Offensive in Kursk: Plötzlich auf russischem Territorium
Im dritten Kriegsjahr hat die Ukraine die Initiative zurückerlangt und nimmt Gebiete in Russland ein. Doch während sich in Kyjiw vorsichtiger Optimismus ausbreitet, bleiben Beobachter:innen skeptisch.
Es handelt sich um den bisher grössten Gegenangriff der Ukraine und die erste Bodeninvasion in Russland seit dem Zweiten Weltkrieg. Im russischen Grenzgebiet um die Stadt Kursk sollen die ukrainischen Streitkräfte laut Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj mittlerweile ein Gebiet von mehr als tausend Quadratkilometern und 74 Ortschaften kontrollieren – eine Nachricht, die sich bis vor kurzem wohl kaum jemand hat vorstellen können.
Der Angriff, der am 6. August begann, kam für viele überraschend. In der Bevölkerung habe sich zuletzt Kriegsmüdigkeit breitgemacht, sagt ein hochrangiger europäischer Diplomat in Kyjiw. «In den ersten Tagen des Angriffs dachten wir alle, dass es sich um eine waghalsige Aktion handelte angesichts der Situation im Donbas», so der Diplomat, der nicht namentlich genannt werden will. «Aber jetzt fiebern wir hier vor Ort alle mit.»
Russland soll es spüren
Ein Soldat, der sich Oleksandr Antonenko nennt und angibt, als Teil der Infanterie an der Operation beteiligt gewesen zu sein, sagt: «Am Anfang dachte ich, dass es sich um ein Training handelt.» Bereits in den ersten Tagen schienen die ukrainischen Soldaten aber weiter zu kommen als erwartet. Mittlerweile sind sie mindestens dreissig Kilometer ins Gebiet um Kursk vorgerückt, das an den ukrainischen Oblast Sumy grenzt.
«Wir wussten, dass die Russen nicht mit einem Angriff von uns rechnen würden», sagt Antonenko und schickt eine Reihe von Videos, in denen gefesselte Männer mit Augenbinden zu sehen sind. Das Material, das sich zum Zeitpunkt des Erscheinens des Textes nicht unabhängig überprüfen lässt, scheint russische Kriegsgefangene zu zeigen. «Sie sagen uns, dass niemand von ihnen kämpfen will und dass sie nicht genug Munition haben», sagt er. Ob er für die russischen Zivilist:innen Mitleid empfinde? «Wo meine Einheiten sind, gibt es fast keine Bewohner:innen; sie sind geflohen und haben sich versteckt.» Sie stünden wohl unter Schock: «Ehrlich: Sie sind mir egal.»
Die russische Führung erklärte, 121 000 Menschen evakuiert zu haben, und das nicht nur aus dem umkämpften Kursk, sondern auch aus dem benachbarten russischen Gebiet um die Stadt Belgorod. Aus beiden Regionen sind in den vergangenen Monaten unzählige Luftangriffe auf ukrainische Dörfer und Städte gestartet geworden. Was genau der Angriff bezwecken soll, wird von der ukrainischen Führung noch immer nicht kommuniziert. Nur so viel gab Präsident Wolodimir Selenski kürzlich preis: Russland habe den Krieg über die Ukraine gebracht und solle spüren, was es getan habe. Und obwohl sich die ukrainischen Soldaten mit den russischen Gegnern mittlerweile «schwierige und intensive Kämpfe» liefern, werde der Vormarsch im Oblast Kursk weitergehen.
Beobachter:innen gehen davon aus, dass die Ukraine darauf spekuliert, dass Russland Truppen von anderen hart umkämpften Frontabschnitten abzieht und für die Verteidigung von Kursk einsetzt. Davon sei derzeit aber noch wenig zu sehen, sagt der amerikanische Datenanalyst Andrew Perpetua. «Es bestand die Hoffnung, dass Russland Truppen aus Charkiw abziehen würde, um diese Angriffe zu stoppen. Aber stattdessen haben sie ihre Truppen dort verstärkt.» Seit mehr als zwei Jahren beobachtet Perpetua den Krieg aus der Ferne, sichtet und geolokalisiert die grossen Mengen an Bild- und Videomaterial von Soldaten und Zivilist:innen im Netz, verifiziert es und kartografiert die Entwicklungen an der Front.
Ist das noch Selbstverteidigung?
Besonders beunruhigend sei die Lage rund um das umkämpfte Kupjansk im Oblast Charkiw, wo Russland in den vergangenen Tagen erneut bedeutende Fortschritte gemacht habe, so der Analyst. «Es wirkt so, als ob sich niemand darum kümmert.» Auch im Donbas, wo die Ukraine zuletzt stark unter Druck geraten ist, rücken die russischen Truppen weiter in Richtung der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk vor, von der die Front mittlerweile nur noch fünfzehn Kilometer entfernt ist. Trotzdem machen sich in der Ukraine und vor allem in den sozialen Medien nun Optimismus und eine gewisse Genugtuung breit. Der Geschäftsführer des ukrainischen Postdienstleisters Ukrposhta kündigte im Scherz auf Facebook gar an, eine Filiale in der umkämpften russischen Kleinstadt Sudscha zu eröffnen.
Vonseiten der meisten westlichen Partnerländer hiess es bisher, dass man weiterhin hinter der Ukraine stehe. Wenn Putin über den Einmarsch der ukrainischen Truppen besorgt sei, könne er sich auch einfach aus der Ukraine zurückziehen, meinte John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA. Dass der Angriff keine Verletzung des internationalen Rechts, sondern eine legitime Verteidigungsstrategie der Ukraine sei, sagte auch der Sprecher des EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell an einer Pressekonferenz.
Das Recht auf Selbstverteidigung, das in der Uno-Charta verankert ist, schliesst Angriffe auf das Territorium des Angreiferstaates mit ein. Dass diese erst jetzt, im dritten Kriegsjahr, erfolgen, hat auch damit zu tun, dass die Ressourcen der Ukraine zu Beginn der russischen Aggression dafür nicht ausreichten. Und damit, dass die Waffenlieferungen aus dem Westen an Bedingungen der Partnerländer geknüpft waren. Erst seit wenigen Monaten erlauben diese teils den Einsatz der gelieferten Waffen gegen Ziele in Russland. Für das Regime in Moskau ist die Lage eine Blamage, auf die Putin bereits eine «angemessene Reaktion» angekündigt hat.
Beobachter:innen wie der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München beurteilen die Offensive zurückhaltend. Er stellt die Frage, warum die Brigaden nicht im Donbas eingesetzt würden, wo die Frage nach der Rotation von Soldaten, die lange im Einsatz seien, schon seit Monaten Thema sei. Sollte die ukrainische Offensive scheitern, würde das die ohnehin schon knappen Ressourcen weiter strapazieren. «Das ist eine Hochrisikooperation», sagt Masala. «Denn Russland fängt an, sich darauf vorzubereiten, dieses Territorium zurückzuerobern.» Und die Unterstützung der Ukraine durch ihre Partner im Westen werde in nächster Zeit nicht zunehmen, glaubt Masala.
Gute Verhandlungsmasse
Das liege vor allem daran, dass sich die beiden wichtigsten Partnerländer, die USA und Deutschland, im Wahlkampfmodus befänden. «Der Druck wird steigen, gegen Ende des Jahres möglicherweise im Rahmen von weiteren Friedensgipfeln zu Gesprächen mit Russland zu kommen», sagt Masala. Dann könnten die eroberten Gebiete in Kursk für die Ukraine eine gute Verhandlungsmasse darstellen. Doch dafür muss die Offensive erst noch gelingen.
Über eine Woche nach deren Beginn bleiben viele Fragen offen. Etwa jene nach der Anzahl der eingesetzten Soldaten oder den Verlusten. «Ich bin mir ziemlich sicher, dass die russischen Verluste deutlich höher sind als die ukrainischen», sagt Analyst Perpetua. Bilder und Videos, die seit Tagen im Netz auftauchen, zeigen, wie ukrainische Soldaten nun auf russischem Boden Schützengräben ausheben. Dieser Schritt zeuge davon, dass die Ukraine die eroberten Gebiete halten wolle, sagt Perpetua. «Sobald die Ukrainer eingerückt sind, haben sie Ingenieure geschickt, die mit dem Ausheben von Gräben und Bunkern begannen. Wenn es sich nur um einen kurzzeitigen Überfall handeln würde, hätte man nicht Bagger mitgeschickt.»