Wichtig zu wissen: Millionen von Hektaren Traurigkeit

Nr. 22 –

Ruedi Widmer über leere Zukunftsträume

Deutschland war vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg ein Land mit einer sehr jungen und grossen Bevölkerung, ebenso einer der technologisch und wissenschaftlich führenden Staaten Europas. Die Nazis konnten darauf bauen. Sie versprachen der der Partei genehmen Volksgruppe eine gloriose Zukunft

Ähnlich die Sowjetunion, selbst unter Stalin. Neben Mord und Totschlag gab es ein Bild einer hellen Zukunft: Fabriken, Frauenförderung, Forschung und fliessend Wasser in allen Plattenbauten (angestrebt).

Nicht so Putins Russland. Dieses strahlt die Morbidität eines Ostblockstaats im Jahr 1988 aus – oder eines Landstreifens in Thüringen mit AfD-Bürgermeistern. Eine Welt voller alter Menschen, Gebrechen, Alkohol, keinen Kühlschränken, keinem Gesundheitswesen und keinen Zukunftsplänen. Die jungen Menschen sind desillusioniert, sie wollen nicht in den Krieg ziehen wie damals die begeisterten Nazis. Die wenigen Putin-Fans unter ihnen glauben so wenig an ein blühendes Russland wie die Sylter Grölelite an ein Deutschland jenseits ihres Mercedes-Verbrenners.

Russland – Millionen Hektaren Traurigkeit und Angst. Mit bösen Kirchengreisen. Wo ist da der Gewinn, wo die Soft Power, nur schon der geile Lada-Turbo-SUV für den Krimgröler? Ja, Russland ist eben anders, nicht so oberflächlich wie Amerika, höre ich rufen. Ja, aber, höre ich mich selber rufen, die Menschen in China, die bekommen neben der Vollüberwachung wenigstens Gadgets von der Regierung, Hochgeschwindigkeitszüge, Handys, Universitäten, Mode, Rolltreppen, Kühlschränke.

Technologisch nutzt Russland immer noch die letzten Errungenschaften der Sowjetzeit, der Bestand an eigenen Wunderwaffen ist schwindend. Europa machen sie mit US-Computern kirre, das aber höchst effektiv.

Denn bei uns sind ganz viele Babyboomer von Putin begeistert; etwas, was ich wirklich nicht verstehen kann. Ein Viertel der Begeisterung nährt sich offensichtlich aus Langeweile, weil man die neoliberale Welt, in der man lebt und die man politisch selber herbeigestimmt hat, satt hat. Da sehnt man sich nach dem Fuchs, der in den Hühnerstall einbricht. Ein weiteres Viertel rührt von Putins Ablehnung von «Satan» her, also von demokratischen Rechten für Frauen und trans Personen.

Die restliche Hälfte der Begeisterung nährt sich aus der Ablehnung der USA. Die jüngere Politik der Schutzmacht Europas (die mir von den Weltmächten noch am nächsten steht) hat viel dazu beigetragen, dass Russland sich heute so gebärden kann – nicht wegen einer angeblichen Nato-Osterweiterung, sondern wegen des völkerrechtswidrigen US-Angriffskriegs auf den Irak, der die nicht ganz hoffnungslose Uno-Welt 2003 so gut wie zu Grabe trug. Das ungesühnte republikanische Ansinnen unter G. W. Bush, einem wohl absichtlich vergessenen Präsidenten, hatte aber auch viele Unterstützer:innen bei den Demokrat:innen. Da kann ich die USA-Skepsis verstehen.

Aber warum ist denn die Alternative für viele Rechte und auch Linke Russland, China oder das Kalifat und warum nicht Europa? Ein grosses Rätsel.

Die europäische Einigung hat uns Frieden und Prosperität gebracht. Europa wählt im Juni sein Parlament. Doch die EU-skeptischen Wohlständler:innen in Europa und vor allem der betriebsblinden Schweiz, denen immer noch nicht der Gong geschlagen hat, wohin die Welt rollt, drohen neben allem anderen auch noch Europa zu verlieren. Europas Faschist:innen glauben nämlich an Europa, und Meloni und Le Pen sind daran, die Richtung der EU in ihrem Sinne zu ändern und sie womöglich zu einer rechten, weissen Weltmacht zu formen. Die Strukturen in Brüssel sind da, frau kann sie auch für eine ganz andere Politik nutzen.

Die Strukturen wären da gewesen, wird man vielleicht eines Tages reuig sagen.

Ruedi Widmer ist Cartoonist und letzter Europäer in Winterthur.