparenz vor.

Auch in anderen Bereichen offenbart ein nuancierter Blick auf die abtretende EU-Kommission eine gemischte Bilanz aus Licht und Schatten. Die Sanktionen gegen Russland sind nicht nur Teil der, so die Kommission, «entschlossenen Reaktion auf die Invasion in der Ukraine», sondern stellten mit Inflation und Preisanstiegen auch die Volkswirtschaften der Mitgliedländer vor immense Herausforderungen. Gleiches gilt für die Folgen des Abschieds von russischen Energieträgern, der gerade in der EU-kritischen Öffentlichkeit vielfach als übereilt kritisiert wird.

Aufkommende Klimamüdigkeit

Die Kommission legte dagegen ihren «REPowerEU»-Plan auf: mehr Energiesicherheit, weniger Abhängigkeit von Russland – wobei das russische Gas freilich durch das ebenfalls klimaschädliche LNG ersetzt und mit Katar ein Herkunftsland mit äusserst zweifelhafter Reputation aufgewertet wird. Das EU-Energietrilemma müsse «neu ausbalanciert werden», heisst es in einem Dokument der Gas Infrastructure Europe (GIE), des Verbands der europäischen Gasinfrastrukturbetreiber. Für die europäische Realpolitik bedeutet das: Die bisherige Prioritätengewichtung «Klima – Bezahlbarkeit – Sicherheit» wird umgekehrt – womit das Klima nicht mehr an erster Stelle steht.

Mit einer ähnlichen Entwicklung sieht sich auch das absolute Prestige- und Vorzeigeprojekt der Kommission von der Leyen auf der Zielgeraden konfrontiert: dem «European Green Deal». Als «eine Wachstumsstrategie, die das Klima schützt» beschreibt es die Kommission. Doch gegen Ende ihrer Amtszeit werden in mehr und mehr Mitgliedländern beide Komponenten nicht mehr zwangsläufig zusammengedacht, und für einen zunehmenden Teil der Bevölkerung geniesst Wachstum offenbar Vorrang.

«Wir haben das Klimagesetz verabschiedet, mit dem verpflichtenden Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu reduzieren», zieht Tim McPhie, der klima- und energiepolitische Sprecher der Kommission, dennoch eine positive Bilanz. «Wir haben für die einzelnen Sektoren Ziele verabschiedet. Die Emissionen sind in den letzten vier Jahren gesunken, während unsere Wirtschaft wuchs. Nun geht es darum, die beschlossenen Massnahmen zu implementieren.»

Bezüglich der aufkommenden Klimamüdigkeit in der Bevölkerung, nicht zuletzt aber auch innerhalb der stärksten Fraktion des EU-Parlaments, der konservativen EVP, zeigt sich McPhie entschlossen: «Es ist essenziell, daran zu erinnern, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten für ein Europa, das keine Klimamassnahmen ergreift, viel höher sein werden als die Investitionen in eine sauberere Zukunft.»

Geopolitische Interessen

Bei der Migrationspolitik erzielte die Kommission von der Leyen kürzlich die Einigung auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS). Es steht für das Primat von Abschottung. Das wird zusätzlich unterstrichen durch die kürzlich abgeschlossenen oder anvisierten Deals mit Staaten wie Mauretanien, Tunesien oder dem Libanon, die das Projekt eines Antimigrationsrings um Europa weiterführen. Das grosse Gefälle bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, das zwischen den Standards der EU und dem, was sich in ihrem Namen an den Grenzen abspielt, herrscht, ist freilich nicht auf die Amtszeit dieser Kommission beschränkt.

Eine Verbesserung dieser Standards winkt mittelfristig den neuen Beitrittskandidaten Ukraine, Moldau und Georgien. Auch Bosnien-Herzegowina hat inzwischen diesen Status – ein Indiz für die neue Dynamik beim Thema «Erweiterung auch auf dem Westbalkan». Die Kommission von der Leyen ist tatsächlich eine geopolitische geworden – wenn auch anders, als die Präsidentin das zu ihrem Antritt angekündigt hatte. «Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine war ein Weckruf dafür, dass Erweiterung im eigenen strategischen Interesse der EU liegt», bestätigt eine Sprecherin der Kommission. Zwanzig Jahre nach der grossen Erweiterungsrunde böte eine neue wichtige Vorteile auf geo- und umweltpolitischer, sozialer und demokratischer Ebene.

Ein wenig unter den Tisch fiel angesichts des fast permanenten Ausnahmezustands der vergangenen fünf Jahre das Projekt, die EU-interne Demokratie zu verstärken. Vor allem die Aufwertung des Parlaments stand 2019 zur Debatte. «Das EU-Parlament hat – entgegen den Klischees – durchaus Macht und Einfluss», nuanciert Rasmus Andresen, deutsches Mitglied der Grünen-Fraktion. «Allerdings hat Frau von der Leyen ihre Ankündigung, ihm ein indirektes Initiativrecht zu geben, nie wahr gemacht. Deshalb sollten wir, zumindest mit den proeuropäischen Parteien, nach der Wahl mit der nächsten Kommission sehr hart verhandeln, damit das Parlament in der Machtfrage relevanter wird.»

Ob am Verhandlungstisch erneut Ursula von der Leyen sitzen wird, ist derzeit noch fraglich. Zwar hat sie ihre Ambition für eine zweite Amtszeit deutlich ausgesprochen und geniesst etwa wegen ihres Auftretens in Klima- oder Sicherheitsthemen und des Einsatzes für mehr europäische Integration grossen Rückhalt. Allerdings bleibt sie vage, wenn es um eine künftige Zusammenarbeit mit der EKR-Fraktion geht, die einen rechten Querschnitt von konservativen bis extremistischen Parteien bietet. Bei den Linken erntete die Präsidentin daher zuletzt starke Kritik.­