Asylwesen: Als wäre Gesundheit nebensächlich
Ein Forschungsbericht der Fachhochschule Bern zeigt auf, wie schlecht es um die reproduktive Gesundheit geflüchteter Frauen steht.
«Sie (Betreuungspersonen im Zentrum) sagten mir immer, ‹nein, nimm diese Behandlung›, und sie gaben mir Medikamente. Bis zu dem Punkt, wo ich die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. […] Später habe ich das Camp so gehasst und das Gefühl gehabt, dass ich meine Probleme wegen des Camps habe! Wenn ich früher untersucht worden wäre, hätte ich nicht solche Komplikationen gehabt!» – Naila*, 38
Naila ist vor acht Jahren in die Schweiz geflüchtet. In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft, die sie in kollektiven Unterkünften des Bundes verbrachte, entwickelte sich ein Geschwür in ihrer Gebärmutter. Es blieb so lange unentdeckt, bis Naila unter starken Schmerzen litt und endlich einen Termin beim Gynäkologen und anschliessend eine angemessene Versorgung bekam.
Nailas Fall findet sich wie zahlreiche Schilderungen geflüchteter Frauen in einem kürzlich erschienenen Bericht der Berner Fachhochschule. Die Bandbreite der Erfahrungen ist gross, es geht um die Knappheit von Binden und Tampons in den Unterkünften, um einen Mangel an Informationen bezüglich Familienplanung und Verhütung. Um fehlende Dolmetschdienste und die Scham, sexualisierte Gewalt auf der Flucht als solche zu benennen. Um Fehlgeburten, für deren Beschreibung man weder Worte noch Ressourcen findet. Sowohl aufseiten der Betroffenen wie auch des medizinischen Personals, das in den Zentren fast ausschliesslich aus überarbeiteten Pflegefachpersonen besteht.
Ungewöhnlicher Ansatz
Menschen im Asylverfahren erhalten in der Schweiz nicht viel Aufmerksamkeit. Die Gesundheitsfrage in den Unterkünften wird funktional beantwortet, alle durchlaufen von Beginn an das gleiche Prozedere. Eine kurze Triage bei der Ankunft, danach Behandlung nach Bedarf. Nur: Wie lässt sich ein Bedarf erkennen, wenn die Rahmenbedingungen zu dessen Äusserung nicht gegeben sind?
«Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann gibt es nichts Wichtigeres als die Gesundheit. Aber zu der Zeit, wenn du in einem fremden Land bist, und du bist eine geflüchtete Person – und du kennst deine Zukunft nicht und was mit dir passieren wird –, dann denkst du nicht über deinen Körper nach, du denkst darüber nach, was mit dir passieren wird, wann dein Interview sein wird, wann dieses und jenes passiert.» – Maya*, 28
Bereits 2017 führte das Forschungsteam des Fachbereichs Geburtshilfe unter der Leitung von Eva Cignacco eine Studie zur reproduktiven Gesundheit asylsuchender Frauen durch, die sich auf Informationen von Fachpersonal stützte. Leiterin des aktuellen Berichts ist die Anthropologin Milena Wegelin, sie konzentriert sich auf die Perspektive der Betroffenen. Um diese möglichst partizipativ zu Wort kommen zu lassen, arbeitete Wegelin gemeinsam mit sechs Koforscherinnen, die selbst Fluchterfahrung haben und gegen Entschädigung an der Analyse der Daten beteiligt waren. «Wir waren der Meinung, dass eine Begleitgruppe von geflüchteten Frauen unerlässlich ist», sagt Wegelin. Das sei zwar eher ungewöhnlich, aber gerade für dieses Thema von enormem Wert. «Ich habe mit meinem Hintergrund als Nichtgeflüchtete immer eine Voreingenommenheit. Die lässt sich durch die enge Arbeit mit den Koforschenden ausgleichen.»
Sich der eigenen Rolle bewusst zu sein, war auch für alle Forschenden ein Thema. «Die Frauen, die wir interviewten, hatten manchmal den Anspruch, dass sich dadurch etwas am System ändert. Mit diesen Erwartungen umzugehen, war nicht immer einfach», sagt Nour Abdin, die als Projektmitarbeiterin auch an der Erhebung der Daten beteiligt war. Um keine falschen Hoffnungen zu machen, habe man von Anfang an klar kommuniziert: «Am Ende ist es nur eine Studie. Wir können das System nicht ändern, das ist nicht unsere Arbeit. Es war wichtig, das zu betonen.»
Ebenso wichtig, sagt Wegelin, sei in solchen Interviewsituationen aber der Zuspruch. «Wir haben immer gesagt: ‹Ihr seid Expertinnen für eure Erfahrungen. Und wir setzen uns dafür ein, eure Perspektiven und Stimmen zugänglich zu machen.› Sich für persönliche Erfahrungen Zeit zu nehmen – in einem System, in dem Zeit eine derart knappe Ressource ist –, das hat schon auch einen ermächtigenden Effekt.»
«Ich habe meiner Freundin, die schwanger war, gesagt: ‹Du bist in einem Camp, wieso hast du es zugelassen, dass du schwanger geworden bist?› Es ist schwierig hier! Und sie bereut es, und sie ist sehr dünn und sehr müde und wird immer ohnmächtig. […] Es ist sehr schwierig, wenn eine Frau im Camp schwanger wird, sehr schwierig.» – Samira*, 39
Höheres Risiko
Der Fokus des Berichts liegt auf reproduktiver Gerechtigkeit, die laut Wegelin und ihren Kolleg:innen im Asylwesen vernachlässigt wird. Sie zeigen auf, dass es keinen umfassenden Zugang zu Beratungsangeboten und Informationen über Verhütung sowie keinen gesicherten Zugang zu Verhütungsmitteln gibt. Gleichzeitig führten die restriktive Versorgungslage – in den Unterkünften darf nicht gekocht werden, die Zimmer werden regelmässig durchsucht, es gibt kaum Privatsphäre und eine Knappheit an Artikeln wie Tampons oder Windeln – und die kinderfeindliche Umgebung zu schwierigen Verhältnissen für Schwangere oder Wöchnerinnen. Die strukturellen Rahmenbedingungen führten dazu, dass Frauen in ihrem reproduktiven Recht eingeschränkt würden. Frauengesundheit werde nicht mitgedacht – und wenn, dann nur, wenn die Geflüchteten die Versorgung aktiv einforderten. Wofür sie oftmals nicht die nötigen Informationen hätten, so die Studienautor:innen.
Hinzu kämen der strukturelle Rassismus und die Abwertung, die Frauen im Fluchtkontext täglich erlebten: dass Hausärzt:innen die Notwendigkeit einer Untersuchung abstreiten, dass medizinische Eingriffe nicht umfassend erklärt werden oder Pflegefachpersonal den Bedarf an Verhütungsmitteln abspricht. «Rassistische Diskriminierung im Gesundheits- und Pflegesektor hat einen Einfluss auf Versorgungssituation und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen», heisst es im Bericht. Solche Vertrauensbrüche können zu einem höheren Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen und Retraumatisierungen führen.
«Ich fühlte mich, als wäre ich kein menschliches Wesen. Im ersten Jahr meiner Flucht habe ich sehr gelitten. […] Dazumal verstand ich nichts, und ich hasste die Ärzte. […] Bitte, schreibt dies in eurer Studie: Es braucht das Recht auf eine Übersetzung! Oder, noch besser, sie sollen das Angebot direkt geben und sagen, wir bringen dir auch eine Übersetzung.» – Naila, 38
Der Bericht sei nicht für die Schublade, sagt Studienleiterin Wegelin. Die Tagung dazu** solle «ein Kick-off» werden, um gemeinsam und unter Einbezug von Betroffenen über konkrete Massnahmen nachzudenken, etwa das Schaffen von Vertrauensräumen für Frauen oder einer regelmässigen Sprechstunde in den Asylzentren.
Dass solche kleinen Veränderungen nicht ein ganzes System umkrempeln, ist Wegelin und Abdin bewusst. Aber sie wissen auch, dass der erste Schritt zum Richtungswechsel die Sensibilisierung ist. «Die Lebensbedingungen von Geflüchteten und der Einfluss von aktuellen Machtverhältnissen müssen sichtbar gemacht werden», sagt Wegelin. Nur so komme man zum nötigen Systemwandel.
* Name geändert.
** Die Tagung «Reproduktive Gerechtigkeit im Fluchtkontext» findet am Mittwoch, 26. Juni 2024, in der grossen Aula des Progr Bern statt. Weitere Informationen zur Studie unter www.refper-studie.ch.