«Sterben»: Die Faust im Streuselkuchen

Nr. 22 –

Am Ende jedes Strebens steht der Tod. Warum also nicht gleich sterben oder jede Nacht saufen? Matthias Glasners Familiendrama, ausgezeichnet mit dem Deutschen Filmpreis, stellt die grossen Fragen.

Filmstill aus «Sterben»: Corinna Harfouch und Lars Eidinger als Mutter Lissy und Sohn Tom sitzen am Tisch beim Essen
Grotesk realistisch und zum Weinen gut gespielt: Corinna Harfouch und Lars Eidinger als Mutter Lissy und Sohn Tom im Film «Sterben». Still: Filmcoopi

In der wohl bemerkenswertesten Szene sitzen Corinna Harfouch und Lars Eidinger als Mutter Lissy und Sohn Tom an einem Tisch vor Kaffee und Kuchen. Tom hat gerade die Beerdigung seines Vaters (Hans-Uwe Bauer) verpasst, weil seinem Carsharing-E-Auto der Strom ausgegangen war und es auf dem Land keine passende Ladestation gab. Die Mutter trägt es mit Fassung. Keine Umarmung, keine Tränen, keine Vorwürfe. Dafür eröffnet sie ihrem Sohn freiheraus, dass auch sie bald sterben werde. Sie habe «Vaginalkrebs», und vom «Diabetes» sei ihr «linker Zeh praktisch verfault»; am schlimmsten aber sei, dass «die Nieren versagen».

Diese Begegnung in Matthias Glasners Film «Sterben» ist geradezu grotesk realistisch und zum Weinen gut gespielt. Niemand wird verurteilt, keiner gewinnt. Mutter und Sohn teilen gleichermassen aus: Tom ärgert sich, dass seine Mutter seinem Vater noch im Tod die Show stehlen will; Lissy gesteht ihrem Sohn, ihn als Baby einmal fallen gelassen zu haben. Mit Absicht? Sie erinnert sich nicht. Beide sehnen sich nach einem Liebesbeweis, können aber nicht über ihren Schatten springen. Dafür landet Toms Faust irgendwann im Streuselkuchen.

Dahin, wo es wehtut

Es ist der einzige Moment im monumentalen dreistündigen Familiendrama, in dem Hauptfigur Tom die Fassung verliert. Ansonsten folgt er dem Credo seiner Wollmütze: «Don’t panic». Dabei gäbe es in seinem Leben Anlass genug, die Nerven zu verlieren. Der Nachwuchsdirigent muss sich nämlich nicht nur mit dem Ableben seiner Eltern auseinandersetzen, sondern auch mit seinem eigenen komplizierten Beziehungsleben. Er ist der «Viertel-» oder «Achtelvater» – so genau weiss er das nicht – des Kindes seiner Exfreundin, für die er immer noch da ist, wenn sie ihn braucht. Er hat eine Affäre mit der Orchesterassistentin und dient ausserdem als wandelnder Frustableiter seines oberperfektionistischen, suizidgefährdeten Freundes Bernard (Robert Gwisdek), dessen Sinfonie «Sterben» Tom zur Aufführung bringen soll. Und dann ist da auch noch Toms alkoholabhängige Schwester Ellen (Lilith Stangenberg).

Glasners letzter Kinofilm, «Gnade», liegt zwölf Jahre zurück. Darin begeht eine Mutter ungewollt Fahrerflucht und muss dann mit ihrer Schuld zurechtkommen. Sein umstrittenster Film, «Der freie Wille» (2006), handelt von einem Serienvergewaltiger, der sich verliebt, aber seine Triebe nicht steuern kann. Zeigen, wie es wirklich ist, dahin gehen, wo es wehtut und wir uns selbst nicht wiedererkennen: Das ist Glasners Spezialität.

Die Themen von «Sterben» – das Leben, das Altern, die Liebe, die Familie – sind universell, die Handlung aber ist weitgehend autobiografisch: die Demenz des Vaters, die kurz nacheinander verstorbenen Eltern, sogar das Gespräch mit der Mutter. In einem Interview mit «Zeit Online» erinnert sich Glasner (von dem auch das Drehbuch stammt), dass er als Kind Dirigent werden wollte und seine Mutter es gern gesehen hätte, wenn er Musik studiert hätte.

In der Kunst, heisst es einmal im Film, gehe es darum, «den schmalen Grat» zwischen den eigenen Ansprüchen und den Erwartungen des Publikums zu treffen, ohne auf die eine oder andere Seite abzurutschen – weder in den «Kitsch für die Massen» noch in den «Kitsch für die Schlauberger». Glasner gelingt diese Gratwanderung. Trotzdem schreckt er nicht davor zurück, auch einmal danebenzutreten, ein bisschen Grand Guignol, Splatter, Kreissäge zu riskieren, was in Ellens Episode – sie ist Zahnarzthelferin und schläft, chronisch übernächtigt und dauerverkatert, gelegentlich über ihren Patient:innen ein – besonders blutig endet.

Doch noch ein ganzer Vater

Es gibt aber auch noch einen anderen schmalen Grat, von dem im Film keine Rede ist: die Gefahr, beim Versuch, zu zeigen, wie es wirklich ist, die bestehenden Verhältnisse zu zementieren, statt die Strukturen freizulegen, die sie hervorgebracht haben. Wenn der Realismus in Konservatismus oder Determinismus kippt. Auf diesem Grat schwankt der Film gefährlich, wenn Tom am Ende doch noch «ganz» Vater wird und mit seiner klassischen Kleinfamilie seiner Schwester auf der Beerdigung der Mutter grosszügig deren Sparkonto zusteckt.

Der bröckelnde Felsen hat einen sicheren Platz gefunden, an dem er der Familienbrandung wieder souverän standhalten kann. Ernsthaft jetzt? Please, panic!

«Sterben». Regie und Drehbuch: Matthias Glasner. Deutschland 2024. Jetzt im Kino.