Bilanz der Sommersession: Im Turmzimmer

Nr. 25 –

Immer abgehobener, immer entgrenzter: Das Parlament lieferte zuletzt eine blamable Leistung ab.

Es war das Medienereignis dieser Sommersession: SVP-Nationalrat Thomas Aeschi liefert sich auf der Bundeshaustreppe ein Gerangel mit der Bundespolizei, kämpft sich wie ein wild gewordener Ringer die Stufen hinunter, die vom Sicherheitspersonal für ein paar Minuten gesperrt worden sind, weil dort gerade der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk mit dem Schweizer Nationalratspräsidenten Erich Nussbaumer für ein Staatsfoto posiert. Auch Aeschis Parteikollege Michael Graber liefert sich ein Gerangel mit dem Sicherheitspersonal. Sich kurz hinten anstellen: Nur schon das ist für die SVP zu viel Respektbekundung gegenüber einem Land, das seit über zwei Jahren einem erbarmungslosen Angriffskrieg ausgesetzt ist.

Status S eingeschränkt

Dass sie Ende letzter Woche mit Pöbeleien endete, das passt zu dieser Sommersession, in der sich das rechtsbürgerlich dominierte Parlament in erbärmlicher Verfassung präsentierte. Für grosse mediale Aufmerksamkeit sorgten vor allem zwei Entscheide: Der Ständerat will das Armeebudget bis 2028 um vier Milliarden Franken aufstocken und dafür zwei Milliarden bei der Entwicklungshilfe sparen – die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats will diesem Entscheid folgen. Und beide Räte verabschiedeten eine Erklärung in Richtung Bundesrat: Er möge das Klimaurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bitte ignorieren. Ein Urteil notabene, das lediglich konstatiert hat, die Schweiz tue nicht genug, um die selbstauferlegten Klimaziele zu erreichen.

Weiter hat das Parlament in dieser Session die Vorlage für mehr Biodiversität auf Ackerflächen versenkt. Es hat sich dafür ausgesprochen, dass eritreische Geflüchtete mit negativem Asylentscheid künftig in ein «Transitland» ausgeschafft werden sollen. Und zu guter Letzt entschied sich der Ständerat auch noch für Einschränkungen des Schutzstatus S für ukrainische Geflüchtete – just in dem Moment, als die ukrainische Delegation den Saal der kleinen Kammer betrat. Künftig sollen nach dem Willen der rechtsbürgerlichen Ständeratsmehrheit nur noch Ukrainer:innen aus russisch besetzten oder umkämpften Regionen unkompliziert in der Schweiz Asyl erhalten – und Ukrainer:innen, die die Schweiz für mehr als vierzehn Tage verlassen, sollen ihn wieder verlieren.

Wie soll man das nennen, was sich da unter der Bundeshauskuppel abspielt? Entgrenzung? Realitätsverweigerung? Klar ist: Die aktuellen Entscheide in Bern sind das Resultat einer Politik, die die Brandmauer gegen rechts schon längst gar nicht mehr behauptet. Und dies, obwohl sich während der Sommersession deutlich wie nie gezeigt hat, dass die SVP auf der Seite von Autokrat:innen steht. Fast geschlossen verliessen die SVP-Nationalrät:innen vor dem Auftritt des ukrainischen Parlamentspräsidenten Stefantschuk den Saal.

Eine weitere Antwort auf die Frage, welches Demokratieverständnis die SVP hat, lieferte die Anekdote um Magdalena Martullo-Blochers Turmzimmer: Eine Anfrage von SP-Nationalrat David Roth hatte ergeben, dass die SVP-Nationalrätin und Milliardärin auch während dieser Session das edelste Sitzungszimmer im Bundeshaus, mit grossem Empfangstisch und Wendeltreppe aufs Dach, fast durchgehend belegt hat. Martullo-Blocher liess ausrichten, dass sie als Vizepräsidentin der SVP Schweiz und Verantwortliche für Wirtschaftspolitik während der Session halt viele Kontakte pflege.

Doch das Bild von Martullo-Blocher im Turm hat Symbolkraft: Es steht für die feudale Ordnung, die die SVP im Land zu errichten sucht.

Die Mitte entscheidet

Dass die «bürgerlichen» Parteien, insbesondere die FDP, mit der SVP zusammenspannen, ist nichts Neues. Neu ist indes das Ausmass an Faktenverdreherei und reiner Symbolpolitik, mit der insbesondere auch die Mitte-Partei auffällt, die sich seit den letzten Wahlen im Herbst 2023 – aus denen die SVP gestärkt hervorging – immer deutlicher an die «Volkspartei» schmiegt. So sagte Bauernpräsident Markus Ritter, Mitte-Nationalrat aus dem Kanton St. Gallen, vor der Debatte über die Biodiversitätsvorlage, eine Biodiversitätskrise könne er beim besten Willen nicht erkennen. Ganz so, als könnte eine hübsche Blumenwiese das von der Wissenschaft dokumentierte dramatische Schwinden der Artenvielfalt infrage stellen.

Mitte-Politiker wie der Walliser Beat Rieder waren im Ständerat auch treibende Kräfte hinter der Erklärung an den EGMR – mit der sich das Parlament auf den unhaltbaren Standpunkt stellt, man tue bereits genug, um das Klima zu schützen. Und ohne die Mitte wären auch die Verschärfungen im Asylrecht nicht durchgekommen. Der Vorstoss, dass Ukrainer:innen bei vierzehntägigem Auslandaufenthalt ihren Aufenthaltsstatus verlieren sollen, wurde vom St. Galler Mitte-Politiker Benedikt Würth im Ständerat und seinem Parteikollegen Nicolò Paganini im Nationalrat eingereicht.

Nach der Sommersession lässt sich bilanzieren: Wie stark die Rechte ist, entscheidet sich einmal mehr in der bürgerlichen Mitte.

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Kommentare

Kommentar von FrancoD

Do., 20.06.2024 - 16:10

Gute aber leider traurige Kurzzusammenfassung, was sich gerade und tendenziell schon seit Jahren in Bundesbern (und nicht nur) abspielt, schlicht zum Ko.....
Es stimmt mich noch trauriger und frustrierter, dass praktisch kein Medium mehr diese schleichenden tektonischen Verschiebungen sieht, kritisch hinterfragt - und verurteilt. Wohin führt dies noch? Die kürzlichen Europa-Wahlen lassen es erahnen.
Und wo ist die öffentliche Meinung und der Volkswiderstand gegen rechts?
PS: Erbärmlich auch, dass sich MMB kein nettes Sitzungszimmer für ihre privat-unternehmerischen Angelegenheiten im Bellevue leisten kann - und gleichzeitig die Sessions-Sitzungsgelder kassiert....