Van Gogh: Durch kosmische Landschaften fliegen

Nr. 24 –

Einem der bekanntesten Maler der Welt noch neue Facetten abgewinnen? Die Fondation Vincent van Gogh in Arles zeigt mit geschickten Sammelausstellungen, wie das geht.

das Gemälde «Starlight Night, Lake George» von Georgia O’Keeffe
Nachtstücke mit künstlicher Beleuchtung: Georgia O’Keeffes «Starlight Night, Lake George» von 1922 ist eines der vielen Werke, die in Beziehung zu Vincent van Goghs «Sternennacht» gestellt werden. Privatsammlung, © 2024 Pro LItteris, Zürich

Ein Ereignis: Vincent van Goghs «Sternennacht» von 1888 kehrt an ihren Entstehungsort zurück, erstmals überhaupt. Der Fondation Vincent van Gogh in Arles ist es gelungen, das Kleinod des Pariser Musée d’Orsay für zwölf Wochen als Leihgabe zu erhalten. Rund um das Gemälde komponiert Jean de Loisy eine beziehungs- und kenntnisreiche Ausstellung. Der Gastkurator greift Hauptkomponenten des Bildes heraus und setzt sie in Beziehung zu Werken von über siebzig Künstler:innen.

Dabei kann es sich um formal-ikonografische Verbindungen handeln (etwa über das Genre des Nachtstücks) oder vor allem auch um den technischen, wissenschaftlichen und geistigen Hintergrund, vor dem das Tableau entstanden ist. Kapitelüberschriften wie «Firmament», «Das Atelier des Astronomen», «Die Spiralen des Himmels» oder «Heilige Observatorien und Wege der Seele» deuten die Vielfalt der Ansätze an, von Himmelsforschung bis zu mehr oder minder nebulösen Formen kosmischer Spiritualität. Die über 150 Exponate bedienen sich diversester Techniken und wurden zwischen 1861 und 2024 geschaffen.

Die Arleser Strassenlaternen

Die erste Sektion, «Finsternis», versammelt so Werke, die das nächtliche Urdunkel visualisieren beziehungsweise – wie ein kompakter Nachtmahr aus Bronze des Bildhauers Antoine Bourdelle – symbolisieren. Das zweite Kapitel lässt am titelgebenden «Firmament» die Sonne auf- oder untergehen, wie van Gogh es selbst in einer späten Zeichnung tut: Das Licht der Welt, hinter Hügeln überdimensioniert aufsteigend, überträgt da seine wellenförmig gestrichelten Vibrationen auf ein wogendes Kornfeld. Der Abschnitt «Kosmos» vereint um den Clou der Schau, die «Sternennacht» von 1888, staunenswerte Pastelle des Zeitgenossen Étienne Léopold Trouvelot, die auf eigenen Beobachtungen des Malers und Himmelsforschers beruhen, sowie Arbeiten, die das quasimusikalische Gleichgewicht der Himmelskörper versinnbildlichen. Etwa ein Mobile der 1979 geborenen Alicja Kwade, bei dem Steine solcherart an Metallstangen hängen, dass alles streng im Lot bleibt – ein Balanceakt zwischen Horizontale und Vertikale, den im selben Saal auch abstrakte Werke von Paul Klee und Kasimir Malewitsch vollführen.

Nach einem Kabinett, das der Figur des «Apostels der Astronomie», Camille Flammarion, der 1888 sein Hauptwerk «L’atmosphère» veröffentlichte, sowie Geistesverwandten gewidmet ist, beleuchtet die Sektion «Lichter in der Stadt» eine andere Facette der «Sternennacht»: die essenzielle, aber gern übersehene Rolle, die darin die 1888 frisch installierten Arleser Strassenlaternen spielen. De Loisy versammelt hier Nachtstücke mit künstlicher Beleuchtung, unter anderen von Georgia O’Keeffe, um herauszustreichen, dass van Gogh in den Fluten der Rhone den Widerschein der Sterne mit jenem der Lampen fusionieren lässt. Nach einem Kapitel über «Spiralen», das auf die wild wirbelnde zweite «Sternennacht» verweist, die der kranke Niederländer 1889 im Hospital von Saint-Rémy malte, lässt der Schlussabschnitt die Seele durch kosmische Landschaften fliegen.

Bice Curigers Leistungsausweis

«Van Gogh et les étoiles» ist eine Ausstellung, die Epochen und Medien übergreift. Derlei Schauen sind auch in Frankreich seit geraumer Zeit beliebt; allzu häufig zeitigt Assoziationswut darin sterile Beliebigkeit. Zu den Kurator:innen, denen konsistent erhellende wie erhebende «transversale» Ausstellungen gelingen, zählt – neben Jean de Loisy – Bice Curiger. Die 75-jährige gebürtige Zürcherin, Mitgründerin der legendären Kunstzeitschrift «Parkett», jahrzehntelange Kuratorin am Kunsthaus Zürich und Direktorin der 54. Biennale von Venedig (2011), leitet seit der Eröffnung im April 2014 die Fondation Vincent van Gogh Arles.

Hervorgegangen ist diese aus einem Verein, den Yolande Clergue, die Gattin des Fotografen und Mitgründers der Rencontres de la photographie d’Arles Lucien Clergue, 1983 ins Leben gerufen hatte. 2010 erhielt der Verein dank des – nicht zuletzt finanziellen – Einsatzes des Roche-Erben Luc Hoffmann das Statut einer gemeinnützigen Stiftung – und bald darauf als Unterkunft ein mit allen modernen musealen Annehmlichkeiten versehenes ehemaliges Hôtel particulier. Nach dem Tod des Wahlarlesers übernahmen drei seiner Kinder die Hauptfinanzierung der Stiftung; Maja Hoffmann amtiert seit 2014 zudem als Präsidentin des Verwaltungsrats.

Da sich keine der knapp 200 Malereien und über 100 Zeichnungen, die der seinerzeit ungeliebte van Gogh während seines fünfzehnmonatigen Aufenthalts in Arles 1888/89 schuf, noch vor Ort befinden, macht die Stiftung aus der Not eine Tugend: Sie lässt in zwei bis vier jährlichen Wechselausstellungen Leihgaben (bis zu 31 Gemälde oder gar 50 Zeichnungen) mit Arbeiten von anderen, oft zeitgenössischen Künstler:innen in Resonanz treten. Dass die beiden weltweit bedeutendsten Van-Gogh-Museen in Amsterdam (Van Gogh Museum) und Otterlo (Kröller-Müller Museum) sowie Kunstinstitutionen in Basel, Chicago, Jerusalem und Los Angeles innert zehn Jahren rund 140 van Goghs nach Arles ausgeliehen haben, ist Vertrauensbeweis für die Stiftung. Und Leistungsausweis für ihre Leiterin: Wem die Londoner Tate, die Beyeler-Stiftung, das Musée d’Orsay wie auch wählerische Privatsammler:innen derartige Schätze anvertrauen, muss schon aussergewöhnliche Ausstellungskonzepte vorweisen.

Von Picasso bis Sun Ra

Drei repräsentative Beispiele. 2016 widmete Curiger dem 1966 geborenen Briten Glenn Brown eine Retrospektive in rund dreissig Werken. Sieben davon wiesen einen Bezug zum Namensgeber der Fondation auf: vom direkten Zitat eines in Öl gemalten Venustorsos über eine aus ihrem Tableau gelöste, umgefärbte und auf den Kopf gestellte Mademoiselle Gachet bis zur Applizierung der Farben des berühmtesten der drei Porträts von Armand Roulin auf eine Metallbüste: schmutziges Gelb, Türkisgrau, Haselnussbraun und Ochsenblutrot. 2018 vereinte die Kuratorin unter dem Titel «Heisse Sonne, späte Sonne» Werke von zehn «ungezähmten Modernen» (so der Untertitel): eine gewagte, glühende Mischung von van Goghs farbgesättigtem Vorbild Adolphe Monticelli über den hochenergetischen letzten Picasso bis zu Sun Ra, dem Jazzer im Sonnenpriestergewand.

Magisch endlich die Schau von 2021, für die Laura Owens sieben späte Gemälde van Goghs auf Wandkompositionen bettete, für die der Begriff «Tapete» beleidigend wäre: meterhohe Feenzauber, vier grosse Säle mit ihren Arabesken auskleidend, deren Farben und Formen aus den Tableaus hervorgingen, durch diese aber zugleich verdichtet wurden. Als wären «Feld mit Pflüger und Mühle» und «Bäume im Garten des Hospitals Saint-Paul» Knotenpunkte im Gewebe eines die Welt – oder zumindest die Provence – umspannenden Wundergewirks.

Diese Art von Verrückung und Verzückung des Betrachter:innenblicks gelingt in Frankreich nur wenigen Institutionen. Umso mehr ist zu bedauern, dass Curiger die künstlerische Leitung der Stiftung wohl Ende 2025 abgeben wird, wie sie im Gespräch verrät. Bis dahin wird sie im Oktober 2024 noch eine Ausstellung mit dem Titel «Der hohe gelbe Ton» präsentieren – ein Zitat aus einem Arleser Brief van Goghs, der bekanntlich dieser Farbe Wirkungen abgewann wie kaum ein Zweiter. Im Sommer 2025 möchte die Kuratorin dann eine Sigmar-Polke-Schau, die sie diesen Herbst für den Berliner Schinkel-Pavillon entwirft, für die Fondation adaptieren. Und womöglich wird ihr zum Abschied ja noch ein Traum erfüllt: den sonnenblumenfarbenen «Indoor Van Gogh Altar», den Thomas Hirschhorn für die Eröffnungsausstellung geschaffen hatte, dauerhaft in Arles installiert zu sehen.

«Van Gogh et les étoiles» in: Arles, Fondation Vincent van Gogh, noch bis 8. September. www.fondation-vincentvangogh-arles.org